Islam und Sozialismus

Die Erfahrungen der Russischen Revolution und der Politik der Bolschewiki
Hannah Sell, CWI-Britain

Vorbemerkung: Dieser Artikel von Hannah Sell von der Socialist Party in England und Wales stammt aus dem Jahr 2004 und befasst sich grundsätzlich mit einer marxistischen Herangehensweise an den Islam und islamische, politische Kräfte. Anlass war die Politik des linken Wahlbündnisses Respect, an dem zum damaligen Zeitpunkt die britische Socialist Workers Party (SWP, in Österreich Linkswende) maßgeblich beteiligt war und das eine unkritische Haltung gegenüber islamisch geprägten Kräften praktizierte. Wir veröffentlichen den Artikel in einer gekürzten und editierten Version.

Die Diskriminierung von Muslimen in Großbritannien hat sich als eine von vielen Facetten des Rassismus der kapitalistischen Gesellschaft entwickelt. In verschiedenen Formen ist Rassismus von Anfang an ein inhärenter Bestandteil des Kapitalismus. Im letzten Jahrzehnt, und insbesondere seit dem Horror des 11. September 2001, haben anti-islamische Vorurteile – Islamfeindlichkeit – dramatisch zugenommen. Während es andere Formen von Rassismus weiterhin gibt, erleben islamische Menschen heute die schärfsten Ausdrücke von Diskriminierung in Großbritannien.

Bürgerliche PolitikerInnen erklären, ethnische Minderheiten müssten größere Anstrengungen zur „Integration“ in die britische Gesellschaft betreiben und geben damit faktisch islamischen und anderen Communities die Schuld am wachsenden Rassismus. In Wirklichkeit trifft das Gegenteil zu. Je feindseliger sich die Gesellschaft ihnen gegenüber verhält, desto mehr identifizieren sich religiöse Minderheiten nur mit ihrer eigenen Community. In der Tat ist die Identifikation vieler Muslime mit ihrer Religion und Kultur stärker geworden. Dafür gibt es viele Gründe, aber die zunehmenden Vorurteile gegen den Islam haben zweifellos dazu geführt, dass viele Muslime ihre Religion verteidigen indem sie sich stärker mit ihr identifizieren.

Allerdings identifizieren sich junge Muslime in Großbritannien nicht vor allem mit dem Land aus dem sie bzw. meist ihre Eltern oder Großeltern stammen. Die meisten haben eine doppelte Identität und sehen sich sowohl als Teil der britischen Bevölkerung als auch als von ihr entfremdet. Diese jungen Menschen sind in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der sie sich wegen ihrer Hautfarbe und Religion ständig von Verhaftung bedroht sehen. Sie erleben wachsende Diskriminierung im Bildungssystem und am Arbeitsplatz. Sie sind wütend über die imperialistische Kriegstreiberei der Regierung. Aber nur eine winzige Minderheit kommt zu dem völlig falschen Schluss, dass der barbarische Terrorismus reaktionärer islamischer Organisationen wie al-Qaida ein Ausweg sei.

Wie sollten MarxistInnen auf die islamischen Communities in Großbritannien zugehen? Unser Ausgangspunkt ist eine klare Position gegen anti-islamische Diskriminierung und die Verteidigung der Rechte aller Muslime, unabhängig von Klassenzugehörigkeit oder Ansichten, auf ein von Islamfeindlichkeit freies Leben. Konkret bedeutet das, für das Recht der Muslime auf freie Religionsausübung einzutreten – das beinhaltet auch die Freiheit, ihre Kleidung selbst zu wählen. Der echte Marxismus hat nichts mit der Position einiger Linksradikaler in Frankreich zu tun, die ein Kopftuchverbot für islamische Schülerinnen unterstützt haben. Wir müssen aktiv das Recht Aller verteidigen, die Religion ihrer Wahl – oder keine Religion – auszuüben, ohne Diskriminierung und Vorurteile.

Das bedeutet nicht, dass wir die gesamte islamische Bevölkerung in Großbritannien als einen homogenen und fortschrittlichen Block betrachten. Im Gegenteil ist die islamische Bevölkerung durch verschiedene Faktoren wie Klasse, ethnische Herkunft und Ansichten geteilt. In Großbritannien leben 5.400 muslimische MillionärInnen, von denen die meisten ihr Vermögen mit der Ausbeutung anderer Muslime verdient haben. Während wir das Recht dieser MilliardärInnen verteidigen, ihre Religion frei von Unterdrückung auszuüben, müssen wir auch versuchen Muslime aus der ArbeiterInnenklasse zu überzeugen, dass ihre Interessen denen dieser Leute vollkommen entgegengesetzt sind und dass der Weg zu ihrer Befreiung beinhaltet, sich mit anderen Schichten der ArbeiterInnenklasse zusammenzuschließen – weltweit, da sie in Großbritannien leben allerdings zuerst und vor allem hier.

Das Programm, das wir als SozialistInnen vertreten sollte immer auf die Einheit der Arbeiterklasse orientieren, als Teil des Prozesses zur Erhöhung ihres Bewusstseins und Verständnisses. Daher kämpft zum Beispiel unsere Schwesterorganisation in Nordirland stets für die Einheit der katholischen und protestantischen ArbeiterInnenklasse.

Es ist möglich islamische ArbeiterInnen für eine Klassenalternative zu gewinnen, aber das ist keine automatische Entwicklung. Eine wichtige Voraussetzung ist, dass die ArbeiterInnenbewegung immer wieder in der Praxis zeigt, dass sie Rassismus und Islamfeindlichkeit entschieden bekämpft. Aber SozialistInnen müssen auch für eine klassenbezogene, sozialistische Herangehensweise an den Islam eintreten. Aber wir sollten bei unseren Diskussionen mit islamischen KriegsgegnerInnen oder AntifaschistInnen nicht bei unserer gemeinsamen Ablehnung der imperialistischen Besatzung des Irak stehen bleiben. Wir sollten die Diskussion auf Klassenfragen hier in Großbritannien ausdehnen – etwa über Programm und Strategie des Kampfes gegen die Privatisierungen und Kürzungen von New Labour. Wir müssen auch für eine politische Alternative zu New Labour argumentieren – eine neue Massenpartei die die Antikriegsbewegung mit GewerkschafterInnen und Anti-Kürzungs-AktivistInnen zusammenbringt – eine Partei die alle Teile der ArbeiterInnenklasse organisiert.

In diesen Diskussionen wird es manchmal notwendig sein über Themen zu sprechen, zu denen die Positionen von SozialistInnen und manchen Muslimen nicht übereinstimmen. Zum Beispiel fordert eine wachsende Zahl von Muslimen eigene islamische Schulen – angesichts des bestehenden Rassismus eine verständliche Forderung. Einerseits müssen wir gegen Rassismus und Diskriminierung in Schulen und für das Recht aller SchülerInnen auf die Möglichkeit, ihre Religion auszuüben, eintreten. Andererseits bedeutet das nicht, separate islamische Schulen zu unterstützen, ebenso wenig wie wir andere religiöse Schulen unterstützen. Wir müssen geduldig erklären, dass dieser Weg zu größerer Isolation der islamischen Communities führen wird, die wiederum den Rassismus gegen diese stärken wird.

Ebenso treten wir zwar für das Recht junger Muslima ein, sich dafür zu entscheiden das Kopftuch zu tragen, müssen aber auch klar sagen dass sie das Recht haben es nicht zu tun, selbst wenn das bedeutet mit einigen anderen Muslimen in Konflikt zu geraten.

Die falsche Herangehensweise von Respect

Leider nimmt die Socialist Workers Party (SWP, in Österreich Linkswende, Anm.) diesen Klassenstandpunkt nicht ein. Respect, das Wahlbündnis dass sie mit dem Parlamentsabgeordneten George Galloway gebildet hat, hatte einige Wahlerfolge. Diese hat es mit einemvorwiegend auf Muslime ausgerichteten Wahlkampf erreicht. Zur Europawahl produzierte Respect ein besonderes Flugblatt für Muslime, in dem Respect als „die Partei für Muslime“ beschrieben wurde

Es ist opportunistisch, Muslime auf der Grundlage ihrer Religion anzusprechen. Stattdessen sollten SozialistInnen versuchen, die Muslime die wir erreichen können von sozialistischen Ideen zu überzeugen – besonders die jungen Muslime aus der ArbeiterInnenklasse, die eine Mehrheit der islamischen Bevölkerung Großbritanniens sind.

Respect gelingt es mit ihrer Politik nicht nur nicht, das Klassenbewusstsein unter Muslimen zu erhöhen, sie könnte auch gefährliche Spaltungen in der ArbeiterInnenklasse zwischen islamischen und anderen Communities verstärken. Wenn Respect Wahlerfolge erzielt, indem sie als islamische Partei gesehen wird, die sich nicht um die Bedürfnisse anderer Teile der ArbeiterInnenklasse kümmert, könnten diese anderen Teile von Respect abgestoßen, rassistische und sektiererische Ideen verstärkt werden.

Russische Revolution als Rechtfertigung

Um ihren politischen Opportunismus in Großbritannien heute zu rechtfertigen, hat die SWP die Geschichte nach Beispielen abgesucht, die ihre Herangehensweise unterstützen. Aus einem Artikel von Dave Crouch in der Socialist Review geht hervor, dass die SWP glaubt die Haltung der Bolschewiki nach der russischen Revolution zur Stärkung ihrer Position nutzen zu können.

Der Artikel von Crouch enthält zwar einen interessanten Überblick über die damaligen Ereignisse, ist aber komplett einseitig – offenbar darauf ausgerichtet, die Position der SWP zu Respect zu unterstützen – und vermittelt den LeserInnen falsche Eindrücke. In einem wesentlich längeren Artikel zum gleichen Thema, veröffentlicht 2002 im SWP-Theoriemagazin International Socialism, zeigt Crouch dass er zu einer etwas objektiveren Herangehensweise fähig ist. Ironischerweise kritisiert er einen anderen Autor zum Thema dafür, dass er „die Nationalitätenpolitik der Bolschewiki fast ohne Betrachtung der vorrevolutionären Gesellschaft 1917 und der stalinistischen Konterrevolution“ beschreibe. Aber in Socialist Review macht er selbst genau diesen Fehler, indem er überhaupt nicht auf die riesigen Unterschiede zwischen der Situation von MarxistInnen in Großbritannien heute und in Russland in den Jahren unmittelbar nach der Revolution eingeht und nur schreibt „wir können von den Errungenschaften der Bolschewiki lernen und sie als Inspiration nutzen“.

Zum Beispiel hat die Rote Armee sich an einigen Militärbündnissen mit pan-islamischen Kräften beteiligt. Aber das war in einer Bürgerkriegssituation. Zahlreiche kapitalistische Armeen griffen an und versuchten gemeinsam mit den von Großgrundbesitzern dominierten herrschenden Klassen vor Ort die erste erfolgreiche Arbeiterrevolution zu zerschlagen. Der Bürgerkrieg wurde in den vorwiegend islamischen Gebieten Zentralasiens besonders verzweifelt ausgetragen. Direkte Vergleiche mit Großbritannien heute sind offensichtlich sehr begrenzt aussagefähig.

Das heißt nicht, dass wir aus der Pionierarbeit der Bolschewiki keine wichtigen Lehren ziehen können. Aber der Artikel von Crouch erzählt nur eine halbe Geschichte. Er konzentriert sich fast nur auf die Übereinstimmungen zwischen islamischen Führern und den Bolschewiki, ohne die Unterschiede, Konflikte und Komplikationen die es gab zu erklären oder darauf einzugehen, wie die Bolschewiki versuchten die islamischen Massen für ein marxistisches Programm zu gewinnen. Ohne es explizit zu behaupten vermittelt der Artikel auch den völlig falschen Eindruck, dass der Islam an sich fortschrittlicher sei als andere Religionen, weil er vor allem die Religion der unterdrückten und kolonisierten Völker war und dass die Bolschewiki Muslime daher grundsätzlich anders als andere Menschen behandelt hätten.

Tatsächlich haben Wladimir Lenin und Leo Trotzki die religiösen Rechte aller unterdrückten Minderheiten extrem umsichtig behandelt, dies war allerdings ein Bestandteil ihrer Herangehensweise an die nationale Frage, die stets darauf ausgerichtet war Spaltungen und Unterschiede zwischen den verschiedenen Teilen der ArbeiterInnenklasse zu minimieren. Lenin und Trotzki verstanden, dass es dafür notwendig war immer wieder zu beweisen dass die Sowjetmacht für die unterdrückten Nationalitäten im ehemaligen Zarenreich, das Lenin als „Völkergefängnis“ bezeichnete, der einzige Weg zur nationalen Befreiung war. Dabei hielten sie jedoch weiterhin die Fahne der internationalen Einheit der ArbeiterInnenklasse hoch. Wo Zugeständnisse an nationalistische Kräfte gemacht wurden, wurde offen und ehrlich erklärt warum das notwendig war. Gleichzeitig argumentierten die Bolschewiki unter den Massen in den unterdrückten Gebieten weiterhin klar für ein marxistisches Programm.

Das gilt es im Kontext zu betrachten. Die Bolschewiki arbeiteten unter phänomenal schwierigen Bedingungen. Obwohl es das Potential für erfolgreiche Revolutionen in anderen Ländern gab, fanden sie nicht statt und der erste Arbeiterstaat blieb isoliert, in einem wirtschaftlich rückständigen, bäuerlich geprägten Land. Letztlich führten diese Faktoren zum Aufstieg des Stalinismus und der Zerstörung der ArbeiterInnendemokratie durch eine furchtbare Bürokratie.

Diese extremen Bedingungen, unter denen das Überleben der Revolution am seidenen Faden hing, zwangen den ArbeiterInnenstaat zu Zugeständnissen auf allen Gebieten. 1921, als klar war dass kurzfristig nicht mit einer erfolgreichen Revolution in einem anderen Land gerechnet werden konnte und vor dem Hintergrund einer Hungersnot, war Lenin gezwungen die Neue Ökonomische Politik vorzuschlagen, die Zugeständnisse an den Markt beinhaltete. Die erdrückenden materiellen Schwierigkeiten wirkten sich zwangsläufig auf die Fähigkeit des ArbeiterInnenstaats aus, seine Politik in einer Reihe von Bereichen umzusetzen.

Trotzdem war Lenins und Trotzkis Herangehensweise an nationale, religiöse und ethnische Rechte beispielhaft, weil sie Rücksicht auf nationale Ziele mit einer prinzipientreuen Haltung vereinbarte. Sie hat nichts mit dem Opportunismus der SWP oder der engen, starren Herangehensweise einiger anderer Linker zu tun.

Selbstbestimmungsrecht der Nationen

Die Herangehensweise der Bolschewiki an die islamische Bevölkerung war nicht vor allem von der Frage der Religion an sich abgeleitet, sondern von der Beziehung zwischen Religion und dem Selbstbestimmungsrecht der Nationen. Die Vereinigung von Ländern und die Lösung der nationalen Frage ist eine der Kernaufgaben der bürgerlich-demokratischen Revolution, neben der Abschaffung feudaler und halbfeudaler Verhältnisse auf dem Land und der Einführung der bürgerlichen Demokratie. Diese Aufgaben waren im zaristischen Russland nie erfüllt worden, hier herrschte eine halbfeudale absolute Monarchie. Die Bolschewiki verstanden, dass die russische Bourgeoisie, die sich erst spät als Klasse entwickelt hatte und sich vor revolutionären Bewegungen der Arbeiterinnenklasse fürchtete, nicht in der Lage war die Aufgaben ihrer eigenen Revolution zu erfüllen.

Trotzki gelangte mit seiner Theorie der Permanenten Revolution als Erster zu dem Schluss, dass diese Aufgaben der ArbeiterInnenklasse zufielen, die die Bauernmassen hinter sich sammeln musste. Trotzki erklärte, dass die Bauernschaft zwar eine wichtige Rolle spielte, wegen ihrer heterogenen Zusammensetzung und räumlichen Verstreutheit aber nicht in der Lage war unabhängig zu handeln und daher immer entweder der herrschenden Klasse oder der ArbeiterInnenklasse folgen würde.

Trotzki erklärte weiter, dass die ArbeiterInnenklasse mit der Erfüllung der Aufgaben der bürgerlich-demokratischen Revolution nicht stehenbleiben, sondern „ohne Unterbrechung“ zu den Aufgaben der sozialistischen Revolution voranschreiten würde. Lenin kam später zu den gleichen Schlüssen und formulierte sie 1917 in den Aprilthesen. Mit der Oktoberrevolution 1917 schritt die Arbeiterklasse tatsächlich direkt von den Aufgaben der bürgerlich-demokratischen Revolution zu den Anfängen der sozialistischen Revolution fort.

Diese Aufgaben waren in den vom Russischen Reich eroberten Gebieten viel größer als in Russland selbst. Die Situation war zwar in verschiedenen Regionen unterschiedlich ausgeprägt, insgesamt zeigte sich aber ein Bild extremer wirtschaftlicher Unterentwicklung und arme Bauern waren die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung. Während die liberale Bourgeoisie in Russland selbst schwach und feige war, war sie in den meisten dieser Gebiete faktisch nicht vorhanden. Wenn es eine Arbeiterklasse gab, bestand sie oft fast nur aus russischen EmigrantInnen und die wenigen Mitglieder der Bolschewiki, die es vor der Revolution gab, stammten aus diesen Schichten. All diese Faktoren wirkten sich im vor allem von Muslimen bewohnten Zentralasien besonders stark aus. Aber es wäre falsch anzunehmen, dass die rückständigen Bräuche in Zentralasien – etwa der überall verbreitete Brautpreis (kalym) – irgendwie durch die muslimische Bevölkerungsmehrheit entstanden wären. Diese Sitten waren eine Folge der feudalen Wirtschafts- und Sozialbeziehungen und die Situation unterschied sich kaum von der in ähnlich unterentwickelten Gebieten mit christlicher Bevölkerungsmehrheit.

Lenin und Trotzki hatten ein klares Verständnis von den enormen Schwierigkeiten, denen der neue ArbeiterInnenstaat bei der Lösung der nationalen Frage in diesen Gebieten gegenüberstand. Die imperialistische Herrschaft des russischen Zarismus war deutlich zu spüren gewesen und es hatte entschlossene und blutige Kämpfe gegen diese Unterdrückung gegeben, die letzten erst 1916. Es war daher notwendig, den vom Zarismus unterdrückten Nationalitäten wieder und wieder zu beweisen, dass die Sowjetmacht keine neue Form des Imperialismus war, sondern der einzige Weg zu ihrer nationalen Befreiung.

Deshalb wurde in der im Juli 1918 eingeführten Verfassung festgelegt, dass regionale Sowjets (Räte) auf der Grundlage „einer besonderen Lebensweise und nationalen Zusammensetzung“ zusammenkommen konnten, um zu entscheiden ob und auf welcher Grundlage sie sich der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) anschließen wollten. Aber Verfassungen allein waren nicht genug. Die Erfüllung der Aufgaben der bürgerlich-demokratischen Revolution bedeutete die Unterstützung der Herausbildung einer nationalen Kultur, die zuvor stets unterdrückt worden war. Zum Beispiel wurde nach Jahrzehnten der „Russifizierung“ die Benutzung der einheimischen Sprachen jetzt unterstützt, wobei sie in mehreren Fällen erstmals verschriftlicht wurden.

Es gab keinen Widerspruch zwischen dieser Herangehensweise und dem Internationalismus der Bolschewiki. Nur durch den Kampf für die nationale Befreiung der Unterdrückten konnte Sowjetrussland zeigen, dass der Weg zur Befreiung über die weltweite ArbeiterInnenklasse und insbesondere die ArbeiterInnenklasse Russlands führte. Aber nicht alle Bolschewiki verstanden diese Herangehensweise, ein Teil der Partei sah die Unterstützung für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen als Widerspruch zu ihrem Internationalismus – eine Position, die in Wirklichkeit dem großrussischen Nationalismus in die Hände spielte. Im Gegensatz dazu erreichte die extrem überlegte Herangehensweise Lenins, dass sich viele der vom Zarismus unterdrückten Nationalitäten freiwillig der RSFSR anschlossen.

Der Umgang der Bolschewiki mit dem Islam

Weil der Islam im Zarenreich unterdrückt worden war – und auch weltweit vom britischen und französischen Imperialismus unterdrückt wurde – war das Recht auf freie Religionsausübung selbstverständlich eine zentrale Forderung der islamischen Massen. Die Bolschewiki erkannten dieses Recht an und nahmen große Rücksicht darauf, ebenso wie auf andere unterdrückte Religionen wie den Buddhismus oder nicht-orthodoxe christliche Konfessionen.

Allerdings geht David Crouch zu weit wenn er behauptet: „Die Bolschewiki pflegten einen deutlich anderen Umgang mit dem orthodoxen Christentum [im Gegensatz zum Islam], der Religion der brutalen russischen SiedlerInnen und Missionare“. Er untermauert diesen Eindruck mit der Angabe: „1.500 Russen wurden wegen ihrer religiösen Überzeugungen aus der Kommunistischen Partei Turkestans geworfen, aber kein einziger Turkestaner.“ Das ist eine grob vereinfachte Darstellung. Die Russen wurden ausgeschlossen, weil sie die koloniale Unterdrückung durch das russische Reich im Namen der Revolution fortsetzten, nicht einfach wegen ihrer Religion.

Natürlich verstanden die Bolschewiki, dass das orthodoxe Christentum in den vom Zarenregime eroberten Gebieten eine zutiefst reaktionäre Rolle spielte und ein wichtiges Werkzeug der großrussischen Unterdrückung war. Trotzdem hatte das orthodoxe Christentum insbesondere in Russland selbst einen Doppelcharakter – es war die Unterdrückungsreligion der Zaren, aber es war auch der von Marx so beschriebene „Seufzer der Unterdrückten“ der russischen Massen. Lenin meinte auch die Millionen von russischen ArbeiterInnen und besonders BäuerInnen die weiterhin orthodoxe Gläubige waren, als er erklärte „wir sind vollkommen gegen die Verfolgung wegen religiöser Überzeugungen.“

Der echte Marxismus Lenins und der Bolschewiki hatte nichts mit den späteren Verbrechen von Josef Stalin gemein. Während sie selbst einen materialistischen und daher atheistischen Standpunkt einnahmen, vertraten die Bolschewiki das Recht Aller, die Religion ihrer Wahl oder keine Religion auszuüben. Das verstanden sie unter der Trennung von Staat und Kirche. Die Staatsreligion war in der feudalen Gesellschaft ein Grundpfeiler der Unterdrückung, und der Kapitalismus verwendet sie in modifizierter Form weiterhin dafür. Im halbfeudalen Russland war der Apparat der orthodoxen Kirche – der Staatsreligion – potentiell eine starke Kraft der Reaktion. Aber auf eine andere Weise traf das auch auf den Islam in den von Muslimen bewohnten Republiken zu. Das orthodoxe Christentum war die Religion der kolonialen Unterdrückung und der Islam die unterdrückte Religion der großen Mehrheit der armen Massen gewesen. Dennoch versuchte die einheimische Elite, den Islam als Werkzeug der Konterrevolution zu verwenden. Die Trennung von Staat und Religion galt in Zentralasien nicht nur für die orthodoxe Kirche, sondern auch für den Islam. Die Bolschewiki vertraten diese Haltung, obwohl sie sie mit einer Schicht von Muslimen in Konflikt brachte. Zum Beispiel weigerten sich in einigen Gebieten islamische Eltern, ihre Kinder zur Schule zu schicken.

Aber während sie für die Trennung von Staat und Religion eintraten, achteten die Bolschewiki sehr darauf, nicht den Eindruck zu vermitteln dass sie Zentralasien von oben „russische“ Gesellschaftsformen aufdrücken wollten. Wo also die Bevölkerung Scharia-Gerichte unterstützte wussten sie, dass es als russischer Imperialismus aufgefasst werden würde, sie zu bekämpfen. Das bedeutet nicht, dass die Bolschewiki die reaktionären, feudalen Positionen die manche Scharia-Gerichte vertraten akzeptiert hätten, ebenso wenig wie die reaktionären feudalen Einstellungen die es in verschiedenen Teilen der Gesellschaft im ganzen ehemaligen russischen Reich gab. Ihnen war jedoch bewusst, dass diese Haltungen nicht einfach abgeschafft werden konnten, sondern mit der Zeit verändert werden mussten. Daher errichteten sie in Zentralasien eine parallele, sowjetische Justiz um in der Praxis zu beweisen, dass die Sowjets für Gerechtigkeit sorgen konnten. Um insbesondere die Rechte der Frauen zu schützen war die Anwendung der Scharia nur erlaubt, wenn beide Prozessparteien zustimmten. Wenn eine Partei mit dem Urteil nicht zufrieden war, konnte sie bei einem übergeordneten Sowjetgericht Revision beantragen.

Spaltung des Islam

Zu dieser und anderer Fragen vermittelt Crouch einen einseitigen Eindruck. Beim Lesen seines Artikels glaubt man, dass fast die gesamte islamische Bevölkerung Zentralasiens fortschrittlich und mit den Bolschewiki verbündet gewesen sei. In einem zweiseitigen Artikel mit vielen Beispielen für die positiven Beziehungen zwischen islamischen Kräften und den Bolschewiki wird nur zweimal erwähnt, dass das nicht in allen Fällen zutraf. Im zweiten Absatz sagt Crouch „gleichzeitig hatten konservative islamische Führer eine feindselige Haltung gegenüber den revolutionären Veränderungen“, aber die Rolle dieser „konservativen islamischen Führer“ wird nicht weiter erklärt. Außerdem erwähnt Crouch den „Ausbruch der Basmatschi-Bewegung – eines bewaffneten islamischen Aufstands“. Aber die Schuld für diesen konterrevolutionären Aufstand wird allein der zweifellos kolonialen Politik des Taschkenter Sowjets während des Bürgerkriegs zugewiesen.

Es stimmt, dass während des Bürgerkriegs, als große Teile des Ostens von Russland abgeschnitten waren, einige chauvinistische russischen Emigranten die Revolution unterstützten weil sie sie als beste Möglichkeiten sahen die russische Vorherrschaft zu erhalten. Die Politik, die sie im Namen der Revolution betrieben, setzte die zaristische Unterdrückung der Muslime fort. In Taschkent, dessen Bevölkerung zu über neunzig 90 Prozent islamisch war, hielt der von Sozialrevolutionären und Menschewiki dominierte Sowjet seine Sitzungen auf Russisch ab und schloss einheimische VertreterInnen auf prinzipienlose und chauvinistische Art aus. Diese reaktionäre Politik trug stark dazu bei, dass Banden islamischer Guerillakämpfer die Basmatschi-Bewegung gründeten. Im Oktober 1919 stellte die Führung der Bolschewiki den Kontakt mit Taschkent wieder her und begann, die Maßnahmen des Taschkenter Sowjets rückgängig zu machen. Schon im April 1918 waren vierzig Prozent der Delegierten im Taschkenter Sowjet Muslime.

Obwohl großrussische Vorurteile zweifellos weiter existierten, betrieben die Bolschewiki erhebliche Anstrengungen um zu zeigen dass die Sowjetmacht nationale und kulturelle Freiheit bedeutete. Crouch beschreibt: „von den Zaren geraubte heilige islamische Gegenstände und Bücher wurden in die Moscheen zurückgebracht. In Zentralasien wurde der Freitag zum arbeitsfreien Tag erklärt.“

Aber solche Maßnahmen hielten den türkischen Nationalisten Enver Paşa nicht davon ab, im Herbst 1921 nach Zentralasien zu kommen, sich dem Basmatschi-Aufstand anzuschließen und die verschiedenen Stammesgruppen in eine Streitmacht für die islamische Reaktion zu verwandeln. Das war möglich, weil eine Schicht von Muslimen sich der Konterrevolution angeschlossen hatte, nicht nur wegen der Verbrechen des Taschkenter Sowjets, sondern weil sie Land erobern wollten um dort andere Muslime auszubeuten. Mit anderen Worten: sie kämpften für ihre Klasseninteressen.

Die Bolschewiki verstanden es stets als ihre Aufgabe, die größtmögliche Einheit der ArbeiterInnenklasse zu schaffen und die bäuerlichen Massen mit sich zu ziehen. Das bedeutete, die armen Massen der Muslime zu überzeugen, dass die Revolution ihre Interessen vertrat, nicht die reaktionären islamischen Führer. Das versuchten sie zu jeder Zeit.

Einheimische Führer

Dave Crouch beschreibt, wie die Bolschewiki große Anstrengungen betrieben um indigene nationale Führungen der Sowjets in den neu gebildeten autonomen Staaten zu entwickeln. Dazu gehörte die Gründung des Muslim-Kommissariats (Muskom), dessen Führung überwiegend aus Muslimen bestand, die keine Bolschewiki waren. Gleichzeitig wurden unter den indigenen Völkern verstärkt Mitglieder für die Kommunistische Partei (KP, der neue Name der Bolschewiki) gewonnen, und die Zahl der islamischen Mitglieder stieg dramatisch.

Crouch behauptet weiter: „Es gab ernsthafte Diskussionen unter Muslimen über die Ähnlichkeit islamischer Werte mit sozialistischen Prinzipien. Beliebte Slogans der Zeit waren „Lang lebe die Sowjetmacht, lang lebe die Scharia!“ und „Religion, Freiheit und nationale Unabhängigkeit!“. AnhängerInnen des „islamischen Sozialismus“ forderten Muslime auf, Räte zu bilden.

Erneut wird hier eine komplexere Wirklichkeit ausgeblendet – es wird nicht erwähnt, welche Haltung die Bolschewiki zum „islamischen Sozialismus“ einnahmen. Es stimmt natürlich, dass die KP zwar marxistisch und daher atheistisch war, religiöse Überzeugungen aber kein Hindernis beim Eintritt in die Partei waren und viele Muslime für die KP gewonnen wurden. Das hieß aber nicht, dass sich Gruppen der KP anschließen konnten, nur weil sie islamisch waren und ihre Unterstützung für die Revolution erklärten. Obwohl es vorübergehende Militärbündnisse mit sehr unterschiedlichen Kräften gab, erkannten die Bolschewiki nur eine islamische Organisation auf sowjetischem Gebiet (auf der Basis ihres Programms) als echte sozialistische Partei an – die aserbaidschanische Hümmet, die später der Kern der KP Aserbaidschans wurde. Andere, wie die liberal-nationalistische kasachische Partei Alash Orda, wurden wegen ihres Programms und ihrer Klassenbasis abgelehnt, obwohl sie behaupteten die Revolution zu unterstützen.

Trotzdem war es so wichtig, indigene Führungskader in der KP zu entwickeln, dass Personen mit einem deutlich anderen Standpunkt als Lenin und Trotzki in die Partei aufgenommen wurden. Eine davon war Mirsaid Sultangaliev, der Vorsitzender des Zentralen Muslimkommissariats wurde, nachdem es im November 1917 in die KP eingetreten war. Er erklärte: „Alle islamischen kolonisierten Völker sind proletarische Völker und weil fast alle Klassen in der islamischen Gesellschaft von den Kolonialisten unterdrückt wurden haben alle Klassen das Recht, sich ‘Proletarier’ zu nennen.“

Auf dieser Grundlage war er der Meinung, dass es innerhalb unterdrückter Nationen keinen Klassenkampf geben könne. In Wirklichkeit waren seine Ideen ein Deckmantel für die Interessen der herrschenden Elite. Die KP-Führung kritisierte diese Ideen häufig und öffentlich. Zum Beispiel besagen die vom zweiten Komintern-Kongress beschlossenen „Thesen zur nationalen und kolonialen Frage“ klar: „Notwendig ist der Kampf gegen den Panislamismus und die panasiatische Bewegung und ähnliche Strömungen, die den Versuch machen den Freiheitskampf gegen den europäischen und amerikanischen Imperialismus mit der Stärkung der Macht des türkischen und japanischen Imperialismus und des Adels, der Großgrundbesitzer, der Geistlichen usw. zu verbinden”.

Weiter heißt es: „Notwendig ist ein entschlossener Kampf gegen den Versuch, der nicht wirklich kommunistischen revolutionären Freiheitsbewegung in den [wirtschaftlich] zurückgebliebenen Ländern ein kommunistisches Mäntelchen umzuhängen. Die Kommunistische Internationale hat die Pflicht, die revolutionäre Bewegung in den Kolonien und den rückständigen Ländern nur zu dem Zweck zu unterstützen, um die Bestandteile der künftigen proletarischen Parteien — der wirklich und nicht nur dem Namen nach kommunistischen — in allen rückständigen Ländern zu sammeln und sie zum Bewusstsein ihrer besonderen Aufgaben zu erziehen, und zwar zu den Aufgaben des Kampfes gegen die bürgerlich-demokratische Richtung in der eigenen Nation.“

Dieses Beispiel zeigt, wie grundlegend sich die Herangehensweise der Bolschewiki von der der SWP heute unterschied. Es stimmt, dass das Manifest des Kongresses der Völker des Ostens zum „heiligen Krieg“ aufrief, wie von Crouch zitiert. Heute würden MarxistInnen diesen Begriff wegen seiner Konnotationen nicht benutzen. Trotzdem stand der Aufruf damals im Kontext eines klaren Klassenstandpunkts: „Ihr wurdet oft von euren Regierungen zum heiligen Krieg aufgerufen, ihr seid unter dem grünen Banner des Propheten marschiert, aber alle diese heiligen Kriege waren Betrug, sie dienten nur den Interessen eurer selbstsüchtigen Herrscher und ihr als ArbeiterInnen und BäuerInnen lebt nach all diesen Kriegen weiter in Sklaverei und Not… Jetzt rufen wir euch zum ersten echten heiligen Krieg für euer eigenes Wohlergehen, für eure eigene Freiheit, für euer eigenes Leben!“

Während des Kongresses wurde immer wieder die Notwendigkeit des Kampfes gegen „die reaktionären Mullahs in unserer Mitte“ betont, und dass die Interessen der Armen im Osten mit denen der Arbeiterklasse im Westen übereinstimmten.

Die Revolution von 1917 inspirierte Millionen rund um den Erdball. In riesigen Mengen sammelten sich die Armen aus den unterdrückten Nationen um das Banner des ersten ArbeiterInnenstaats, darunter auch viele Muslime. Lenin und Trotzki betonten zu Recht, dass im Bündnis mit der Sowjetmacht die nationale Befreiung und Religionsfreiheit erkämpft werden konnten. Das war umso wichtiger wegen der abstoßenden Politik der Zweiten Internationale, die die Kolonialherrschaft unterstützt hatte. Dabei verzichteten sie aber nicht auf ihr sozialistisches Programm. Sie betonten, dass der Weg zur Freiheit nicht über ein Bündnis mit der nationalen Bourgeoisie führte, sondern über den gemeinsamen Kampf mit der weltweiten ArbeiterInnenklasse gegen den Imperialismus und auch gegen ihre „eigenen“ feudalen Grundherren und die sie unterstützenden reaktionären Mullahs.

Welche Lehren für heute?

In Zentralasien versuchten Lenin und Trotzki eine überwiegend islamische bäuerliche Bevölkerung, die für ihre nationalen Rechte kämpfte, für die Weltrevolution zu gewinnen, vor dem Hintergrund des verzweifelten Überlebenskampfs des ersten ArbeiterInnenstaats. Wir versuchen heute in Großbritannien, eine unterdrückte Minderheit der Arbeiterklasse für den Sozialismus zu gewinnen.

Unter den meisten Gesichtspunkten ist unsere Aufgabe viel einfacher. Die große Mehrheit der Muslime in Großbritannien sind Teil der ArbeiterInnenklasse, und viele arbeiten an ethnisch gemischten Arbeitsplätzen, besonders im öffentlichen Dienst. Die Massenbewegung gegen den Krieg hat einen Eindruck von den Möglichkeiten einer gemeinsamen Bewegung der ArbeiterInnenklasse gegeben, in der Muslime eine zentrale Rolle spielen. Die Gründung einer neuen Massenpartei der Arbeiterklasse mit einer klassenbewussten Politik, die gegen Rassismus und Islamfeindlichkeit kämpft, hätte eine enorme Anziehungskraft für Muslime aus der ArbeiterInnenklasse und würde Rassismus und Vorurteilen schrittweise den Boden entziehen.

Aber das Fehlen einer solchen Partei belegt, vor welchen Schwierigkeiten wir stehen. In den 1990ern gab der Zusammenbruch der Regimes in Osteuropa und der Sowjetunion dem Weltkapitalismus eine Möglichkeit, den Sozialismus für gescheitert zu erklären, indem sie ihn zu Unrecht mit diesen stalinistischen Regimes gleichsetzten. Daher konnte die herrschende Klasse eine massive ideologische Offensive gegen die Idee des Sozialismus beginnen. Der rechte Flügel der Labour Party und der Sozialdemokratie weltweit nutzte diese Gelegenheit, um alle Spuren von Sozialismus aus ihren Programmen zu tilgen und sich in eindeutig kapitalistische Parteien umzuwandeln.

Heute kommt eine neue Generation zu dem Schluss, dass der Kapitalismus die Bedürfnisse der Menschheit nicht befriedigen kann – eine Minderheit beginnt, sozialistische Schlüsse zu ziehen. Allerdings entspricht das Bewusstsein noch nicht der objektiven Realität – und der Sozialismus ist noch nicht zu einer Massenkraft geworden.

In dem daher bestehenden Vakuum suchen radikale junge Menschen nach einer politischen Alternative. Eine kleine Minderheit junger Muslime in Großbritannien orientiert sich an Organisationen des rechten politischen Islams. Die Mehrheit der jungen, radikalen Muslime waren verstanden die Notwendigkeit einer gemeinsamen Antikriegsbewegung. Das Potential für den Aufbau einer starken Basis der SozialistInnen unter Muslimen ist zweifellos vorhanden – aber nur wenn wir auf sie zugehen und für den Sozialismus argumentieren.

Weltweit gibt es größere Parallelen mit der Situation, in der die Bolschewiki sich befanden, obwohl die Unterschiede weiterhin groß sind. Zum Beispiel stehen SozialistInnen im Irak heute vor der schwierigen Aufgabe, unabhängige ArbeiterInnenorganisationen aufzubauen und die Massen der ArbeiterInnen und Armen zur Verteidigung ihrer Rechte zu mobilisieren – darunter auch ihr Recht, sich unabhängig von den islamischen Organisationen zu organisieren, deren Programme den irakischen Massen keinen Weg nach vorn bieten. Die Lehren des 20. Jahrhunderts verdeutlichen die Gefahren, die für SozialistInnen entstehen wenn wir unser unabhängiges Programm aufgeben. Besonders im Nahen Osten ermöglichte das Versagen der großen Kommunistischen Parteien, die die Arbeiterklasse nicht zur Macht führen konnten, den Aufstieg des rechten politischen Islam. In der iranischen Revolution 1978-79 führte die Arbeiterklasse eine Bewegung, die die grausame, vom Imperialismus gestützte Monarchie stürzte. Die kommunistische Tudeh-Partei war die größte linke Kraft im Iran, aber betrieb keine unabhängige Politik für die ArbeiterInnenklasse. Stattdessen versuchte sie, sich mit Ayatollah Khomeini zu verbünden, obwohl der Klerus versuchte die unabhängige Arbeiterbewegung zu ersticken. Das Ergebnis war die Machtübernahme des Khomeini-Regimes, das die Tudeh zerschlug und die klassenbewusstesten ArbeiterInnen ermordete.

Die Bolschewiki ermöglichten trotz der riesigen Schwierigkeiten vor denen sie standen, einen Blick auf den einzigen Weg zur Befreiung – die auch nationale Befreiung und Religionsfreiheit beinhaltet – durch die weltweite Vereinigung der ArbeiterInnenklasse um ein sozialistisches Programm.

Die seither vergangenen Jahrzehnte waren für die Minderheiten, die in den Jahren nach der Revolution einen Eindruck von Befreiung bekamen ein Albtraum nationaler Unterdrückung. Der Stalinismus und jetzt der Kapitalismus bedeuten die brutale Unterdrückung nationaler Minderheiten in der Region. Die völlige Unfähigkeit des Kapitalismus des 21. Jahrhunderts, die nationale Frage zu lösen wird dazu führen, dass eine neue Generation das wahre Erbe der Bolschewiki wieder entdeckt.

Hannah Sell ist stellvertretende Generalsekretärin der Socialist Party in England und Wales und Mitglied im Internationalen Sekretariat des Komitees für eine Arbeiterinternationale.

Die Bolschewiki und islamische Frauen

Die Shenodtel – die Abteilung der Arbeiterinnen und Bäuerinnen – führte eine Kampagne, um in der ganzen sowjetischen Welt die unterdrückten Bäuerinnen zu erreichen, oft unter großen persönlichen Risiken. In Zentralasien organisierten Shenodtel-Aktivistinnen „Rote Yertas“ (Zelte) wo den Frauen aus der Umgebung Ausbildungen in verschiedenen Handwerken, Alphabetisierungskurse, politische Bildung usw. angeboten wurden.

Diese Taktik konnte nicht zum vollen Erfolg führen, während die Revolution isoliert blieb. Letztlich war die Revolution weder in den muslimischen Gebieten noch im Rest der Sowjetunion in der Lage, die wirtschaftlichen und kulturellen Voraussetzungen für die Befreiung der Frauen zu schaffen. Trotzki beschreibt wie die neue Gesellschaft plante, kostenlose, hochwertige „Geburtshäuser, Krippen, Kindergärten, Schulen, Gemeinschaftsküchen, Gemeinschaftswäschereien, Erste-Hilfe-Stationen, Krankenhäuser, Sanatorien, Sportvereine, Kinos…“ zu schaffen um „der Frau, und damit auch dem Ehepaar, wirkliche Befreiung aus den tausendjährigen Fesseln“ zu bringen.

Aber er erklärt weiter: „Es ist nicht gelungen, die alte Familie im Sturm zu nehmen. Nicht weil es an gutem Willen gefehlt hätte. Auch nicht weil die Familie so fest in den Herzen verwurzelt ist. Im Gegenteil, nach einer kurzen Periode des Misstrauens zum Staat, zu seinen Krippen, Kindergärten und ähnlichen Einrichtungen wussten die Arbeiterinnen und nach ihnen auch die fortgeschrittenen Bäuerinnen die unermesslichen Vorzüge der kollektiven Kinderpflege wie der Vergesellschaftung der gesamten Familienwirtschaft wohl zu schätzen. Leider erwies sich die Gesellschaft als zu arm und zu unkultiviert. Die realen Mittel des Staates entsprachen nicht den Plänen und Absichten der Kommunistischen Partei. Man kann die Familie nicht ‘abschaffen’, man muss sie durch etwas ersetzen. Auf der Grundlage der ‘verallgemeinerten Not’ ist eine wirkliche Befreiung der Frau nicht zu verwirklichen. Die Erfahrung veranschaulichte bald diese bittere Wahrheit, die Marx 80 Jahre zuvor formuliert hatte.“ (aus: Die verratene Revolution, 1936)

Die „verallgemeinerte Not“ war in Zentralasien besonders akut. Das bedeutete in der Praxis, dass Frauen die aus der Unterdrückung durch ihre Familie ausbrachen vor dem Hungertod standen, weil sie keine andere Möglichkeit hatten, materielle Unterstützung zu bekommen. Selbst wenn es wirtschaftlich möglich gewesen wäre, Frauen von der Hausarbeit zu entlasten und ihnen eine unabhängige wirtschaftliche Existenz zu ermöglichen, wäre der neue Arbeiterstaat zweifellos auf Widerstände getroffen, besonders in den wirtschaftlich rückständigen Gebieten, wo es noch keine Arbeiterklasse gab. Aber im Lauf der Zeit hätte auf Basis der gegebenen Mittel die überwältigende Mehrheit die Vorteile der Befreiung der Frauen verstanden.