Europa: Das Problem ist der Kapitalismus!

Die EU war stets die Speerspitze aggressiver Sozialabbau- und Kürzungspolitik!
Sonja Grusch

Im Mai dieses Jahres trafen sich die Spitzen der EU zum EU-Sozialgipfel im portugiesischen Porto. Während Treffen bezüglich der Wirtschaftspolitik in der EU häufig abgehalten werden, fand der letzte Sozialgipfel vor 4 Jahren statt. Damals, 2017, wollte man wohl angesichts diverser rechtsextrem-EU-kritischer Wahlerfolge ein Zeichen setzen, dass die EU soziale Probleme ernst nimmt. Damals wie auch 2021 kam wenig Konkretes dabei heraus: Man einigte sich auf 20 Prinzipien - ohne sich allerdings darum zu kümmern, dass bzw. wie diese erreicht werden können. Die schönen Worte waren also das Papier nicht wert - und das, obwohl mindestens 20 Millionen Kinder in Europa unter Armut leiden!

Dieses Beispiel zeigt sehr gut, worum es in der EU immer ging und immer gehen wird: Sie ist ein Wirtschaftsbündnis. Alles Gerede von “Sozialunion” oder “demokratischen Werten” ist Propaganda. Mit der tiefen Krise der EU, die die Folge der tiefen Krise des Kapitalismus ist, bleibt letztlich nur die Kernaufgabe über: Die Wirtschaftsunion. Und selbst diese ist gefährdet.

Die EU entstand als Antwort des europäischen Kapitals auf die Machtverschiebungen nach 1945 und zur Positionierung im Kalten Krieg. Die USA wurden zur Supermacht, politisch und wirtschaftlich. Die bisherigen Platzhirsche, v.a. Britannien, Frankreich, aber auch das durch die Niederlage geschwächte Deutschland, verloren im internationalen Wettbewerb an Boden. Der alte Kontinent sah zunehmend alt aus, die USA, später auch Japan und immer stärker China, überholten die einzelnen europäischen Staaten v.a. in Dynamik und Innovation. Um hier gegenhalten zu können, blieb nur eines: Die europäischen Staaten mussten sich zusammentun, um gemeinsam am Weltmarkt für ihre jeweiligen nationalen Kapitale das Beste herausholen zu können. Nicht zufällig bekam die EU einen Boost mit der ersten Nachkriegskrise Mitte der 1970er Jahre.

Die verschiedenen nationalen Kapitale haben von Beginn an eine letztlich simple Kosten-Nutzen-Rechnung gemacht: Was bringt unterm Strich mehr - als Block gemeinsam aufzutreten, auch um den Preis gewisser Zugeständnisse auf europäischer Ebene oder alleine aufzutreten, ohne Unterstützung, aber auch ohne Behinderungen. Für schwächere Ökonomien sah der Trade-Off nicht ganz so simpel aus, sie mussten aufpassen, nicht außen vor zu bleiben. Gleichzeitig war ihre Integration in die EU auch eine Möglichkeit für die stärkeren Ökonomien, ihren Einfluss auf diese Schwächeren auszubauen. Besonders deutlich wird dieser Effekt in Bezug auf die ehemaligen stalinistischen Staaten in Ost- und Südosteuropa. Die Restauration des Kapitalismus Anfang der 1990er Jahre und später die EU-Osterweiterung bot eine einzigartige Gelegenheit für das internationale, aber v.a. europäische Kapital, sein angehäuftes Kapital endlich irgendwo profitabel anlegen zu können. Die unter der Oberfläche heraufziehende tiefe Weltwirtschaftskrise konnte so hinausgeschoben werden. Auch 30 Jahre nach der “Wende” ist Armut ein massives Problem in diesen Staaten, die v.a. auch von europäischen (nicht zuletzt österreichischen) Firmen fast wie Kolonien ausgeplündert wurden. 

Heute ist der zentrale geopolitische Konflikt jener zwischen den USA und China. Dieser findet statt vor dem Hintergrund einer tiefen Krise des Kapitalismus, die mit der Weltwirtschaftskrise 2007/8 in eine neue Phase eintrat und sich mit dem durch Corona ausgelösten nächsten Einbruch weiter zuspitzt. In der Krise ist sich jeder selbst der nächste - das gilt insbesondere fürs Kapital. Konkret bedeutet das, dass jede Regierung noch viel stärker als vorher versucht, für ihr jeweiliges nationales Kapital die besten Voraussetzungen zu schaffen. Also es vor ausländischer Konkurrenz zu schützen (Stichwort Protektionismus) und gleichzeitig Vorteile am Weltmarkt herauszuschlagen. 

Die EU musste immer ein Kompromiss sein, die verschiedenen Interessen verschiedener nationaler Kapitale, verschiedener Kapitalfraktionen unter einen Hut zu bringen, braucht lange Verhandlungen und Einigungen auf einen kleinen gemeinsamen Nenner. Das macht langsam und träge.

Der Präsident des Europäischen Rates, der Belgier Charles Michel, sagte bereits 2020, dass die Arbeitsweise der EU “zu langsam” ist. Während China und die USA großzügig riesige Konjunkturpakete zur Stützung ihrer nationalen Ökonomien schnürten, wurde in der EU ewig verhandelt. Auf Druck der “sparsamen Vier” (darunter auch Österreich) wird ein großer Teil des EU Aufbauplanes aus Krediten bestehen. Die Interessen jener Staaten mit hohem Industrieanteil und verhältnismäßig niedriger Arbeitslosigkeit (wie Deutschland) sind ganz andere als die jener Staaten, die von Tourismus und Dienstleistungssektor abhängig sind und Arbeitslosenraten jenseits der 30% haben. Die neoliberale Politik geringer staatlicher Intervention in die Wirtschaft konnte früher in der EU funktionieren. Doch die aktuell nötige massive staatliche Intervention passt nicht zu diesem Modell. Es war immer klar, dass die EU kein Projekt für die Ewigkeit sein könnte. Denn obwohl die Wirtschaft global agiert, brauchen die Kapitalist*innen doch “ihre” Staaten, wenn’s brenzlig wird. Und daher sehen wir eine Umgestaltung der EU. Es geht dabei nicht darum, die EU “sozialer” oder “demokratischer” zu machen. Sondern es geht darum, dass die starken Ökonomien in der EU weniger Kompromisse mit den schwächeren eingehen können und wollen. Es geht darum, dass die stärkeren Ökonomien die EU im Konflikt China-USA auf Seiten der USA positionieren wollen und der Flirt mancher in Osteuropa und auf dem Balkan mit China und Russland hier störend wirkt. Es geht also auch darum, die nationale osteuropäische Bourgeoisie, die in den letzten Jahrzehnten an Selbstbewusstsein gewonnen hat, in die Schranken zu weisen. Doch auch Italien und Griechenland sind Teil der chinesischen neuen Seidenstraße (Belt&Road Initiative) und der bayrische CSU-Ministerpräsident Söder will den russischen Impfstoff Sputnik einkaufen. Alles Anzeichen für zunehmend nationale Alleingänge, die am “Gemeinsamen Haus Europa” zerren. 

Trotz aller Widersprüche hat die EU länger gehalten als gedacht. Sie wird auch morgen nicht einfach zerfallen. Doch sie verändert sich. Vorschläge, von Einstimmigkeitsprinzip und Vetomöglichkeiten abzugehen sollen die starken Ökonomien noch stärker machen. Die EU wird immer offensichtlicher ihre Verkleidung ablegen und immer stärker auf das reduziert werden, was sie ist: Ein Wirtschaftsbündnis, das die Profite sichern soll, auf Kosten der Arbeiter*innenklasse und der Umwelt in- und außerhalb Europas. Sie wird aber auch immer zerbrechlicher, weil die kapitalistische Krise nicht verschwinden wird, sondern sich weiter zuspitzt und von den Nationalstaaten Maßnahmen verlangt. Reformierbar ist die EU nicht - sie muss bekämpft werden. Und zwar nicht mit nationalistischen Scheinlösungen, sondern mit einer internationalistischen Antwort, die der internationalen Vernetzung der Wirtschaft und der internationalen Dimension der Probleme entspricht!

 

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