Demokratische Feudalisten und die Unabhängigkeit der Ukraine

Text von Trotzki (Coyoacán, 5. August 1939)
Leo Trotzki

In Kerenskis Zeitschrift Nowaja Rossija vom 12. Juli 1939 wird mein Artikel zur Unabhängigkeit der Ukraine einer ganz eigenen Art von »Kritik« unterworfen. Vom sozialistischen, wissenschaftlichen oder literarischen Standpunkt ist Nowaja Rossija natürlich völlig uninteressant. Dafür hat die Zeitschrift einen anderen Vorzug: sie gibt Aufschluss über die Denkweise der mittel- und kleinbürgerlichen russischen Demokraten. Wenn man an ihnen nur genügend kratzt, kommt unweigerlich der reaktionäre Gutsherr zum Vorschein.

Die Zeitung mokiert sich darüber, dass ich das ukrainische Volk in seinem Kampf um nationale und staatliche Unabhängigkeit uneingeschränkt unterstütze. »Die Lostrennung der Sowjetukraine von der UdSSR bringt L. Trotzki überhaupt nicht in Verlegenheit.« Vollkommen richtig! Was die Herren Demokraten anbelangt, so setzt sie die mögliche Loslösung der Ukraine nicht nur in Verwirrung, sie empört sie auch zutiefst. Der demokratische Drang einer unterdrückten Nation, ihre völlige Unabhängigkeit zu erkämpfen, muss zwangsläufig den Zorn reaktionärer Gutsherren erregen. »Die Frage, wie Hitler diese Revolution (die nationale ukrainische Revolution) zur Verwirklichung seiner Pläne ausnutzt, berührt Trotzki nicht.« Die Herren von Nowaja Rossija sind der Ansicht, dass »die Lostrennung der Ukraine zur militärischen Schwächung der UdSSR führen wird«, und dies verleitet sie zu der Schlussfolgerung, dass die Politik Trotzkis Hitler hilft.

Die gleiche Meinung vertritt auch der Kreml. Große Geister fließen in dieselbe Gosse, heißt es in einem französischen Sprichwort.

Nehmen wir einmal an, dass die Lostrennung der Ukraine die UdSSR wirklich schwächt. Wie verhalt es sich dann mit dem demokratischen Prinzip der Selbstbestimmung der Nationen? Jeder Staat, der irgendeine Nation gewaltsam in seinen Grenzen festhält, sieht die Loslösung dieser Nation als wirtschaftliche und militärische Schwächung an. Hitler annektierte die Tschechei und machte die Slowakei zum Vasallenstaat, um Deutschland militärisch zu stärken. Worin unterscheidet sich denn das Argument unserer Demokraten von Hitlers Argument?

Auf die Frage, ob die Ukrainer eine Nation sind, antworten die Demokraten der Nowaja Rossija, wie schon vor ihnen der sattsam bekannte Miljukow, dass die Ukrainer zwar »im großen und ganzen« nun wohl eine Nation sind, aber man muss doch nicht übertreiben. Mit anderen Worten: Wenn die Ukrainer schon eine Nation sind, dann zweiter Klasse, denn die Ukraine muss ihr Schicksal den Interessen Russlands, d. h. der großrussischen Mehrheit unterordnen. Das eben ist die Ansicht von chauvinistischen feudalen Reaktionären.

In den unrühmlichen Tagen der Februarrevolution verweigerte die Provisorische Regierung den Ukrainern schändlicherweise nicht nur die Unabhängigkeit — die diese damals noch nicht forderten —, sondern sogar die bloße Autonomie. Die Herren Demokraten feilschten um die nationalen Rechte der Ukraine wie Pferdehändler. Sie orientierten sich direkt und offen an den Interessen der alten großrussischen »Herren« des feudalistischen, bourgeoisen und bürokratischen Typs. Heute übersetzen sie diese große und ruhmreiche Tradition in die Sprache der Emigranten.

Von einer höheren historischen Warte, nämlich vom Standpunkt der sozialistischen Revolution aus, wäre es durchaus möglich, die nationalen Interessen der Ukraine für eine bestimmte Zeit den Interessen des internationalen Proletariats unterzuordnen, falls diese in Widerspruch zu jenen gerieten. Doch von solchen Widersprüchen kann gar keine Rede sein. Die gleiche bonapartistische Reaktion, die die Ukraine erwürgt, erdrosselt auch die gesamte UdSSR und untergräbt deren Verteidigungsfähigkeit. Die revolutionäre ukrainische Bewegung, die sich gegen die bonapartistische Bürokratie richtet, ist unmittelbar ein Verbündeter des internationalen revolutionären Proletariats.

Die weitsichtigen demokratischen Reaktionäre feudalen Einschlags sind sehr besorgt, dass Hitler die nationale ukrainische Revolution irgendwann in der Zukunft für seine Zwecke ausnützen wird. Sie verschließen aber die Augen davor, dass Hitler schon heute aus der Unterdrückung und Zerstückelung der ukrainischen Nation Nutzen zieht.

Im Gegensatz zu den Herren Demokraten der menschewistischen sowie der volkstümlerischen Spielart gehen wir absolut nicht von der Vorstellung aus, dass kein Raubtier stärker sei als das Kätzchen. Die Stärke Hitlers liegt allgemein, und besonders im Fall der Ukraine, nicht in ihm selbst, sondern in der Nichtigkeit und Fäulnis der Demokratie, in der Verwesung von Zweiter und Dritter Internationale sowie in der Welle von Enttäuschung, Mutlosigkeit und Apathie begründet, die die Massen überspült. Eine siegreiche revolutionäre Bewegung in irgendeinem Land wird die Totenglocke für Hitler läuten. Die nationalrevolutionäre ukrainische Bewegung ist ein wesentlicher Teil jener mächtigen revolutionären Woge, die sich in Molekülen schon jetzt unter der Kruste der triumphierenden Reaktion zu bewegen beginnt. Deshalb sagen wir: Lang lebe die unabhängige Sowjetukraine!