Das goldene Zeitalter der “austro-marxistischen” Sozialdemokratie:

Vorbild für die Linke heute?
Albert Kropf und John Evers

Bereits vor dem Ersten Weltkrieg waren die sozialistischen ArbeiterInnenparteien in einigen Staaten zu mächtigen Organisationen herangewachsen. So auch in Deutschland, Frankreich, Belgien und Österreich. Durch diesen Erfolg geblendet, sind viele ParteifunktionärInnen der Illusion anheim gefallen, den Kapitalismus soweit reformieren zu können, dass eine revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft nicht mehr notwendig sein würde. Auf jeden Fall haben die "Reformisten" und "Revisionisten" - wie diese neuen Strömungen, die eine Abkehr vom revolutionären Marxismus ausdrückten, bezeichnet wurden - die faktische Vorherrschaft in den meisten Sozialdemokratischen Parteien Zentral- und Westeuropas erlangt. Das ging allerdings nicht ohne Widerstand ab; wie in Deutschland durch Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Ebenso existierten gewichtige Ausnahmen dort, wo die allgemeinen Verhältnisse a priori wenig Spielraum für "Reformstrategien" bedeuteten; wie vor allem im russischen Zarenreich, aber auch am Balkan. Die österreichische Sozialdemokratie, auch geographisch in der "Mitte", versuchte sich in dieser Auseinandersetzung zwischen "Reform" und "Revolution" als Gesamtpartei nicht klar zu deklarieren. Demgegenüber existierten aber auch praktisch keine offen linken Oppositionströmungen (zumindest in den Alpenländern), wie in anderen Teilen Europas. In Reden, Artikeln und Parteiprogrammen stützten sich Partei-"Rechte" wie "Linke" offiziell auf den Marxismus und revolutionäre Rhetorik. In der tagtäglichen Arbeit und strategischen Orientierung wurde aber ebenfalls der Weg des Reformismus beschritten. Und wenn man so will, ist das bereits die Geburtsstunde für den Austromarxismus: extrem revolutionäre Sonntagsreden, zaudernd und zögerlich im Klassenkampf.

Der Weltkrieg

Am historischen Wendepunkt 1914 "musste" sich die österreichische Sozialdemokratie - aufgrund der wenig demokratischen Zustände in der Vorkriegsmonarchie - die Finger nicht so schmutzig machen, wie ihre anderen Schwesterparteien. Diese Parteien waren nun im Rahmen ihrer reformistischen Konzepte, die tatsächlich die Integration in den Staat anstrebten, nämlich zu nationalistischen “Vaterlandsverteidigern” geworden. Sie stimmten sogar, wie im Falle der deutschen Sozialdemokratie, im Parlament für den Krieg, bzw. dessen Finanzierung. Der österreichische Kaiser regierte demgegenüber aufgrund von Notverordnungen am Parlament vorbei. Trotzdem unterstützten wichtige Parteiführer (wie der Chefredakteur der Arbeiterzeitung Austerlitz) auch hier offen den Krieg. Die Parteispitze um den greisen Victor Adler organisierte keine Gegenwehr. 1915 und 1916 wurden in den Schweizer Orten Kient(h)al und Zimmerwald Kongresse von SozialistInnen gegen den Krieg abgehalten. Beides waren sehr kleine Veranstaltungen. Aber trotzdem kamen zum Treffen in Zimmerwald VertreterInnen aus Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Schweden, Bulgarien, Rumänien, Russland und Italien. Aber kein/e VetreterIn der SDAP aus Österreich beteiligte sich an den Versuchen, die sozialistische Bewegung neu zu formieren; obwohl Otto Bauer und Friedrich Adler als "linke" Opposition in Österreich galten, bzw. sich als solche betrachteten. Beendet wurde der Krieg in Österreich ebenfalls nicht durch die Tätigkeit dieser passiven "austromarxistischen Linken", sondern durch den Druck eines Außenereignisses: Die Oktoberrevolution in Russland traf auf die wachsende Antikriegsstimmung im Land. Erst diese Entwicklung ließ nun jene "Austromarxisten", die als Kriegsgegner galten, zu linken Idolen, zu neuen Partei- und Arbeiterführern aufsteigen.

Historische "Mission" des Austromarxismus

Die Russische Revolution hat die Herrschenden und Kriegstreiber in Europa in Angst und Schrecken versetzt. Die Beispielwirkung für die ArbeiterInnen in den Schützengräben Europas war immens. Am Ende des Krieges standen schließlich proletarische Revolutionen wie z.B. in Deutschland und Österreich. In Deutschland hatte sich schon während des Krieges die ArbeiterInnenbewegung neu gruppiert und damit die Sozialdemokratie (SPD) gespalten. Der neuen USPD gelang es in kürzester Zeit, die Mehrheit in vielen ArbeiterInnenregionen zu gewinnen. Kurz nach dem Krieg und der Niederschlagung der Revolution durch die SPD, schlossen sich viele von ihnen der neuen, nach russischem Vorbild gegründeten KPD an. Nicht so in Österreich, wo die KPÖ erst 1934 Bedeutung erlangen sollte. Warum? Wie keiner anderen sozialdemokratischen Partei in Europa gelang der SDAP ein vermeintlicher Ausgleich zwischen dem radikaleren und dem gemäßigteren Teil der ArbeiterInnenschaft. Die Basis dieses "Ausgleichs" war aber in Österreich das entscheidende "Zugeständnis" an die Rechte, die Macht der ArbeiterInnen- und Soldatenräte, die sich 1918 v.a. im Wiener Becken gebildet hatten, politisch zu brechen und die Formierung einer neuen ArbeiterInnenpartei mit Massenanhang zu verhindern.

Otto Bauer - eine damals zentrale Figur des Geschehens und Theoretiker des Austromarxismus beschrieb seine und die Rolle der SDAP in der Revolution nach dem Krieg mit folgenden Worten: "Keine bürgerliche Regierung hätte diese Aufgabe bewältigen können. Sie wäre binnen acht Tagen durch Straßenaufruhr gestürzt, von ihren eigenen Soldaten verhaftet worden. Nur Sozialdemokraten konnten diese Aufgabe von beispielloser Schwierigkeit bewältigen. Nur Sozialdemokraten konnten wild bewegte Demonstrationen durch Verhandlungen und Ansprachen friedlich beenden, die Arbeiterklasse von der Versuchung zu revolutionären Abenteuern abhalten."

Das Rote Wien

Die Kommunalpolitik in den 1920er und 1930er Jahren in Wien gilt als die Glanzzeit des Austromarxismus. Während in Österreich eine klerikal-bürgerliche Koalition regierte, versuchte die SDAP ein Gegenmodell aufzubauen. Mittels Umverteilungspolitik wurde ein soziales Wohnbauprogramm durchgeführt, das zu diesem Zeitpunkt in Mittel- und Zentraleuropa einzigartig war. Statt dunkle feuchte Wohnungen in Mietskasernen gab es nun moderne Wohnungen im Gemeindebau mit Klo und Wasser in der Wohnung. Ein Standard, der z. B. bis heute noch nicht in den privaten Zinshäusern selbstverständlich ist und mit kommunalen Sondersteuern die vor allem Reiche trafen, finanziert wurde.

Aber nicht nur im Wohnbau, sondern auch in der Bildung und der Freizeit schienen neue Ufer erreichbar. Und so wurde, von der Geburt bis zum Tod, jeder Lebensbereich durch sozialdemokratische Vorfeldorganisationen abgedeckt. Möglich war das alles nur dadurch, dass der politische Gegner Angst vor der potientiellen Stärke der ArbeiterInnen hatte. Ein Faktum, dessen sich offenstlich auch die "Austromarxisten" zumindest bewusst waren, auch wenn sie nur defensive Schlussfolgerungen daraus zogen. An Sonn- und Feiertagen wie am 1. Mai ließ die SDAP hunderttausende ArbeiterInnen aufmarschieren; teilweise sogar mit den Waffen ihrer Parteimiliz, die allerdings den bezeichnenden Namen "Republikanischer Schutzbund" trug.

Das Linzer Programm 1926

1926 wurde ein neues Programm beschlossen, das bis heute berüchtigte "Linzer Programm". Berüchtigt deswegen, weil es in austromarxistischer Tradition sehr wortradikal gehalten ist. Es wird grundsätzlich von Sozialismus und Enteignung gesprochen, aber auch die zurückweichende Strategie der ArbeiterInnenbewegung in den folgenden Jahren bereits vorweggenommen: "Der Kampf um die Staatsmacht" - so das entsprechende Programmkapitel - war in diesem "Marxismus" strikt defensiv, nämlich, wie es hieß, zur Erhaltung der "Bereitschaft" zur Verteidigung der (bürgerlichen) Republik angelegt. Dies ging gut, solange sich die Herrschenden von der Kraft der revolutionären Bewegung selbst einschüchtern ließen. Die Angst "Oben" und der Elan "von Unten" waren allerdings, im Gegensatz zu den austromarxistischen Perspektiven, kein Dauerzustand.

Vor 80 Jahren: Wendepunkt Justizpalastbrand

Im kleinen Ort Schattendorf wurden im Jänner 1927 bei einer nicht untypischen Provaktion der extremen Rechten gegen eine sozialdemokratische Demonstration mehrere Teilnehmer erschossen. Die Mörder erhielten beim anschließenden Gerichtsverfahren glatte Freisprüche; ebenfalls nicht untypisch für jene Republik, welche die Sozialdemokratie als schützenswerte Bastion der Bewegung sah. Der spontane ArbeiterInnen-Aufstand, Streiks und Demonstrationen, die am 15. Juli 1927 im Brand des Justizpalastes mündeten, zeigten zwar das revolutionäre Potential in der österreichischen Gesellschaft auf. Ebenso wurde aber auch die Führungsschwäche der Sozialdemokratie als entscheidende Kraft der Bewegung überdeutlich. Statt den Aufstand zu organisieren, versuchten ihre Spitzenrepräsentanten die DemonstrantInnen nach Hause zu schicken. Wiener Polizei und die faschistischen Heimwehren die erstmals (zumindestens außerhalb der Hauptstadt) als "Hilfstruppen" gezielt gegen "die Roten" eingesetzt wurden, veranstalteten darauf hin ein Massaker unter den unorganisierten Massen: 89 Tote und 1000 Verletzte. Das war der Wendepunkt in der Geschichte der 1. Republik, der endgültig die ArbeiterInnenbewegung von der Nachkriegsoffensive in die Defensive drängte und so langfristig den Weg in den Faschismus ebnete.

Die restlichen Jahre waren in Österreich gekennzeichnet von immer gewaltätigeren Angriffen des Staates und der Faschisten auf Linke und Gewerkschaften. Anti-Streik-Gesetze wurden unter dem Titel "Kampf gegen den Terrorismus" verschärft, die faschistischen Milizen "grüner" (christlicher) und inzwischen vermehrt auch "brauner" Prägung von den Gegnern der Arbeiterbewegung weiter aufgebaut. Vor allem aber auch ließ der Druck der Wirtschaftskrise die Streikrate sinken, die wachsende Arbeitslosigkeit schwächte die Gewerkschaften auch strukturell. Nicht zuletzt politisch war die Sozialdemokratie in Wirklichkeit sprachlos gegenüber den neuen Herausforderungen wie Börsen- und Bankenkrach (CA), wachsender Massenarmut und der Stärkung des Rechtsextremismus, da sie immer behauptet hatte, der Kapitalismus werde durch seine inneren Widersprüche und Krisen von selbst eines Tages zusammenbrechen. In der Praxis wurde inzwischen selbst die Auflösung des Parlaments, das Verbot verschiedener ArbeiterInnenorganisation und der ersten Maidemonstration (1933) mit nur symbolischen Protesten hingenommen. Statt zu demonstrieren schlug die Parteiführung nun vor, am 1.Mai 1933 zu "spazieren". Diese Entwicklung führte direkt in den 12. Februar 1934, wo sich ArbeiterInnen zwar spontan gegen das Verbot und die Entwaffnung des Republikanischen Schutzbundes und das vollständige Verbot ihrer Organisationen wehrten. Während sich der Widerstand noch einmal schnell ausbreitete, die ArbeiterInnen aber mit nur bescheidenen Waffen gegen die Kanonen des eingesetzten Bundesheeres kämpften, flohen die meisten Repräsentanten der SDAP oder ergaben sich der Polizei. Dort wo der Aufstand koordiniert wurde, hielten die Kämpfe zwar länger an. Die mutigen ArbeiterInnenführerInnen, die ihre Verantwortung wahrnahmen, blieben aber in der Parteispitze letztlich isoliert und wurden in mehreren Fällen vom austrofaschistischen Regime hingerichtet. Eine bittere Niederlage für die österreichische ArbeiterInnenschaft und das Ende des "austromarxistischen Modells" war die Folge. Zunächst in den Kerkern der austrofaschistischen Diktatur, dann in den KZs der Nazis oder im Untergrund und Exil, zogen nicht wenige, vor allem junge SozialistInnen die Schlussfolgerung, mit diesem Modell und seinen Theorien zu Gunsten radikaleren Ansätzen brechen zu müssen ...

Austromarxismus einst und heute

Bei der Suche nach Alternativen zum Kapitalismus heute, stossen vor allem die Ideen des austromarxistischen "Cheftheoretikers" Otto Bauer inner- und außerhalb der SPÖ noch immer auf Interesse. Auch wenn aus Perspektive der SLP die Praxis in den 1920ern und 1930ern den "Dritten Weg" (Bauer) zwischen Reform und Revolution widerlegt hat, ist diese Attraktivität somit auch ein Ausdruck für die Ablehnung der aktuellen Politik der Etablierten. Vor allem für die verbleibenden Linken innerhalb der SPÖ scheint der Grund für diesen Rückgriff auf Bauer und Co. auf der Hand zu liegen: Es ist der Rückgriff auf die - zumindest im Vergleich zu heute - "goldenen Zeiten" der sozialdemokratischen Organisation im Roten Wien. Tatsächlich hat die Sozialdemokratie von damals mit jener von Gusenbauer und Co. nichts mehr gemein: Diese "historische Sozialdemokratie" bemühte sich, die österreichische ArbeiterInnenklasse zu organisieren und mit dieser potentiellen Stärke Politik zu machen. Sie bemühte sich unter großen Opfern, ihre Strukturen ständig weiter aufzubauen, anstatt Sektionslokale als angeblich nicht mehr zeitgemäss zu schließen. Sie verfügte über eine Reihe von Persönlichkeiten, die zumindest als linke Aushängeschilder und nicht korrumpierbar galten; die durch ihre gesellschaftspolitischen Ansagen ein rotes Tuch für das Bürgertum darstellten. Sie verfügte auch über eine gewerkschaftliche Basis, gegen die sie nicht handeln konnte und wollte. Und vor allem setzte die Sozialdemokratie in ihrem unmittelbaren Einflussberreich - selbst in Zeiten der Wirtschaftskrise - keine "Reformen" gegen die ArbeiterInnenklasse um, sondern bemühte sich, wenn auch mit untauglichen Mitteln und nur hinhaltend, einer "Logik" zu widerstehen, die behauptete, Sparpakte und Sozialabbau seien so etwas wie Naturgesetze.

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