An und für sich: Die Klasse und ihr Bewusstsein

„Alle Räder stehen still… wenn dein starker Arm es will.“
Sonja Grusch

Mit dem Aufstieg des Kapitalismus entstand eine neue Klasse arbeitender Menschen: Das Proletariat bzw. die Arbeiter*innenklasse. Schon vorher hatten manche “nichts zu verkaufen als ihre Arbeitskraft”. Durch Veränderungen in der Produktionsweise wurden sie zur größten Klasse. Die Entfremdung vom erzeugten Produkt nahm zu, man wurde zum immer kleineren Rädchen in einem immer komplexeren Produktionsprozess. Die Ausbeutung war enorm und ist es bis heute geblieben. Zwar können sich zumindest in den reichen Ländern auch Arbeiter*innen den „Luxus“ eines (meist für den Arbeitsweg nötigen) Autos bzw. eines (zur Regeneration der Arbeitskraft nötigen) Urlaubs leisten, doch die grundlegenden Strukturen kapitalistischer Ausbeutung blieben gleich. Wir erhalten nur einen Bruchteil der Werte, die wir selbst produzieren.

Arm und Reich, oben und unten - das gibt es, seit es Klassengesellschaften gibt. Staat und “Überbau” (Schule, Kultur, Religion etc) haben bis heute die Aufgabe, das als “natürlich” darzustellen. Doch immer haben Menschen gesehen, dass es nicht so sein muss und sich gewehrt. Das Bewusstsein, Teil einer Gruppe mit gleichen Interessen zu sein, steht am Anfang von Klassenbewusstsein. Das Verständnis über die Rolle in der Gesellschaft, die potentielle Macht der Arbeiter*innenklasse wenn sie sich organisiert ist als nächstes nötig. Ein solches Bewusstsein entsteht aus Erfahrungen v.a. von Kämpfen, aber auch Niederlagen. Es entwickelt sich nicht automatisch und nicht geradlinig. Und manchmal kann es ein Ereignis sein, das dieses Bewusstsein nach vorne katapultiert. 

Mit der Arbeiter*innenklasse entstand die Arbeiter*innenbewegung: Der Zusammenschluss in Gewerkschaften und Parteien, die für unmittelbare Verbesserungen der Arbeitsbedingungen kämpften sowie für grundlegende demokratische Rechte bis hin zu einer ganz anderen Gesellschaft. 

“Früher” schien die Klasse bewusst, organisiert und kampffähig. Die Schwäche bzw. das Fehlen von Organisationen der Arbeiter*innenklasse in den letzten Jahrzehnten hatte negative Auswirkungen. Aber die ideologische Dominanz des Neoliberalismus und seines philosophischen Partners, der „Postmoderne“ (die Behauptung, es gäbe keine Gesellschaft, alles wäre individuell) bricht aktuell zusammen. Auch wenn nach wie vor nur eine Minderheit sich selbst als „Arbeiter*innenklasse“ definieren würde: Die Ungerechtigkeit des Kapitalismus führt spätestens seit der Krise 2007 zu einem wachsenden Bewusstsein für “oben und unten”. Das ist noch kein “Klassenbewusstsein” - was fehlt, ist ein Bewusstsein für die Macht und Aktionskraft, die Beschäftigte in ihren Betrieben haben. Viele der Massenbewegungen waren noch unklar: Occupy sprach von 99% gegen 1%, die Indignados-Bewegung in Spanien richtete sich gegen eine “Kaste” an der Spitze. Die zentrale Kampfform der meisten Bewegungen waren Massenproteste, Platzbesetzungen oder Straßenkampf. Aber spätestens seit der Corona-Krise sehen wir gerade auch hier Veränderungen und eine zunehmende Aktivität der Klasse als Klasse. Das gilt international in z.B. Kolumbien oder Belarus, besonders stark in den USA aber auch in Österreich mit den Streiks und anderen Formen der Arbeitsniederlegung im Gesundheitswesen und bei den Kindergärten.

Kaum jemand glaubt noch an ein „faires“ System. Zwar reden alle von “flachen Hierarchien”, doch die Chefs erhöhen den Arbeitsdruck, versuchen Beschäftigte und ganze Belegschaften gegeneinander auszuspielen (Arbeiter*innen - Angestellte - Leiharbeitskräfte bzw. Standorte) und kassieren den Profit. Aber wo gemeinsam gearbeitet wird, ist leichter zu sehen, wo die gemeinsamen Interessen und der gemeinsame Gegner sind. Das Klassenbewusstsein ist daher auch tendenziell größer in der Industrie und größeren Unternehmen - wie z.B. auch in Spitälern. Bei den Betriebsversammlungen im Metallbereich haben sich die Kolleg*innen an der Basis ausgetauscht. Überall sind die Auftragsbücher voll und trotzdem wollen die Firmen nicht einmal die Inflation abdecken. Es sind überall die gleichen Erfahrungen, das schweißt zusammen und zeigt, dass das Problem nicht einzelne Chefs sind, sondern das ganze System. 

Auch außerhalb des Betriebs ist die Ungerechtigkeit groß: Wer monatelang auf einen Termin für eine Untersuchung oder eine OP warten muss, weiß, dass wir eine Mehr-Klassen-Medizin haben. Wer sich ewig von einem prekären Job zum nächsten hanteln muss, weiß, dass das Versprechen „wer sich bemüht und lernt, hat eine bessere Zukunft“ leer ist.

Die triste eigene Lebenssituation mit grauer Zukunftsperspektive trifft auf die Arroganz und Glitzerwelt der „Reichen und Mächtigen“. Das Gefühl, dass da „was nicht passt“ hat verschiedene Quellen, die sich zu einem Gefühl auftürmen, dass es so nicht weitergehen kann. Junge Frauen, die mit der Propaganda aufwachsen, dass Sexismus nur importiert wäre und doch täglich erleben, dass Sexismus und Diskriminierung Alltag sind.

Die Ungerechtigkeit im Betrieb und jene außerhalb wird oft noch nicht zusammengebracht. Doch es sind gerade diese jungen Frauen, die in einer Pflegeausbildung stecken, die soziale Arbeit studieren oder im Supermarkt jobben. Sie haben gerade unter Corona erlebt, wie wichtig ihre Arbeit ist. Es sind gerade die Frauen der Arbeiter*innenklasse, deren Wut vermehrt zu Ausbrüchen führt.

Klassenbewusstsein entwickelt sich nicht “nach Plan” und aktuell bricht es oft nicht an betrieblichen Fragen bzw. Fragen der Bezahlung auf. Bei den Protesten in den Kindergärten und beim Pflegepersonal geht es v.a. um mehr Personal - mehr Geld ist auch nötig, doch hier ist der Leidensdruck (noch) geringer. 

Es sind Arbeiter*innen, die die Proteste in Österreich wie auch die Massenbewegungen in Kolumbien und Peru, im Irak und Iran, in den USA und Südafrika prägen. Sie treten zunehmend als Klasse auf und greifen zu Kampfmitteln der Klasse. Die Streiks in Myanmar und Südkorea verdeutlichen das. In den USA spricht man vom “Striketober” (Strike & Oktober). Es ist eine Arbeiter*innenklasse, die sich um politische Fragen wie nationale Unterdrückung, fehlende Demokratie und Frauenrechte auf die Füße stellt - und dabei zwangsläufig die Frage aufwerfen muss, wie die Eigentumsverhältnisse in der Wirtschaft sind und damit die Politik bestimmen. Soziale und politische Fragen lassen sich angesichts der zahlreichen Krisen von Klima, Wirtschaft und Politik immer weniger trennen. 

Die Frage ist, wann aus der „Klasse an sich“, also dem Objekt historischer Entwicklungen, die „Klasse für sich“, also das Subjekt in diesen Entwicklungen, wird. Welche Erfahrungen führen dazu, dass Arbeiter*innen sich nicht mehr ausgeliefert fühlen, sondern sehen, dass sie gemeinsam die Welt aus den Angeln heben können? Corona hat gezeigt, dass die „kleinen“ Leute das Werk am Laufen halten. Das schafft zu Recht Selbstbewusstsein und ist ein Grund, dass Menschen einen wirklich miesen Job kündigen bzw. nicht annehmen, weil sie - zu Recht - Besseres wollen. Dazu kommt noch die Erfahrung, dass es offensichtlich nicht am Geld mangelt, das die Regierungen mit vollen Händen an Firmen verteilen. 

Bei aller Buntheit der Arbeiter*innenklasse machen uns doch die Gemeinsamkeiten aus. Dabei geht es aber nicht um das „geteilte Leid“, das leichter zu ertragen wäre, sondern dass wir gemeinsam stärker sind, um echte Verbesserungen und eine andere Gesellschaft zu erreichen.

Erscheint in Zeitungsausgabe: