Öl als Quelle von Armut und Reichtum

Sonja Grusch, Caracas

Venezuela ist ein reiches Land. Als weltweit fünftgrößter Erdölproduzent sind diese Einnahmen die Basis der Wirtschaft - die Verteilung des Reichtums des Landes ist allerdings alles andere als gerecht. In Folge des Ölpreisbooms in den 70er Jahren vervierfachten sich die Staatseinnahmen. Einiges davon kam auch der ArbeiterInnenklasse und den ärmeren Bevölkerungsschichten zugute. Aber nicht lange. Mit dem Verfall des Ölpreises in den 80er Jahren folgte ein radikal-neoliberales Schockprogramm. Mit dramatischen sozialen Folgen:

  • Die Reallöhne sanken: die Kaufkraft des Mindestlohnes fiel von 1978 bis 1994 um zwei Drittel
  • Die staatlichen Sozialausgaben wurden gekürzt: von 1987 bis 1994 wurde der Wert auf gerade 4,3% des BIP halbiert
  • Jobs wurden vernichtet und prekarisiert: die Arbeitslosigkeit explodierte, die Menschen mussten zunehmend in den noch schlechter bezahlten informellen Sektor auweichen. 1999 arbeiteten mindestens 53% im informellen Sektor
  • Die Armut explodierte: Von 1984 bis 1995 stieg der Anteil der Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, von 36% auf 66%.

Die herrschenden Parteien gerieten wegen ihrer arroganten Politik, wegen der Korruption, aber besonders wegen der sozialen Katastrophe in die Krise. Chavez hat hier eine Alternative angeboten. Er stand und steht für eine andere Wirtschafts- und Sozialpolitik. Das ist überall zu merken. Seine Rhetorik richtet sich an "das Volk", wurde zunehmend kapitalismuskritisch. Es gibt eine Reihe von sozialen Verbesserungen, durch Ministerien und durch die "Misiones". Besonders im öffentlichen Dienst wurden Jobs geschaffen. Während des Festivals sind die TeilnehmerInnen von den öffentlich Bediensten der Stadt Caracas - Straßenreinigung etc. - nur schwer zu unterscheiden. Beide tragen meist rote T-Shirts mit diversen Pro-Chavez-Slogans.

Durch eine Alphabetisierungskampagne lernten über eine Million Menschen lesen und schreiben, Universitäten wurden erstmals wirklich für die ArbeiterInnenklasse geöffnet, 3.200 neue Schulen eröffnet. Millionen haben erstmals Zugang zu ÄrztInnen. Immer wieder erzählen Menschen auf meine Fragen hin begeistert von den sozialen Verbesserungen. Casanova, ein Funktionär der Chavez-Partei MVR, erklärt, dass nun das Öl für das Volk fließen würde.

Zweifellos hat es massive soziale Verbesserungen gegeben - auch wenn es nach wie vor massive Armut gibt. Neben dem politischen Willen liegt die Basis für diese sozialen Verbesserungen aber auch im hohen Ölpreis. 50% der öffentlichen Ausgaben werden aus den Gewinnen der staatlichen Ölgesellschaft PdVSA finanziert (wobei dieses Geld der PdVSA-Bürokratie erst hart abgerungen werden muss). Das wirft aber auch die Frage auf, was geschieht, wenn der Ölpreis wieder sinkt.

Ein Teil der Bevölkerung hofft, dass der jetzige Prozess einfach weiter gehen wird, dass es stetige Verbesserungen geben wird. Ein Lehrer erklärt mir, dass es ein langer Prozess sein wird, dass die Menschen erst lernen müssen, er spricht von 20-30 Jahren. Aber sind die Menschen wirklich bereit, so lange zu warten? Können sie es sich leisten, so lang zu warten? Und werden die bürgerlichen und imperialistischen GegnerInnen des Prozesses in Venezuela die nächsten 20 Jahre tatenlos zusehen? Alle diese Fragen sind wohl mit Nein zu beantworten.

Der Mindestlohn (der allerdings nur für den kleineren, formellen Sektor gilt) liegt bei 405.000 Bolivar/Monat, bei der Elektronikgesellschaft Cadafe liegt der Kollektivvertrag bei 600.000 Bolivar/Monat (ein Euro entspricht ca. 2.500 Bolivar). Zum Vergleich: Ein billiges Mittagessen erhaelt man um 6.000 Bolivar, einen kleinen Becher Jogurt um 1.000.-, eine U-Bahnfahrt kostet je nach Distanz 3-350 Bolivar, ein Bier in einem billigen Beisl 1-1.500.- Bolivar. Arbeitslosenversicherung gibt es keine, Pensionen sind die Ausnahme. 20 Jahre warten kann und will hier niemand.

In Kombination mit dem instabilen Faktor Ölpreis wirft das die Frage nach der Perspektive für die Zukunft auf. Deswegen ist die Diskussion über Sozialismus so wichtig. Im Unterschied zu vielen anderen Ländern ist "Sozialismus" hier ein in breiten Bevölkerungsschichten positiv besetzter Begriff. Was darunter zu verstehen ist, darüber gibt es aber unzählige Meinungen. Das gilt auch für die "Cogestion", die von Chavez eingefordert wird und für die Unternehmen auch finanzielle Förderung erhalten. Darunter ist wohl am ehesten ArbeiterInnenmitbestimmung zu verstehen. Es erinnert ein bisschen an die Diskussion in der europäischen Gewerkschaftsbewegung in den 70er und 80er Jahren über "Mitbestimmung", "Selbstverwaltung" etc. Auch wenn manche unter "Cogestion" gerne ArbeiterInnenkontrolle und ArbeiterInnenverwaltung verstehen wollen - und wohl auch manche ArbeiterInnen diese Vorstellung haben - ist es nicht das, was von offizieller Seite darunter verstanden wird. Genannt werden von RegierungsvertreterInnen u.a. Staatsbesitz und Einbeziehung der Beschäftigten ins Management oder auch die Ausgabe von Anteilen und Zahlung von Dividenden an die Beschäftigten und die Gemeinschaft.

Eine sozialistische Gesellschaft braucht aber mehr, als ein paar Elemente von Mitbestimmung, sie braucht echte ArbeiterInnenkontrolle und ArbeiterInnenverwaltung. Um zu einem sozialistischen Venezuela zu kommen braucht es ein klares Programm. Bei unserem Infostand im Teatro Teresa Carreno, einem der Festivalorte im Zentrum von Caracas, drehen sich alle Diskussionen um das Thema "Sozialismus". Wir diskutieren nicht nur mit FestivalteilnehmerInnen, auch MitarbeiterInnen der "Putzkolonne" wollen mehr wissen und uns ihre Sicht der Lage in Venezuela erklären. Die Diskussionen sind spannend und angeregt und alle stimmen zu, ja die Diskussion darüber, was Sozialismus ist und wie wir dorthin kommen können ist zentral.

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