Zwischenkriegszeit: Halb geht nicht

Teil 4 der Artikelserie: Geschichte der österreichischen Arbeiter*innenbewegung
Yasmin Morag

Armut, Elend, Inflation... führten in Russland und Europa während und nach dem 1. Weltkrieg zur revolutionären Lage. In Österreich kämpften Arbeiter*innen gegen Krieg und für bessere Lebensbedingungen. Der Matrosenaufstand in Cattaro, ein Generalstreik, Massendemonstrationen während des Krieges, die Bildung von Räten und die wachsende Unterstützung für Revolution wurden 1918 mit der Schaffung der bürgerlichen Republik beantwortet. Die Bourgeoisie war gezwungen, Monarchie und Teile ihres Reichtums zu opfern, um an der Macht zu bleiben. Die Sozialdemokratische Partei (SDAP) half ihr.

Die Führung der SDAP vertröstete auf den Sozialismus “später” und lenkte die revolutionäre Energie in ihr Projekt, das “Rote Wien”, um. Das Rote Wien mit öffentlichem Wohnbau, Kliniken und Kinderbetreuungseinrichtungen war der Abtausch für eine Revolution, die weit mehr erreichen hätte können. Doch die folgende Wirtschaftskrise ging auch am Roten Wien nicht vorüber, die SDAP hatte keine Lösung.

Zusätzlich hatte sich seit Kriegsende die extreme Rechte aufgerüstet und organisiert. Als klar war, dass von der SDAP keine Gefahr ausging, ging die Bourgeoisie daran, den “revolutionären Schutt” zu beseitigen. 1927 brachen Unruhen aus, nachdem der Staat rechte Heimatwehr-Mörder freigesprochen hatte, die ein Kind und einen Veteranen, die an einer friedlichen Demonstration teilgenommen hatten, getötet hatten. Die Wut entlud sich in wilden Streiks und Massenaufmärschen, der Justizpalast wurde in Brand gesteckt. Die Polizei schoss in die Menge, tötete 89, verletzte über tausend - 700 wurden verhaftet, 350 verurteilt. 

Die SDAP-Führung hat eine Revolution aktiv verhindert

Bis heute rühmt sich die SPÖ dafür, die Massen im Juli 1927 zurückgehalten zu haben. Die Enttäuschung vieler Arbeiter*innen über “ihre Partei” wuchs. In der Sozialdemokratie bildete sich eine junge, radikalere Opposition, die jedoch eine Trennung von “der Partei” um jeden Preis vermied. Anders als in Deutschland setzte die SDAP auf radikale Rhetorik - in der Praxis aber auf “machbare” Reformen und verhinderte so den Kampf für Sozialismus ganz im Sinne der Bourgeoisie. Von der vorrevolutionären Situation 1918, über den mutigen Aufstand 1927 kommen wir zu einer Arbeiter*innenklasse in der Defensive und einer sozialdemokratischen Partei, deren Politik letztlich den Faschismus ermöglichte.

1932 wurde der Austrofaschist Dollfuß Kanzler, 1933 schuf er das Parlament ab, begann den Angriff auf demokratische Rechte, verbot den sozialdemokratischen Schutzbund. 1934 löste ein Angriff der Polizei auf ein Linzer Arbeiter*innenheim einen kurzen, aber blutigen Bürgerkrieg aus. Arbeiter*innen wehrten sich verzweifelt, aber ohne Unterstützung der Parteiführung, gegen den faschistischen Staat. Dieser ließ durch das Bundesheer Gemeindebauten beschießen, verhaftete tausende, tötete hunderte.

Der schwache, an Italien orientierte Austrofaschismus wurde seinerseits rasch überrannt. Der Anschluss ans Deutsche Reich wurde am 10.4.1938 offiziell vollzogen. Innerhalb weniger Tage wurden 70.000 Menschen verhaftet - meist Jüd*innen, Sozialist*innen und Kommunist*innen. Die Zerschlagung der Arbeiter*innenorganisationen hatte der Austrofaschismus weitgehend erledigt, nun folgten die Liquidierung der Opposition und der jüdischen Bevölkerung. 

Viele sehen im Austro-Marxismus eine radikalere Sozialdemokratie, doch die SDAP hatte revolutionäre Stimmung und reale Möglichkeit, die Macht- und Besitzverhältnisse für immer zu verändern, aktiv unterdrückt und einen Schleier von Radikalität und Versprechungen über die Augen der Massen gelegt. Die Vorstellung, dass es nur eine Partei der Arbeiter*innen geben dürfe, hatte die sozialdemokratische Führung tief verankert und wirkt bis heute. Das Rote Wien ist ein leuchtendes Beispiel dafür, was mit einer Massenbewegung der Arbeiter*innenklasse gewonnen werden kann. Aber es ist auch ein Beispiel für die Grenzen innerhalb des Systems - die erreichten Reformen sind stets begrenzt und werden von der Bourgeoisie so schnell wie möglich zurückgenommen. Auch wenn die Idee eines schrittweisen Übergangs zum Sozialismus schön klingt, ist sie nicht möglich, da die herrschenden Eliten ihre Macht nie kampflos aufgeben. Das “Bauvolk der kommenden Welt” darf sich nicht ausbremsen lassen - damals wie heute!

 

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