Zum Kotzen!

Corina Legerer

Ich sitze in der U-Bahn, schaue in zwei verlorene Augen, inmitten eines eingefallenen kantigen Gesichts. Die Beine des Mädchens ähneln denen eines Storchs, die Oberschenkel so dick wie die Unterarme einer Normalgewichtigen. Ihre Hände zittern, ihre Stimme ist kraftlos, ihre Haut fahl.

Anorexia Nervosa (Magersucht) ist eine der häufigsten psychischen Krankheiten in Industrieländern. Meist trifft es junge Frauen, Mädchen in der Pubertät, die mit den Hürden des Erwachsenwerdens nicht fertig zu werden glauben. Frauen haben weniger Chancen im Beruf, ihre Leistungen werden mit weniger Geld oder gar nicht honoriert. Die Perspektive auf ein Leben mit doppel- und dreifach Belastung, mit Abhängigkeit von einem Mann oder als Alleinerzieherin in Armut – klar macht das Angst!

Anpassung bis zum Tod

Nur ca. 1/3 der Betroffenen schafft den Ausstieg aus der Sucht, die anderen 2/3 magern sich ab bis in den Tod. Perfekt sein, entsprechen, funktionieren, passen - all das verlangt das System von uns. Schlank sein, 90-60-90 haben, das zeichnet uns aus, das symbolisiert unseren „Erfolg“. Egal ob Anpassungszwang in Schule, Beziehung oder Job: Wir leben in einem System, an das wir uns anpassen müssen. Junge Frauen stehen hier besonders unter Druck. Essstörungen sind eine Reaktion auf diesen Druck, ein Rest von scheinbarer Selbstbestimmung und Macht. Ein Bereich wo Mädchen eine perverse „Leistung“ erbringen. Und ohne Leistung geht nichts im Kapitalismus.

Alles beginnt mit einer „normalen“ Diät. KeineR hat die Absicht, bis auf Haut und Knochen abzumagern. Die wenigsten sind zu Beginn wirklich übergewichtig, oft läßt die eigene Unzufriedenheit ein Gefühl des “zu dick seins” aus. Nicht nur die Medien, auch der Leistungswahn an sich vermittelt Jugendliche eigentlich ständig sie wären nicht „gut genug“.

Viele fühlen sich trotz toller Noten etc. weiterhin als die “Zweitbeste”. Mädchen und Frauen werden nicht deshalb magersüchtig, weil sie sich primär einen schönen Körper wünschen, sondern weil es für sie ein Weg zu sein scheint, in unserer Gesellschaft Anerkennung und Achtung zu bekommen.

Hungern ist ein lauter Hilfeschrei nach mehr Zuwendung, Beachtung und Geborgenheit, gleichzeitig aber auch ein Versuch, sich abzugrenzen, ein Widerstand, eine Rebellion. So wie bei der Anorexie Gefühle weggehungert werden, probieren BulimikerInnen (Menschen mit Ess-Brechsucht) ihren Gefühlen über selbst injiziertes Erbrechen Ausdruck zu verleihen.

Menschen mit Bulimie leiden oft an enormen Versagensängsten, haben das Gefühl, der Welt nicht gerecht zu sein. Erbrechen ist für sie eine Art Druckabbau, der einzige Weg, nicht gelebte Gefühle wie Angst, Wut und Trauer ans Tageslicht zu befördern.

Beide Krankheiten sind lebensgefährlich. Es ist ein süchtig machender Mechanismus, ein Teufelskreis aus Essen und Nichtessen. Ständiges Kalorienzählen regiert den Alltag, die Gedanken kreisen nur noch um Gewichtszu- und abnahme. Oft zieht eine Essstöhung auch Depressionen mit sich, Selbstmordgedanken werden sehr präsent. Die Selbstwahrnehmung verändert sich, wird verzerrt, entspricht zu keinem Teil der Wahrheit. Deshalb empfinden sich auch noch so untergewichtige Mädchen als zu dick.

In einer Gesellschaft, die allen Menschen die Möglichkeit bietet, sich selbst zu verwirklichen, durch freie, emanzipatorische Bildung und Arbeit, in der demokratisch geplant wird, gäbe es keinen Anreiz, irgendeiner Norm zu entsprechen. Nicht wir haben uns dem System anzupassen, das System hat sich uns anzupassen!

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