Wessen Staat? Nicht unser Staat!

Jan Rybak und Tilman M. Ruster

AktivistInnen in sozialen Bewegungen, streikende ArbeiterInnen, AntifaschistInnen, TierschützerInnen – sie alle und viele mehr sind regelmäßig mit staatlicher Repression konfrontiert. Während RechtsextremistInnen in der Hofburg tanzen (WKR-Ball), prügelt die Polizei auf AntifaschistInnen ein und führt willkürlich Verhaftungen durch. Da ist es verständlich, wenn manche den Staatsapparat als den eigentlichen Feind betrachten und ihn direkt angreifen wollen. Andererseits ist auch der Glaube an die „Neutralität“ des Staates und die Hoffnung, in seinem Rahmen grundsätzliche Veränderungen erreichen zu können, ein Trugschluss.

Doch was ist „der Staat“? Tatsächlich ist er kein selbständiges Konstrukt. Er ist ein „Staatsapparat“ im Dienst der herrschenden Klasse. Polizei, Militär, Gerichte, Gefängnisse, Ämter, Behörden und der Großteil der Medien sind Instrumente der herrschenden Klasse. Ihre Kernaufgabe ist die Aufrechterhaltung der „Ordnung“.

„Die bisherige, sich in Klassengegensätzen bewegende Gesellschaft hatte den Staat nötig, das heißt eine Organisation der jedesmaligen ausbeutenden Klasse zur Aufrechterhaltung ihrer äußeren Produktionsbedingungen, also namentlich zur gewaltsamen Niederhaltung der ausgebeuteten Klasse in den durch die bestehende Produktionsweise gegebnen Bedingungen der Unterdrückung (Sklaverei, Leibeigenschaft oder Hörigkeit, Lohnarbeit).“ Friedrich Engels (Anti-Dühring)

Nicht unsere „Ordnung“!

Staaten entstanden, um Besitz und Privilegien der herrschenden Klasse nach innen und außen durchzusetzen. So sehr sich Strukturen, Rechtsnormen, etc. auch veränderten, die Kernaufgabe bleibt bestehen, so lange die Existenzberechtigung (Verteidigung der Macht der Herrschenden) besteht. Was die „Ordnung“ der KapitalistInnen bedeutet, sehen wir täglich: Eine Milliarde Menschen sind weltweit unterernährt. In einem der reichsten Länder der Welt – Österreich – leben ca. eine Million an oder unter der Armutsgrenze. Wenn sie beginnen für ihre Interessen zu kämpfen, wird die kapitalistische „Ordnung“ schnell mit Gewalt verteidigt. PolizistInnen prügeln DemonstrantInnen oder schieben Flüchtlinge ab. Sie sind - auch aus Sicht der KapitalistInnen - Mittel zum Zweck. Sie machen sich mitschuldig, sind aber nicht die Ursache für die Unterdrückung. Denn die einzelnen prügelnden PolizistInnen verteidigen z.B. nicht ihre eigenen Privilegien – auch in Österreich zählen die PolizistInnen nicht zu den Superreichen. Sie spielen ihre Rolle bei der Aufrechterhaltung der „Ordnung“. Wer also gegen staatliche Gewalt vorgehen will, muss die gesellschaftlichen Grundlagen ändern - also dafür kämpfen, den Kapitalismus zu überwinden.

Macht um jeden Preis

Wenn die wichtigste Aufgabe des bürgerlichen Staates die Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung ist, gerät der Staat immer wieder in Konflikt mit Menschen. Eben jene, die gegen Missstände und Ungerechtigkeiten rebellieren.und nicht bereit sind, sich und alles andere Profiten unterzuordnen.

In wirtschaftlich und sozial stabilen Zeiten und Regionen hat die herrschende Klasse Spielraum, um den Forderungen einer Bewegung aus der Bevölkerung entgegenzukommen. Der Staat reagiert, kann (in Grenzen) MinisterInnen entlassen, ein Gesetz zurücknehmen oder erlassen, ein Bauprojekt stoppen... Ein solches Entgegenkommen ist für die Herrschenden oft die sicherere und v.a. billigere Lösung. Sie müssen abwiegen, ob ein Nachgeben oder hartes Durchgreifen aus ihrer Sicht zu „effizienteren“ Ergebnissen führt. Wenn z.B. eine Regierung auf einem umkämpften Mega-Bauprojekt wie Stuttgart 21 beharrt, könnte schließlich nicht mehr nur das Bauprojekt, sondern auch die Regierung selbst gefährdet werden. Gibt die Folge-Regierung noch immer nicht nach, könnte gar der ganze Staat und damit das kapitalistische System zum Angriffs-Ziel der Bewegung werden. Doch auch ein Nachgeben kann gefährlich sein, weil es das Selbstvertrauen der Massen stärkt.

Weil unterschiedliche Teile des Kapitals neben dem gemeinsamen Interesse Machterhalt durchaus unterschiedliche Interessen und Strategien haben, gibt es z.B. verschiedene bürgerliche Parteien und unterschiedliche Konzepte zum Umgang mit Bewegungen. Aktuell sehen wir das bei den unterschiedlichen Strategien zur Überwindung der Wirtschaftskrise. Die SPÖ fordert Deficit-Spending, ÖVP-Fekter will ein Nulldefizit. Im Kern ist die dahinterliegende Überlegung die gleiche, nämlich die Profite möglichst gut über die Krise zu retten.

Wenn nichts mehr geht, geht’s mit Gewalt

In bestimmten Situationen können Regierungen aber selbst starken oppositionellen Bewegungen nicht nachgeben. Ganz allgemein gilt das in Zeiten von Krisen, wie wirtschaftlichem Chaos, großen Naturkatastrophen oder auch Kriegen. Da haben die Herrschenden keine Spielräume für Zugeständnisse und müssen unverschleierter und brutaler als sonst ihre Interessen durchsetzen. Das bedeutet dann härteste Kürzungspakete (Griechenland, Spanien etc.), Notstandsverordnungen (USA), Kasernierung von Menschen (Japan) etc. In solchen Zeiten wird sehr deutlich, wessen Interessen die Regierung dient. Das letzte, was ein bürgerlicher Staat dann noch brauchen kann sind Menschen, die ermutigt durch die Erfahrung einer erfolgreichen Bewegung ihre gemeinsame Stärke erkennen. Es werden also nicht nur die Konzepte der Herrschenden mit voller Härte umgesetzt, sondern auch jeder Widerstand dagegen brutal angegriffen.

Die meisten Regierungen versuchen, gesetzliche Grundlagen für ihren Repressionsapparat zu schaffen. Als Begründungen dafür halten angebliche innere und äußere Bedrohungen her. Terrorismus, ein feindlicher Staat, eine „gefährliche Ideologie“ oder schlicht der „Verfall der Sitten“ sind beliebt. Die „Anti-Terrorgesetze“ in den USA, aber auch in Österreich (§ 278ff StGB) werden in der Praxis allerdings gegen GewerkschafterInnen und andere AktivistInnen verwendet. In ganz Europa wird gerade jetzt, im Angesicht der Wirtschaftskrise, das Streikrecht ausgehöhlt, in Spanien werden Streikende sogar mit dem Kriegsrecht bedroht.

Der Grad der Härte hängt auch davon ab, ob noch Vertrauen in „den Staat“ existiert. Ist die Glaubwürdigkeit soweit zerstört, dass gewöhnliches Schönreden oder Ablenken nicht mehr funktionieren, ist die einzige Zuflucht Repression. Also: Die Anwendung von Gewalt oder anderen Zwangsmitteln gegen die eigene Bevölkerung. Das bedeutet natürlich nicht immer, Panzer gegen Demonstrationen einzusetzen. Repression setzt auf allen Ebenen an und ist von der individuellen Lage eines Staates und der Weltlage insgesamt abhängig; eben davon, wie viel Angst der Staat vor seinen BürgerInnen hat.

Z.B. lässt Gaddafi die eigene Bevölkerung bombardieren, während in Ungarn „nur“ die Pressefreiheit abgeschafft wird, in den USA die staatliche Überwachung flächendeckend ausgeweitet wird oder in Österreich Demos regelmäßig verboten und gewaltsam aufgelöst werden. Alle staatlichen Organe können zur Repression eingesetzt werden: In Ungarn wird diskutiert, arbeitslosen Roma die Kinder durch das Jugendamt wegnehmen zu lassen. Manchmal überlässt der Staat die Repression auch Anderen: Durch aktives Wegschauen ermöglicht er Angriffe von FaschistInnen oder religiösen Milizen auf Demonstrationen und Streiks. Zuletzt gab es im Mai faschistische Ausschreitungen in Athen um einen Generalstreik zu stören. Am 1. Mai 09 griffen 200 Neo-Nazis unter den Augen der Polizei eine Gewerkschaftsdemo in Dortmund an.

Repression: Schuss nach hinten

Im Allgemeinen ist die bürgerliche Demokratie in entwickelten kapitalistischen Staaten die beste, weil billigste und effizienteste Form. Sie gibt die Möglichkeit, die eigene Herrschaft „demokratisch“ zu „legitimieren“, flexibler zu sein und gleichzeitig die Herrschaft effizient auszuüben.

„Die Allmacht des ‚Reichtums‘ ist in der demokratischen Republik deshalb sicherer weil sie nicht von einzelnen Mängeln des politischen Mechanismus, von einer schlechten politischen Hülle des Kapitalismus abhängig ist. Die demokratische Republik ist die denkbar beste Hülle des Kapitalismus, und daher begründet das Kapital, nachdem es von dieser besten Hülle Besitz ergriffen hat, seine Macht derart zuverlässig, derart sicher, daß kein Wechsel, weder der Personen noch der Institutionen noch der Parteien der bürgerlich-demokratischen Republik diese Macht erschüttern kann.“ Lenin (Staat und Revolution)

Aber wenn es aus Sicht der Herrschenden erforderlich ist, können auch sämtliche demokratischen Rechte abgeschafft und eine Diktatur errichtet werden. Der Kern von kapitalistischer Diktatur oder kapitalistischer bürgerlicher Demokratie ist der gleiche, nämlich die Sicherung der kapitalistischen Besitz- und Produktionsbedingungen – die Form ist allerdings unterschiedlich.

Blutige Repression kann die Macht der herrschenden Klasse gegen Widerstand vorübergehend retten. Die Proteste im Iran 2009 konnten vorerst niedergeschlagen werden. Solange aber die Ursache für den Unmut der Menschen nicht beseitigt wird, bleibt das System und sein Staat in Gefahr. Manchmal gelingt es der Bourgeoisie eines Landes einen neuen Staat mit stabilerer demokratischer Fassade zu etablieren, die eigentlichen Probleme der Menschen kann aber kein bürgerlicher Staat lösen. Das zeigt sich z.B. aktuell in Tunesien.

Staatliche Repression ist auch gefährlich für die herrschende Klasse, sie kann Bewegungen anfeuern. Nach den Angriffen der Polizei auf einen Schulstreik gegen Stuttgart 21 verdreifachte sich die TeilnehmerInnenzahl bei den folgenden Demos. In vielen arabischen Ländern haben die Revolutionen als Demokratiebewegungen begonnen. Auch in Österreich hat der Skandalprozess gegen die TierschützerInnen das Vertrauen in den bürgerlichen „Rechtsstaat“ schwer erschüttert.

Den Staat für uns nutzen?

Wenn es auch für die herrschende Klasse günstiger ist, auf bürgerliche Demokratie zu setzen, warum diesen Staat dann nicht nutzen? Es ist sinnvoll, die Spielräume zu nutzen, die es gibt – sich legal organisieren können, seine Rechte gegen Unternehmen einklagen etc. Aber es ist eine Illusion, zu glauben der Staat wäre neutral. Denn auch bei allen existierenden Spielräumen bleibt dieser Staat das Werkzeug der herrschenden Klasse, um ihre Interessen gegen die ArbeiterInnenklasse durchzusetzen.

Sämtliche demokratischen und sozialen Rechte wurden uns nicht geschenkt, sondern oft unter großen Opfern erkämpft. Sozialgesetzgebung, die (formale) Gleichstellung von Männern und Frauen, Kollektivverträge und vieles mehr sind Errungenschaften von Bewegungen. Sie haben sich auf Grund der gesellschaftlichen Struktur eben in staatlicher Form – also in Form von Gesetzen, etc. – konstituiert. Das heißt aber nicht, dass der Staat soziale und demokratische Rechte garantieren würde. Zentral ist das Kräfteverhältnis zwischen ArbeiterInnenbewegung und KapitalistInnen. Ist es zu Gunsten der Herrschenden, können Errungenschaften der Vergangenheit rasch rückgängig gemacht werden. So wurde im Juni 2008 vom EU-Parlament die wöchentliche Höchstarbeitszeit von 48 auf 65 Stunden erhöht.

Repression nach innen – Aggression nach außen

Zwischen den KapitalistInnen der unterschiedlichen Länder, und auch innerhalb eines Landes, herrscht Konkurrenz. Wenn Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist, so ist es ebenfalls Aufgabe des Staates, die Profitinteressen der Herrschenden nach außen durchzusetzen. Auch mit Gewalt. Der ehemalige deutsche Bundespräsident Köhler erklärte die deutsche Besetzung Afghanistans: „Meine Einschätzung ist aber, … dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege [sicherzustellen].“ In Folge dieses Anflugs von Ehrlichkeit musste er zurücktreten.

In diesem Zusammenhang stehen die aktuellen Entwicklungen in der EU. Der Glaube, die nationalstaatlichen Grenzen durch die EU überwinden zu können, stellt sich zunehmend als Illusion heraus. In Zeiten des Wirtschaftsaufschwungs ließen sich die Interessen der verschiedenen europäischen KapitalistInnen noch besser vereinen. Aktuell sehen wir, dass mit der Wirtschaftskrise der „Kuchen“ kleiner wird und sich die KapitalistInnen auf die „eigenen“ Nationalstaaten zurückziehen. Der Ausschluss Griechenlands und Portugals aus dem Euro-Raum wird diskutiert und Merkel denkt über eine „Kernunion“ der stärksten Länder nach. Auch im unmenschlichen Umgang mit Flüchtlingen aus Nordafrika wird klar – wenn es den „nationalen“ Interessen dient (= den Interessen der jeweils Herrschenden), wird EU-Regelwerk schnell über Bord geworfen.

Gegen Staat und Kapital

Der Staat ist ein Mittel zum Zweck. Die Überwindung des Kapitalismus setzt darum nicht die Zerstörung des Staates voraus, sondern hat ihn zur Folge. In einer sozialistischen Gesellschaft werden die entscheidenden Bereiche der Wirtschaft vergesellschaftet sein und von den Menschen gemeinsam und demokratisch verwaltet werden. Der gesellschaftliche Reichtum wird nicht denen zu Gute kommen, die über Fabriken, Land, etc. verfügen, sondern der gesamten Gesellschaft. Nur eine Überwindung des Kapitalismus und seines Staates durch eine sozialistische Gesellschaft kann aus unserer Sicht auf Dauer Frieden und sozialen Wohlstand für alle bringen. In so einer Gesellschaft wird der Staat seine Existenzberechtigung verlieren.

„Das Eingreifen einer Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse wird auf einem Gebiete nach dem andern überflüssig und schläft dann von selbst ein. An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen Der Staat wird nicht 'abgeschafft', ER STIRBT AB.“ Friedrich Engels (Anti-Dühring)

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