Was sagen SozialistInnen zum „Fall Natascha Kampusch“?

Der „Fall Kampusch“ beschäftigt Öffentlichkeit, Medien und Politik. Die Bestürzung über das lange Martyrium der jungen Frau ist groß. Ebenso die Bewunderung ihrer Stärke und Tapferkeit. Millionen Menschen – nicht nur in Österreich, sondern international – verfolgen mit großteils echter Anteilnahme das Schicksal von Frau Kampusch. Das ist auch ein Beispiel dafür, dass die Gesellschaft keineswegs vollständig „entmenschlicht“ oder „entsolidarisiert“ ist. Welche Überlegungen haben wir als SozialistInnen zu diesem Thema beizutragen?

Die Medien – Hauptsache, die Kohle stimmt

Vom ersten Tag ihrer Entführung haben die Medien versucht, das Leid der Opfer zu Geld zu machen. Versteckt hinter „Mitleid“ und „dem Bedürfnis der Öffentlichkeit nach Information“ wird versucht, durch mehr oder weniger schlüpfrige Details Auflage und SeherInnenzahlen zu steigern. Während MedienvertreterInnen nun erklären, man müsse Frau Kampusch Ruhe gönnen, organisieren sie gleichzeitig einen Medien-Hype, der ihr genau diese Ruhe nimmt. Ein weiterer, von der herrschenden Politik durchaus erwünschter Effekt ist, dass anderen Themen in der Öffentlichkeit weniger Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Zwar ist es Frau Kampusch offensichtlich gelungen, sich die ärgsten Paparazzi vom Leib zu halten, aber sie und ihre Familie werden wohl noch länger von den Medien belagert werden. Eine Rückkehr zu einem normalen Leben (soweit das nach diesen Erfahrungen überhaupt möglich ist) wird dadurch massiv erschwert. Die Tatsache, dass Natascha Kampusch nicht aus einer wohlhabenden Familie kommt, erleichtert den Medien den Zugriff massiv. Eine Millionärstochter wäre in einem vergleichbaren Fall finanziell abgesichert. Sie hätte Geld, um sich ein neues Leben mit einer Wohnung und sozialer Absicherung zu finanzieren. Aber wer wird ihre Ausbildung zahlen? Ihre Wohnung? Ihre lange psychologische Betreuung? Wird die öffentliche Hand all diese Kosten überneh­men, wenn die erste Welle von Symphathie und Interesse (und damit öffentlicher Druck) abgeebbt sein wird? Wie soll sie – die erst eine Ausbildung nachholen muss und aufgrund psychischer Probleme wohl noch lange nur eingeschränkt arbeitsfähig sein wird – jemals die notwendigen Pensions­zeiten zusammen­bekommen, um im Alter eine menschenwürdige Pension zu erhalten? Ist das Beispiel übertrieben? Nein, denn dieser Fall zeigt in sehr krasser Form, dass z.B. die Pensionsreform für Men­schen, die aus verschie­denen Gründen nicht 100% „funktionieren“, katastrophale Folgen hat. Es sol­lte selbstverständ­lich sein, dass sich die junge Frau um all diese Fragen keine Sorgen machen muss.

Es ist Natascha Kampusch hoch anzurechnen, dass sie sich in dieser Situation Gedanken über die Misere an­der­er Menschen (entführter Frauen in Mexiko, armer Menschen in Afrika) macht. Doch es ist zu be­fürc­h­ten, dass finanzielle Proble­me auf sie und ihre Familie zukommen werden und dass die Medien versuc­h­en werden, diese zu nutzen, um mit voyeuristischen Berichten ihre Auflagen gewinnbringend zu steigern.

Die Politik – Missbrauch für „Law-and-Order“

Die etablierten Parteien schrecken nicht davor zurück, ihr Schicksal zu missbrauchen, um mit „Law-and-Order“-Politik hausieren zu gehen. Am schärfsten gehen BZÖ und FPÖ vor, im Kampf nach Stimmen „Lebenslänglich für Kinderschänder“ zu schreien. Aber auch die anderen Parteien wollen Verschärfungen im Strafrecht diskutieren. Tatsache ist allerdings: ein längeres Strafmaß bei langer Entführung hätte das Martyrium von Natascha Kampusch um keine Sekunde verkürzt. Dass härtere Strafen keine präventive Wirkung haben, zeigt die Tatsache, dass in jenen Staaten, wo die Todesstrafe existiert, die Kriminalität nicht geringer, sondern die Verbrechen tendenziell sogar brutaler sind. Der Entführer nahm sich das Leben. Ihn hätte die Drohung einer längeren Gefängnisstrafe nicht „abgeschreckt“.

Die etablierten PolitikerInnen versuchen immer wieder, verschiedene Ereignisse zu missbrauchen, um schärfere Kontrolle und Überwachung auch gesetzlich durchzusetzen. Sie werden Natascha Kampusch missbrauchen, um z.B. ein stärkeres Durchgriffsrecht für die Polizei (v.a. bei Hausdurchsuchungen) durchzusetzen. Es ist zu bezweifeln, dass ein schärferes Durchgriffsrecht oder „mehr Polizei“ zu einer Befreiung von Natascha Kampusch geführt hätte. In unserer Gesellschaft wird ein solches Durchgriffsrecht, das in vielen Fällen durchaus existiert, meist nicht genutzt, um hinter die Fassade der bürgerlichen Kleinfamilie zu schauen. Wenn der Rasen gemäht, das Haus von außen adrett ist und der Mann geregelt seiner Arbeit nachgeht, dann muss ja wohl alles in Ordnung sein.

Das Schicksal von Natascha Kampusch ist ein Einzel- und Sonderfall. Die Besonderheit liegt nicht nur in der Länge der Entführung, sondern auch in der Tatsache, dass der Täter ein Unbekannter war. Der überwiegende Teil aller Übergriffe gegenüber Frauen und Mädchen (ob in Form psychischer, physischer und/oder sexueller Gewalt) wird durch Täter verübt, die aus dem Verwandten- bzw. Bekanntenkreis stammen. Das Schicksal von Natascha Kampusch kann von Medien und Politik auch deshalb ausgeschlachtet werden, weil das Bild der heilen Familie dadurch nicht gefährdet wird. Ähnliche Fälle, wo Kinder von Angehörigen jahrelang schwer missbraucht und eingesperrt wurden, haben nie das selbe Ausmaß an Medienecho erfahren.

Es ist keine Banalisierung der Leiden von Frau Kampusch, wenn wir darauf hinweisen, dass hinter verschlossenen Türen hunderttausende Frauen und Kinder misshandelt werden. Obwohl das bekannt ist, wird darüber weitgehend hinweggesehen. Für viele gilt die „g’sunde Watschn“, das zeitweilige Verprügeln und selbst die Vergewaltigung der „eigenen“ Frau immer noch maximal als Kavaliersdelikt. Warum reagiert niemand darauf, wenn ein erwachsener Mann mit einem offensichtlich eingeschüchterten Mädchen, das er offensichtlich dominiert, auftaucht? Wohl auch deshalb, weil solche Beziehungen eines dominierenden Mann es und einer unterdrückten Frau als „normal“ angesehen werden.

Die Familie dient in unserer Gesellschaft dazu, Menschen für den profitbringenden Produktionsprozess bereitzustellen. Sie sollen „erzeugt“ (Frauen bekommen Kinder), „gewartet“ (durch Nahrung, Kleidung und ein gewisses Maß an Bildung arbeitsfähig machen und erhalten) und „abgerichtet“ werden (sie so zu erziehen, dass sie im Betrieb nicht aufmucken, sich als Rädchen einpassen und funktionieren). Solange die Familie diese Funktion erfüllt wird, kümmert sich der Staat nicht darum, wie es innen aussieht. Aufgrund einiger spektakulärer Fälle und des Drucks v.a. aus der Frauenbewegung sind diese Themen zwar in den letzten Jahren an die Öffentlichkeit gebracht worden. Doch die Hilfe für die Opfer sexueller und häuslicher Gewalt ist nach wie vor gering. Tatsächlich wird von den Herrschenden in diesen Bereichen sogar der Rotstift angesetzt. Gewalt gegen Frauen und Mädchen – physische, psychische und sexuelle Gewalt – ist weit verbreitet. Von den Herrschenden und ihrer politischen Vertretung ist außer Sonntagsreden nichts zu erwarten. Sie profitieren letztlich von der Unterdrückung von Frauen. Daher kommt den Organisationen der ArbeiterInnenbewegung die Aufgabe zu, gemeinsam mit linken Frauenorganisationen, die Gewalt gegen Frauen und Mädchen in der Familie zu thematisieren und für ausreichende Mittel im Opferschutz zu kämpfen: für Frauenhäuser, Beratungsstellen, aber auch für Jobs von denen Frauen unabhängig von einem Partner leben können um es sich finanziell leisten zu  können sich von einem gewalttätigen Partner zu trennen. Gerade auch in den eigenen Reihen darf es hier kein Wegschauen geben.

Wir argumentieren nicht für eine stärkere Überwachung – im Gegenteil würde eine solche an den Problemen nichts ändern, sondern eingesetzt werden, um gegen KitikerInnen der herrschenden Politik eingesetzt zu werden. Der „Patriot Act“ in den USA, erlassen in Folge des 11. September, wird z.B. gegen streikende LehrerInnen eingesetzt. Wir argumentieren dafür, die Gesellschaft in der wir leben und die Rolle der Familie in unserer Gesellschaft in Frage zu stellen. Welche Gesellschaft bringt Menschen hervor, die vor allem als Rädchen im Produktionsprozess gesehen werden? Die Tat des Entführers ist nicht zu rechtfertigen, doch man muss die Frage stellen: Was hat ihn zu einer solchen Persönlichkeit gemacht, die offensichtlich verzweifelt versucht hat, „normal“ zu wirken und jemanden zu „besitzen“, über den er Macht ausüben konnte? Sich auf einen medizinischen Standpunkt zurückzuziehen oder die Verantwortung der Mutter zuzuschieben greift viel zu kurz. „Nach oben buckeln, nach unten treten“ ist ein wesentliches Prinzip in der kapitalistischen Gesellschaft. Wenn Menschen sich nicht frei entfalten können, ständig unter Druck von oben (am Arbeitsplatz, in der Schule etc.) stehen, wird versucht, diesen Druck nach unten weiter zu geben. Und das findet meist in der Familie statt.

Trotzdem es ein Sonderfall ist, denken wir, dass das Schicksal von Natascha Kampusch in extrem grausamer Form das Schicksal von Millionen Menschen auf der Welt widerspiegelt. Das Profitsystem kann Menschen zu emotionalen Krüppeln machen und in manchen Fällen derart weit führen. Millionen Frauen und Kindern sind hinter der Fassade der „glücklichen Familie“ mit täglicher Gewalt konfrontiert. Als SozialistInnen treten wir für eine Gesellschaft ein, wo Menschen sich frei und ohne Druck entfalten können, wo das Gemeinsame und die freie Entwicklung jedes/r Einzelnen vor dem Konkurrenzdenken steht. Natürlich ist selbst in einer Gesellschaft, in der die Bedürfnisse von Menschen und nicht Profite im Mittelpunkt stehen, nicht ausgesch­lossen, dass es Menschen mit emotionalen und psychischen Störungen gibt. Aber es wird keine Grundlage für jene Millionen „familiärer Gefängnisse“ geben, in denen heute so viele Menschen misshandelt werden.

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