Was heißt Trotzkismus heute?

“Trotzkistische” Parteien setzten in Frankreich zum Höhenflug an - formiert sich eine neue revolutionäre Linke in Europa?
Franz Breier jun. und John Evers

Die erste Runde der französischen Präsidentschaftswahlen war ein politisches Erdbeben; und das nicht nur wegen dem Abschneiden Le Pens. Über drei Millionen Menschen stimmten für "trotzkistische" KandidatInnen, links von KP und SP. Trotzkismus ist damit - scheinbar plötzlich - wieder in Diskussion. Wer war Leo Trotzki und was bedeutet Trotzkismus angesichts der Umwälzungen in Frankreich und Europa?

Leo Trotzki war ein sozialistischer Revolutionär im letzten Jahrhundert (1879-1940). Er arbeitete eng mit Lenin zusammen und führte unter anderem den Aufstand im Oktober 1917 - die russische Revolution. Die Namensgebung "Trotzkismus" erfolgte im Rahmen der Auseinandersetzung mit der sowjetischen Bürokratie - mit Stalin und dem Stalinismus. Trotzki war Gründer der marxistischen Linksopposition gegen die Stalinisierung der UdSSR. Mit dem Vorwurf des "Trotzkismus" wurden in weiterer Folge alle Gegner Stalins gebrandmarkt und verfolgt. Trotzki selbst wurde 1929 ins Exil verbannt und 1940 von einem stalinistischen Agenten ermordet. Trotzkis Auseinandersetzung mit Stalin und dem Stalinismus war kein persönlicher Streit, sondern ein Kampf um eine sozialistische Alternative zum Stalinismus. Eine der bedeutenden historischen Prognosen des Trotzkismus war die Unausweichlichkeit des Sturzes des Stalinismus. Zwei Alternativen sah Trotzkis für die UdSSR: Politische Umwälzung durch eine Rätebewegung der ArbeiterInnenklasse unter Beibehaltung und Ausbau der planwirtschaftlichen Ordnung, oder die Wiedereinführung des Kapitalismus. Trotzki trat bis zu seinem Tod vehement für die Wiedererrichtung der Sowjetdemokratie in der UdSSR und Sozialismus weltweit ein. Leo Trotzkis Werk verkörperte die Erfahrungen der Bolschewiki aus den Revolutionen von 1905 und 1917, dem Bürgerkrieg und den Niederlagen des europäischen Proletariats in der Zwischenkriegszeit. Trotzkis Name ist bis heute ein Synonym für ein kompromissloses Programm gegen Kapitalismus und Stalinismus, für ArbeiterInnen-Demokratie und Planwirtschaft.

Warum ist der Trotzkismus auch heute aktuell?

Trotzki meinte, die wichtigste historische Erfahrung sei, dass die ArbeiterInnenbewegung eine eigene, unabhängige, revolutionäre Partei braucht. Diese Partei müsse auf einer marxistischen Grundlage stehen und international aufgebaut werden. Die heutige Situation, das generelle Fehlen von Massenorganisationen der ArbeiterInnen, unterstreichen diese Aufgabe besonders deutlich.
wie kam es zur Krise der ARbeiterinnenbwegung?
In der sozialen Krise des Kapitalismus und der politischen Krise der ArbeiterInnenbewegung der 80er und 90er Jahre brachen die Führungen der sozialdemokratischen Parteien mit ihrer Tradition, durch Reformen den Kapitalismus verbessern zu wollen. Sie begannen - in vielen Staaten federführend - mit der Umsetzung neoliberaler Politik. In Österreich läutete die SPÖ die Zerschlagung der Verstaatlichten ein. Dem Zusammenbruch des Stalinismus 1989 folgte eine weltweite bürgerliche Offensive in den 90er Jahren; diesem ideologischen Druck konnte auch die Sozialdemokratie mangels innerparteilicher Massenopposition nicht mehr standhalten.

Verbürgerlichung der Sozialdemokratie

Eine wesentliche Rolle spielte dabei der lange Prozess der Integration der Führungen der sozialdemokratischen Parteien in das politische Establishment. Dieser Prozess - der fast ein Jahrhundert andauerte - fand seinen Abschluss in der Verbürgerlichung der Sozialdemokratischen Parteien.
Heute etwa ist die SPÖ eine Kraft, die für Maastricht und Euro eintrat; das waren und sind zentrale Projekte des europäischen Kapitals und gleichzeitig Kernstück des "sozialdemokratischen Europas" der 90er. Eine ähnliche Entwicklung gilt auch für die meisten ex-stalinistischen Parteien, die in Osteuropa den Sozialismus verwirklicht gesehen hatten. Vor allem die französische und italienische KP wurden in den Strudel des Zusammenbruchs des Stalinismus gezogen. Die italienische KP erlebte eine Serie von (Ab)Spaltungen, der größte Teil verbürgerlichte in raschem Tempo und steht heute am rechten Rand der europäischen Sozialdemokratie.

“Verfall” der alten linken Aufstieg der neuen Rechten

Aber auch die ehemalige Staatspartei der DDR, die SED, machte nach ihrer Umwandlung zur PDS eine dramatische Wende hin zum Kapitalismus. Wurde die PDS in Deutschland noch vor Jahren als "kommunistische Bedrohung" bezeichnet, regiert sie heute mit der SPD in neoliberaler Weise Berlin. Der Protest von drei PDS-Abgeordneten während der Rede von US-Präsident George Bush wurde von der PDS-Führung scharf verurteilt. Der Abstieg von traditionellen Organisationen - wie der Sozialdemokratie - als ArbeiterInnenpartei, wurde in vielen Staaten durch den Aufstieg des Rechtspopulismus begleitet.
Österreich nahm hier lange mit der FPÖ und dem fast vollständigen Fehlen von Klassenkämpfen eine Vorreiterrolle ein. Um was es deshalb - auch in Österreich - für TrotzkistInnen heute geht, ist: Der Aufbau einer unabhängigen Klassenalternative.

Unser Bezugspunkt: Die ArbeiterInnenklasse

Der Trotzkismus zeichnet sich nicht nur durch seine scharfe Opposition zum Establishment aus. Er hält die Orientierung auf die ArbeiterInnenklasse als die entscheidende Kraft, die Gesellschaft zu verändern, aufrecht. Während viele andere linke Strömungen der österreichischen ArbeiterInnenklasse die Streik- und Widerstandsfähigkeit einfach abgesprochen haben, hat die SLP immer die Möglichkeit und Notwendigkeit von Klassenkämpfen betont.
Die Diskussion um den Postbus-Streik zeigt, wie aktuell diese Fragen sind. Ein praktisches Grundprinzip des "Trotzkismus" ist der Anspruch, die jeweils größtmögliche Einheit der ArbeiterInnenschaft anlässlich einer konkreten Auseinandersetzung zu erreichen. Die Erringung jeder, auch noch so kleinen Verbesserung, ist wichtig und kann zur Überzeugung für ein sozialistisches Programm, welches die Grundprobleme der Menschheit löst, beitragen. Trotzkismus bedeutete auch immer die Verbindung von Theorie und Praxis: Der Trotzkismus hat die Notwendigkeit einer revolutionären Masseninternationale auch nicht aufgegeben, als die Kräfte des Marxismus weltweit auf eine Handvoll Personen reduziert war.

Gründung und Aufgabe der Vierten Internationale

Zu "Mitternacht" des Jahrhunderts, 1938, wurde eine neue - die Vierte - Internationale proklamiert. In ihrem Programm erklärte sie die Krise der ArbeiterInnenklasse und der Menschheit, aus der Krise ihrer Führung: Sozialdemokratie und Stalinismus haben beim Kampf gegen Faschismus und Krieg versagt und so die größte Katastrophe der Menschheitsgeschichte politisch zu verantworten. Trotzki war der Überzeugung, dass die ökonomischen und sozialen Bedingungen für den Sozialismus schon längst vorhanden sind. Doch wenn der Kapitalismus nicht durch eine Revolution gestürzt wird, sind Krieg, Krise und Elend weiter prolongiert. Auch diese Fragen stellen sich heute wieder mit besonderer Schärfe.

Am Beispiel Frankreichs: Notwendige Schritte

Der Umbruch im politischen Sytem Frankreichs ist dramatisch: Die regierende "Sozialistische Partei" (SPF) erhielt eine gewaltige Abfuhr, die sich wohl auch bei den kommenden Parlamentswahlen wiederholen wird. Die SPF schrumpfte von 7,1 auf 4,6 Millionen Stimmen im Vergleich zu 1995. Die mit ihr koalierende "Kommunistische Partei" erlebte einen noch größeren Schock und fiel unter die Millionengrenze. Das bedeutet den Zusammenbruch der im Jahre 1945 noch stärksten Partei Frankreichs (damals 25 Prozent). Aber auch Chirac fuhr im ersten Wahlgang ein historisch schlechtes Ergebnis ein. Das Resultat der ersten Runde steht für die Polarisierung des Landes. Nicht nur Le Pen, sondern auch die aus der Tradition des Trotzkismus kommenden Organisationen “Lutte Ouvriere” (LO, Arbeiterkampf) und “LCR” (Revolutionär Kommunistische Liga) haben von dieser Entwicklung profitiert. In Scharen sind die WählerInnen von der KP zur LO gegangen, hunderttausende Jugendliche wandten sich zur LCR. Die Zeit für eine neue Massenkraft wäre nicht nur in Frankreich reif.

Es braucht eine neue ArbeiterInnenpartei!

Das Komitee für eine ArbeiterInneninternationale (und damit die SLP in Österreich) unterstützt - als internationale Partei mit revolutionärem Programm und Aufbau - jeden Schritt in diese Richtung. Entscheidend wären für eine solche neue Massenorganisation Grundsätze wie der Kampf gegen jedweden Sozialabbau und Rassismus, Demokratie und das Recht auf föderale Beteiligung. Wir sind darüber hinaus davon überzeugt, dass eine solche Organisation nur durch das Führen von konkreten politischen Kämpfen der ArbeiterInnenklasse aufgebaut werden kann.
Leider scheinen die führenden Organisationen des französischen "Trotzkismus" zu solchen mutigen Schritten nicht bereit. Die LO präsentiert sich eher wie eine Polit-Loge als eine offene Partei. Sie spricht kaum Jugendliche an, ihr Programm trennt die tagtäglichen Aufgaben von der Frage einer sozialistischen Gesellschaftsveränderung. Sie macht es der zweiten Organisation - der LCR - die tendenziell "weicher" und uneinheitlicher auftritt, leicht, von Einheit sprechen zu können und die LO als Sektierer hinzustellen. Le Pen kann und wird aber durch nichts anderes als neue starke Massenorganisationen von ArbeiterInnen und Jugendlichen gestoppt werden.
Chirac, Jospin und die KP stehen für Neoliberalismus. Le Pen profilierte sich demgegenüber als Kämpfer gegen die "politische Klasse" und die Globalisierung. Es wäre heute die Aufgabe von LO und LCR, dem gemeinsam eine neue sozialistische Alternative entgegenzustellen und gleichzeitig Le Pens Partei durch eine Massenkampagne zu zerschlagen.

Internationalismus und globale Protestbewegung

Der Internationalismus ist ein unverzichtbarer Grundsatz jeder sozialistischen Politik. Jeder Ansatz, die Probleme im nationalen Rahmen lösen zu wollen, führt zur Aufgabe von ArbeitnehmerInnen-Interessen. Dem hochorganisierten Kapital und seinen Drohungen der Standortverlagerung und des Kapitalabzugs kann nur international begegnet werden.

Internationalismus statt Schrebergarten-Mentalität

Die Spaltung entlang ethnischer und religiöser Linien muss mit der größtmöglichen Einheit beantwortet werden. Der Kampf um den Internationalismus war schon immer einer der historischen Knackpunkte des Trotzkismus: Mitte der 20er Jahre erklärte der Stalinismus, der Aufbau des "Sozialismus in einem Lande" sei möglich. Trotzki hielt demgegenüber am Konzept von internationalem Widerstand und einer internationalen Revolution fest. Der Zusammenbruch des Stalinismus und die "Globalisierung" haben diese Fragen teilweise neu gestellt.
Das Widerstand international sein muss, stellt defacto keine politische Strömung mehr offen in Frage. Doch andere "klassische" ideologische Trennlinien sind auch in der globalisierten Protestbewegung präsent: In wie weit kann der Kapitalismus verändert oder muss er gestürzt werden? Von manchen Kräften werden auch die "nationalen politischen Handlungsspielräume" gegen die Konzerne betont, die man zurückgewinnen und nutzen müsse. Doch das ist ein rückwärts gewandter und falscher Ansatz; sind es doch z.B. die nationalen Regierung Europas, die internationale Verträge wie Maastricht und Schengen, gegen ArbeiterInnen und Jugendliche schlossen.

bündisse ja, aber mit wem?

Eine ebenso entscheidende Frage ist, welche Kräfte antikapitalistische Bündnisse ein und ausschließen. Die KPÖ etwa meldet den Anspruch an, "eine linke Synthese" aus "alle(n) Strömungen ... links von Sozialdemokratie und Grünen" zu entwickeln. In der Praxis ist das auch eine Orientierung der Ausgrenzung: Das - versuchte - Bündnis mit katholischen Gruppen und dem Innsbrucker ÖVP-Bürgermeister zur globalisierungskritischen Bewegung, bedeutet die Abgrenzung gegenüber den radikalen, angeblich "gewaltbereiten" Teilen der Bewegung z.B. in den Vorbereitungen zu den Protesten gegen das WEF im September in Salzburg. Der Trotzkismus steht in der Tradition des Marx-Ausspruchs: "Der Arbeiter hat kein Vaterland". So wie Leo Trotzki während des 1. Weltkriegs eine internationale Antikriegsbewegung aufbaute, wollen wir heute eine radikale, internationale, antikapitalistische Bewegung aufbauen.

Das Ringen um ein klares Programm

In unserem - trotzkistischen - Selbstverständnis ist die Zusammenarbeit mit anderen (auch nicht-sozialistischen) Kräften mit einer Auseinandersetzung über Programm, Strategie und Taktik innerhalb der Bewegung, zu verbinden. Das ist das Gegenteil von kleinlichem "Haarspalten". Es ist ein sorgfältiger Umgang mit den Ideen Anderer, sowie den eignen. Das Ringen um eine klare Linie, um das klare Verständnis der Situation und Aufgaben begleitet den Marxismus seit seinem Entstehen. Seine GegnerInnen haben immer versucht, dieses Ringen als "Dogmatismus" lächerlich zu machen.

Theorie als Anleitung zur Praxis

Jede der bisherigen Internationalen umfasste ein Spektrum verschiedener Strömungen und - teilweise heftiger - Auseinandersetzungen zwischen diesen. Die SLP und das Komitee für eine ArbeiterInneniinternationale ist verwurzelt im Verständnis des Marxismus. Das bedeutet einen extrem hohen Stellenwert von unseren Perspektiven und Programm als Anleitung für unser praktisches politisches Handeln. In unseren Reihen finden deshalb ständig Debatten auf allen Ebenen statt, jedes Mitglied hat das Recht und die Pflicht, sich hier einzubringen und an der Erarbeitung und Umsetzung unserer sozialistischen Politik mitzuwirken.

Trotzkis Vermächtnis

"Mein Glaube an die kommunistische Zukunft der Menschheit hat an Glut nichts eingebüßt, - in Wahrheit ist er heute zuversichtlicher als in den Tagen meiner Jugend (...) Das Leben ist schön. Mögen es die kommenden Generationen von allem Übel befreien und es in vollem Maße genießen" (Leo Trotzki, Testament, 27.2.1940).
Nicht ein blinder Glauben, sondern die Überzeugung an die Möglichkeit einer sozialistischen Welt war der Motor für das Handeln und Denken von Revolutionären wie Leo Trotzki. Darin besteht auch Sinn und Zweck der Sozialistischen LinksPartei und des Komitees für eine ArbeiterInneninternationale. Unsere Mitglieder haben sich dem Kampf für eine "kommunistische Zukunft" im Sinne Leo Trotzkis verschrieben. Dafür wollen wir auch Dich/Sie gewinnen.

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