Türkei: Die kommende Krise

Nach der Niederlage in Istanbul droht auch Erdogans wirtschaftliches Kartenhaus zusammenzubrechen.
Sosyalist Alternatif, türkische Schwesterorganisation der SLP

Finanz- und Schatzminister Berat Albayrak (der nebenbei Erdogans Schwiegersohn ist) meinte vor dem Sommer, er sehe „Licht am Ende des Tunnels“ für die türkische Wirtschaft. Doch dieses Licht kann nur das eines entgegenkommenden Zuges sein.

Die wirtschaftliche Lage ist seit langem instabil. Im August 2018 reichte ein Tweet von Trump, um eine große Währungskrise im Land auszulösen. Auslöser war der Streit über den in der Türkei inhaftierten amerikanischen Pastor Brunson und seine Freilassung. Schlagartig verlor die türkische Lira gegenüber dem US-Dollar 29% an Wert. Unter den Kapitalist*innen und ihrer politischen Vertretung machte sich Panik breit. Die türkische Zentralbank musste den Zinssatz massiv um 6 Prozent erhöhen, zum Missfallen Erdogans. Auch der Pastor wurde freigelassen. Kurzfristig trat Ruhe ein. Dennoch: Das war nur ein Vorgeschmack dessen, was passieren würde, wenn die erwartete Krise eintritt.

Die wirtschaftliche Depression trifft die Arbeiter*innenklasse bereits jetzt schon hart, besonders in Form der Teuerung.  Die Jahresinflation liegt bei 20%, (2017: 8-9%). Bei Lebensmitteln betrug sie im April sogar 32%. Nach Angaben des Gewerkschaftsverbands Türk-İş liegt die Armutsgrenze einer vierköpfigen Familie bei einem Monatseinkommen von 6.863 TL. Der Mindestlohn dagegen liegt bei nur 2.020 Lira. 57% der Beschäftigten müssen über 48 Stunden pro Woche arbeiten, um über die Runden zu kommen. Die meisten sind deswegen auch auf Konsumkredite angewiesen. Die Summe der Kreditschulden der Individuen (ohne die Kredite für Wohnungs- oder Fahrzeugdarlehen) liegt nun bei 350 Milliarden TL. Schon jetzt können mehr als zwei Millionen Menschen ihre Konsumkredite nicht zurückzahlen.

Auch die Arbeitslosigkeit steigt. Laut dem Institut für Statistik (TÜIK) lag die Arbeitslosenquote für März 2019 bei 14,1% (ein Plus von mehr als einer Million Menschen). Bei der Jugend liegt sie über 25%. Auch das Wirtschaftswachstum, das für die AKP immer ein Propagandainstrument war, ist zusammengebrochen: Von +7,4% 2017 auf nur +2,5% 2018. Alle Indikatoren zeigen weiteres Schrumpfen für 2019. Der IWF prognostiziert für 2019 gar ein Minus von 2,6%.

Die Krise hat bereits politische Folgen für Erdogan: Bei den Kommunalwahlen hat das AKP/MHP-Bündnis die wichtigsten Metropolen einschließlich Istanbul verloren. 16 der 82 Millionen Einwohner*innen der Türkei leben in Istanbul – kein Wunder, dass die AKP, welche die Stadt 25 Jahre regiert hatte, diese Niederlage zunächst nicht akzeptieren wollte und das Ergebnis durch ihre Richter annullieren ließ. Auch der Großbourgeoisie schmeckt Erdogans Niederlage überhaupt nicht. Sie wartet ungeduldig auf strukturelle Maßnahmen seitens der Regierung, um die Krise auf den Rücken  der Arbeiter*innenklasse abzuwälzen. Doch diese liegen nach dem Ergebnis in Istanbul zunächst auf Eis. Nichtsdestotrotz: Wenn es um die Interessen des Kapitals geht, sind alle bürgerlichen Parteien, seien es CHP und IYI Parti (eine Abspaltung der ultra-nationalistischen MHP) oder AKP und MHP, auf der selben Seite. Diese Einigkeit wurde noch am Wahlabend von allen Vorsitzenden der „Oppositions“-Parteien unmissverständlich zum Ausdruck gebracht: Der AKP wurde zugesichert, sie bei „richtigen“ Maßnahmen zu unterstützen.

Seitens der Linkspartei HDP war es zwar richtig, bei der zweiten Runde in Istanbul gegen die AKP aufzurufen. Hier gab es keine Alternative. Doch die HDP hatte schon vorauseilend bei den gesamten Kommunalwahlen zugunsten von CHP und IYI Parti keine eigenen Kandidat*innen für die Städte im Westen der Türkei aufgestellt. Das war ein völlig falsches Signal. Diese klassenübergreifende Haltung der HDP ist besorgniserregend. Die Arbeiter*innenklasse ist entscheidend für den Kampf gegen die kapitalistische Krise. Der Nationalismus, der überall im Land geschürt wird, ist das größte Hindernis für ihre Einheit. Nur ein Programm, das kompromisslos die Interessen der Arbeiter*innen verteidigt, kann gegen ihn bestehen. Das ist eine entscheidende Herausforderung für die HDP, die sich das Ziel gesetzt hat, eine türkeiweite politische Alternative zu werden. Mit der kommenden Krise wird eine neue Periode großer Kämpfe beginnen. Um als Massenpartei darauf vorbereitet zu sein, muss die HDP dringend eine Diskussion über ein sozialistisches Programm auf die Tagesordnung bringen, welches u.a. die Enteignung von Banken und Schlüsselindustrien unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung der Arbeiter*innen einschließt.

Die kommende Zeit wird eine Herausforderung für die Arbeiter*innenklasse und die Unterdrückten sein - aber auch für die Gewerkschaften, die linken Berufsverbände und die gesamte Linke. Den Widerstand mit einem sozialistischen Programm gegen die Krise des kapitalistischen Systems zu bewaffnen ist absolut notwendig, um eine echte Alternative zu Nationalismus, Ausbeutung und Kapitalismus anzubieten.

 

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