Solidarität mit Afrin: Nein zum Krieg gegen die KurdInnen

Interview mit Ismail N. Okay zum türkischen Einmarsch in Nordsyrien

Vorbemerkung: Die Lage im kurdischen Afrin spitzt sich in diesen Tagen dramatisch zu. Nach Medienberichten hat die türkische Armee die 300.000 sich noch in der Stadt befindenden EinwohnerInnen eingekesselt. Bisher sollen 300 ZivilistInnen ermordet und 700 verletzt worden sein. Das türkische Militär hat  Telefonleitungen, Wasser- und Elektrizitätswerke zerstört, den Maydanki-Staudamm eingenommen, und versucht Afrin komplett zu isolieren. In der Stadt gibt es einen Mangel an Medikamenten und Gütern des täglichen Bedarfs. Erdogan kündigt derweil an, dass er die Militäroffensive auf andere Teile der selbstverwalteten Region Rojava, einschließlich Kobane, ausweiten will, wenn Afrin eingenommen wird. 

Wir veröffentlichen hier ein Interview mit Ismail N. Okay, das Ende Februar geführt wurde und zuerst in der März-Ausgabe der SAV-Zeitung „Solidarität“ erschien. Die SAV ruft zur Solidarität mit der bevölkerung Afrins und zur Beteiligung an den gerade in ganz Deutschland stattfindenden Protestdemonstrationen auf – auch um die Komplizenschaft der Bundesregierung mit dem Erdogan-Regime anzuklagen. Wir fordern ein Ende der Waffenexporte an die Türkei und den Rückzug der Bundeswehr-Soldaten von den NATO-Stützpunkten in der Türkei. 

Ein Flugblatt der SAV findet sich hier.

Was steckt Deiner Meinung nach hinter dem Einmarsch türkischer Truppen in Afrin?

Hinter diesem Einmarsch des AKP-Regimes in Afrin stecken drei Hauptmotive. Das erste ist die anti-kurdische Politik des türkischen Staates, also ein Vorgehen gegen die Bestrebungen der Kurdinnen und Kurden, ein Selbstbestimmungsrecht durchzusetzen. Der türkische Staat wurde auf einem türkisch-islamisch-sunnitischen Selbstverständnis gegründet, das Staatsdoktrin ist. Das ist der Grund, warum sich – außer echten Marxistinnen – alle politischen Kräfte in der Türkei schnell einig sind, wenn es gegen die KurdInnen geht. Selbst geringste Errungenschaften der kurdischen Bevölkerung, innerhalb oder außerhalb der Türkei, werden als Bedrohung angesehen. Eine in Syrien entstehende „Nordsyrische Kurdenregion“ ist aus Sicht des türkischen Staates eine Entwicklung, die mit allen Mitteln verhindert werden muss.

Der andere Grund ist die sogenannte neoosmanisch-imperiale Politik des Erdogan-Regimes mittels derer die Türkei in der Region zu einer Regionalmacht werden soll. Erdogan und die Herrschenden haben den Syrienkonflikt als eine Gelegenheit zur Umsetzung dieser Politik gesehen.

Drittens: Erdogan nutzt diesen militärischen Vormarsch um von den sozialen Problemen in der Türkei abzulenken. Vor dem Einmarsch in Afrin standen in Umfragen die sozialen Probleme, wie die Senkung des Lebensstandard, die niedrigen Löhne, der Anstieg der Arbeitslosigkeit und die Inflation im Vordergrund. Nun sind diese Themen plötzlich in den Hintergrund gerückt. Erdogan schürt mit dem Einmarsch Nationalismus und hofft dadurch die wichtigen Wahlen im nächsten Jahr zu gewinnen.

Wie verläuft der Vormarsch der türkischen Armee? Was wird Deiner Meinung nach das Ergebnis sein?

Entgegen der türkischen Staatspropaganda verläuft der Vormarsch sehr langsam. Auf der anderen Seite ist Afrin fast völlg isoliert und außer im Südosten, wo sich die Militärkäfte des Assad-Regimes befinden, eingekesselt. Die Türkei ist auch militärisch überlegen und verfügt nicht zuletzt über Kampfjets und Drohnen. Daher ist es nicht ausgeschlossen, dass Afrin nach einem relativ langen Kampf fallen wird. Aber je mehr sich der Kampf in die Länge zieht, umso größer werden die Konsequenzen für Erdogan sein.

Wie siehst Du die Bündnispolitik der YPG?

Die YPG spricht davon, eine flexible Taktik bezüglich ihrer Bündnispolitik mit den verschiedenen Kräften in der Region, anzuwenden. Ihre Betonung für die Einheit der Völker ist auch richtig. Allerdings es ist nicht klar welche Strategie sie diesbezüglich verfolgt. Die sehr enge Zusammenarbeit mit dem US-Imperialismus, der der Hauptverantwortlicher für die Zustände in Irak und Syrien ist, steht im Widerspruch zu solchen Aussagen.

Ohne Zweifel, ist die Situation, in der sich die KurdInnen bzw. die PYD/YPG gerade befinden, sehr schwierig. Ein Volk, das auf vier Länder aufgeteilt ist und dort unterdrückt wird, hat gleichzeitig vier Gegner, die sich leicht verbünden können. Das sehen wir gerade in Afrin. Zum Beispiel wäre der türkische Einmarsch ohne die Zustimmung von Russland bzw. des Assad-Regimes gar nicht möglich gewesen.

Es gibt sicher keinen leichten Weg, Selbstbestimmung oder einen „demokratischen Konföderalismus“, wie die PYD/YPG es nennt, zu erreichen. Aus unserer Sicht, ist das nur auf sozialistischer Grundlage möglich. Dieses Ziel kann man weder mit Hilfe des US- noch des russischen Imperialismus oder des Assad-Regimes erreichen. Einzig die Arbeiterklasse und die armen Bauern und Bäuerinnen in der Region können wahre Bündnispartner sein, um dieses Ziel zu erreichen.

Wie ist die Lage für KurdInnen, Linke und die demokratische Opposition in der Türkei?

Es herrscht eine große nationalistische Stimmung. Ohne Ausnahme betreiben alle Fernsehkanäle Kriegspropaganda und das nicht nur durch Nachrichtensendungen oder Polit-Talkshows, sondern auch mittels von Fernsehserien.

Nicht nur die Kritiker des Einmarsch werden unter Druck gesetzt, indem ihnen Verrat vorgeworfen wird, sondern auch diejenigen die sich in irgendeiner Form nicht für den Einmarsch geäußert haben. Gleich in den ersten Tagen nach dem Einmarsch wurden die Spitzenvertreter der Türkischen Medizinischen Vereinigung (TTB) festgenommen, weil sie sich gegen „Krieg“ geäußert haben. Auch hunderte von Menschen wurden nur wegen Äußerungen gegen Krieg in den sozialen Medien festgenommen.

Kurz gesagt es ist grade eine Zeit, in der die Linke gegen die Strom schwimmen muss. 

Ismail N. Okay ist Mitglied von Sosyalist Alternatif, der Schwesterorganisation der SAV in der Türkei.