Sigmund Freud: Mehr als nur „deine Mutter“!

Vor 75 Jahren starb Sigmund Freud. Für SozialistInnen sind viele seiner Ideen noch immer hochaktuell.
Sebastian Kugler

Wenn nach den „großen Söhnen“ der Republik gefragt wird, fällt schnell der Name Sigmund Freud. Dennoch werden seine Entdeckungen großteils ignoriert und bekämpft. Wie wichtig es ist, die Psychoanalyse heute hochzuhalten, zeigt sich, wenn z.B. Katrin Nachbaur (Team Stronach) daherredet, wie wichtig „die Gene“ für die Charakterentwicklung seien, wenn kleinste Vergehen vom Staat behandelt werden wie Schwerverbrechen und wenn Bildungs- und Sozialabbau ganze Bevölkerungsschichten ins Abseits treiben.

Freuds Leistung war, die erste materialistische Psychologie zu schaffen. Er baute seine Theorie auf der Basis von konkreten Erfahrungen auf, meist im Gespräch mit seinen PatientInnen. Die Psychoanalyse zeigt, dass unser individuelles Verhalten auf konkrete Erlebnisse, und wie wir diese verarbeitet haben, zurückzuführen ist.

Marx entdeckte die Bewegungsgesetze der Gesellschaft, Freud die des individuellen Seelenlebens. Freud geht, wie auch Marx, davon aus, dass unser Handeln zuerst der Befriedigung unserer materiellen Bedürfnisse dient (Essen Trinken, Sexualität etc.). Wenn uns das nicht möglich ist, müssen wir Dinge runterschlucken („verdrängen“). Doch das Verdrängte dringt aus dem „Unbewussten“ immer wieder hervor, als sogenannte „Neurose“. Freud meinte nicht, dass jeder Triebverzicht prinzipiell schlecht sei. Das Fortschreiten der menschlichen Entwicklung ist verbunden mit einer immer größeren Kontrolle unseres „Es“, unserer „aus der Körperorganisation entstandenen Triebe“ (Freud). Jedes Kind muss lernen, dass es nicht alles haben kann, was es will. Freud nennt diesen Lernprozess den Übergang vom „Lustprinzip“ zum „Realitätsprinzip“. Wie aber dieses Realitätsprinzip, also die äußere Welt, die Gesellschaft, beschaffen ist, und wie wir darin eingeführt werden, beeinflusst unser Seelenleben nachhaltig.

Freud erkannte, wie Marx, dass wir heute in einer Gesellschaft leben, die die technischen Möglichkeiten hätte, allen Menschen ein Leben zu garantieren, in dem wir nicht so viel runterschlucken müssen. Doch stattdessen rechtfertigt sie die bestehenden Verhältnisse und zwingt uns, zu funktionieren. Darum, meint Freud, „… ist es begreiflich, dass diese Unterdrückten eine intensive Feindseligkeit gegen die Kultur entwickeln, die sie durch ihre Arbeit ermöglichen, an deren Gütern sie aber einen zu geringen Anteil haben“ und „es braucht nicht gesagt zu werden, dass eine Kultur, welche eine so große Zahl von Teilnehmern unbefriedigt lässt und zur Auflehnung treibt, weder Aussicht hat, sich dauernd zu erhalten, noch es verdient.“ (Freud)

Doch Freud war kein Marxist. Er erklärte die Geschichte der Menschheit nicht auf der Basis von historisch gewachsenen, materiellen Produktions- und Machtverhältnissen. Die Psychoanalyse „lehrt nichts über den Kapitalismus, viel aber darüber, was er aus den Menschen macht“ (Helmut Dahmer). Psychoanalyse kann den Marxismus nicht ersetzen, aber sie kann ihn ergänzen. Sie ist eben nicht nur eine Behandlungsmethode für reiche PatientInnen. In Alltagszusammenhängen angewendet, kann sie uns helfen, das Verhalten unserer Mitmenschen und unser eigenes zu verstehen und zu reflektieren. Ob sie dieses Potential verwirklicht, „entscheidet sich nicht in der Kur, sondern in der Arena sozialer Kämpfe“ (Dahmer). Das Verstehen psychoanalytischer Zusammenhänge kann z.B. bei der Wiedereinführung von ehemaligen StraftäterInnen in die Gesellschaft, aber auch im ganzen Bildungssystem eine extrem wichtige und fortschrittliche Rolle spielen. Dafür müssen Law-and-Order-Politik und Bildungsabbau bekämpft werden.

Freud war natürlich ein Kind seiner Zeit und seiner (bürgerlichen) Klasse, was auf seine Theorie abfärbte. Doch auch wenn Freud vom gesellschaftlichen Sexismus beeinflusst war: Die Entdeckung der kindlichen Sexualität griff die bürgerliche Sexualmoral frontal an. Auch endet die Entwicklung der Psychoanalyse nicht mit dem Tod Freuds: Schriften von Horkheimer, Marcuse und anderen trugen zu ihrem Fortschritt und ihrem Verhältnis zum Marxismus bei, auch wenn ihre Urheber sich später vom Marxismus entfernten.

Freud begrüßte die russische Revolution als „großes Kulturexperiment“. In der jungen Sowjetunion florierte die Psychoanalyse. Als der Stalinismus überhand gewann, wurde sie als „unmarxistisch“ gebrandmarkt. Freud wandte sich enttäuscht ab. Andererseits verteidigten MarxistInnen wie Siegfried Bernfeld konsequent Freuds Ideen, ohne ihre eigene marxistische Grundanalyse aufzugeben. Der Kapitalismus muss gestürzt werden und durch eine sozialistische Gesellschaft ersetzt werden, in der die Bedürfnisse der Menschen entscheiden, und nicht der Profit. Der Sozialismus ist die Verwirklichung von Freuds Vision einer „Kultur, die keinen mehr unterdrückt“.

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