Setz die rosa Brille auf, Doomer

Sonja Grusch

Endlich ist er da, der Sommer. Wir werden ihn genießen nach einem weiteren Jahr Corona. Der Sommer 2022 wird wohl bei vielen was von “ein letztes Mal auf den Putz hauen” haben. Weil wer darauf schaut, was kommt, kann eigentlich nur in Angst und Depression verfallen. Der Krieg rückt immer näher. Das Leben wird unerschwinglich. Der Stress in Schule und Job steigt. Die nächste Wirtschaftskrise steht bevor. Der Planet heizt sich auf. Und Corona kommt spätestens im Herbst auch wieder. Und für all das ist ganz offensichtlich keine Lösung in Sicht. Die herrschende Politik als überfordert zu bezeichnen ist die Untertreibung des Jahrhunderts. Sie versagt auf voller Linie.

Die Studien häufen sich, die eine Zunahme psychischer Erkrankungen feststellen. Corona hier als Ursache zu nennen, greift zu kurz. Es ist die Erkenntnis, dass “alles den Bach runter geht”. Sind wir also alle “Doomer”, also Pessimist*innen angesichts der Krisen? Eine simple Darstellung, oder eigentlich wieder mal eine, die die Erklärung beim Individuum sucht. Nicht das System ist da schuld, das diese katastrophale Perspektive produziert, sondern du, wenn du so einen pessimistischen Ausblick hast. Setz dir einfach die rosa Brille auf, sieh das Gute, erfreue dich an den kleinen Dingen. Die Butter am Brot ist eh ungesund, zuhause ist es doch am schönsten und ist doch toll, wenn wir bald Mangos und Ananas im Burgenland anbauen können.

Und jetzt mal stopp! Es ist ja nicht so, dass die Mehrheit der Menschen hierzulande im Luxus leben würde. Ja, vielen Menschen in anderen Regionen der Welt geht es noch viel schlechter. Doch wohin führt eine solche Argumentation? Wir sollen dankbar sein für die Brosamen, die uns die Reichen überlassen?! Oder noch schlimmer, wir sollen unsere Bedürfnisse noch weiter runterschrauben, “fürs Klima” oder wahlweise auch “für die westlichen Werte”. Was für eine Lüge und was für ein Zynismus! Es ist das alte Spiel der Herrschenden, um sich ihre Privilegien und ihren dekadenten Lebensstil zu sichern. Weder in der Ukraine, noch in Russland werden die Menschen in Folge dieses Krieges mehr mitzureden haben, weil die Oligarch*innen weiter die Strippen ziehen. Und die globale Erwärmung kann nur mit der Umstellung der Produktion im Großen in den Griff bekommen werden.

Ist also angesichts der Vielzahl von Problemen die Menschheit dem Untergang geweiht? Rosa Luxemburg hat vor über 100 Jahren erklärt, dass wir die Wahl zwischen Barbarei und Sozialismus haben. Der Kapitalismus bringt ersteres. Zweiteres zu erreichen ist keine leichte Sache. Doch angesichts der Alternative unbedingt notwendig. Die Millionen, die für Demokratie und Klimagerechtigkeit, für Frauen- und LGBTQI+ Rechte, für ordentliche Bezahlung und mehr Personal, gegen Aufrüstung und gegen Rassismus auch trotz Repression immer wieder aufstehen und sich organisieren sind der Beweis dafür, dass die Menschheit eine echte Chance auf eine Zukunft hat. Den Sommer zu genießen ist eine gute Sache, wir brauchen die Energie für die Kämpfe, die vor uns liegen. Weil uns nichts geschenkt werden wird, sondern wir uns unsere Zukunft erkämpfen müssen. 

 

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