Seattle: Kapital vs. Sozialistin

Manuel Schwaiger

Die sozialistische Stadtratsabgeordnete von Seattle, Kshama Sawant, ist ein Dorn im Auge der Reichen und Mächtigen der Stadt. Denn als revolutionäre Politikerin sieht sie ihr Amt nicht als Selbstzweck: Sie behält vom Abgeordnetengehalt nur soviel wie ein durchschnittliches Arbeiter*inneneinkommen und hilft beim Aufbau von kämpferischen Kampagnen mit Gewerkschaften und Communities, um Fortschritte für die Arbeiter*innen der Stadt durchzusetzen. Mit dieser Taktik konnten in Seattle ein Mindestlohn von 15 $ pro Stunde und eine Besteuerung von Großunternehmen zur Finanzierung von sozialem Wohnbau erkämpft werden.
Nun haben sich die Großkapitalist*innen der Stadt, darunter der Trump-Unterstützer und Immobilienmilliardär Martin Selig und die demokratische Bürgermeisterin Durkan zusammengeschlossen, um in Sawants Wahlbezirk eine Neuwahl durch einen „Recall“ zu erzwingen. Hinter den Kulissen wirkt auch der Boss von Amazon Jeff Bezos mit. Der Krisengewinnler, dessen Vermögen seit Beginn der Pandemie um dutzende Milliarden wuchs und der seine Beschäftigten wie Sklav*innen behandelt, will Rache für die Besteuerung von Großunternehmen. Denn diese trifft vor allem die Firmenzentrale von Amazon in Seattle.
Bei einem Recall müssen vor Gericht Gesetzesübertretungen der Abgeordneten festgestellt werden. Die Reichen werfen Sawant vor, sie habe in der Stadthalle von Seattle an einer „illegalen“ Black-Lives-Matter-Demonstration teilgenommen, nütze ihr Büro für sozialistische Organisationen und hätte Gelder für eine Kampagne zur Besteuerung Amazons verwendet. Da ein Gericht diese Begründungen tatsächlich zuließ, müssen wir Sozialist*innen wohl schuldig sein. Wir sind schuldig daran, dass wir nicht zusehen, wie diskriminierten Minderheiten das Demonstrationsrecht genommen wird. Wir sind schuldig daran, uns als arbeitende Menschen im Interesse aller arbeitenden Menschen in sozialistischen Organisationen selbst politisch zu betätigen. Wir sind auch schuldig, Jeff Bezos den höchstmöglichen Steuersatz zu wünschen. Und wir sind stolz darauf! Der Gerichtsentscheid zum Recall beweist ein weiteres Mal: Vor dem Gesetz sind alle gleich, doch wer genug Geld hat, ist wohl doch gleicher als die Anderen.
 

 

Erscheint in Zeitungsausgabe: