Revolution und Konterrevolution

Eine Definition
Franz Breier jun.

"Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte", stellte Marx treffend fest. Sie fallen nicht vom Himmel, sind kein Produkt kleiner Terroristenzirkel oder Ereignisse mit drehbuchähnlichem Ablauf. Revolutionen sind neben Kriegen die dynamischsten Ereignisse der menschlichen Gesellschaft, Ausdruck historischer Unausweichlichkeit. Sieg oder Niederlage einer Revolution kann Gesellschaften für lange Zeit, oft Jahrzehnte, entweder zurückwerfen oder nach vorne bringen. Eine Revolution steht immer im Spannungsfeld von sozialer und politischer Notwendigkeit einerseits und andererseits einem von vornherein unklaren Ausgang, der von den tatsächlichen Ereignissen bestimmt wird. Entscheidend sind die Rolle von Parteien und das Bewußtsein, aber auch "Zufälligkeiten" und im Extremfall einzelne Personen.

Wann ist eine Situation "revolutionär"?

Für das Heranreifen einer revolutionären Situation sind eine Reihe von Bedingung kennzeichnend:

  1. Eine äußere Krise (z.B. (Welt-)Krieg) und/oder eine Verschärfung der sozialen Situation für die Massen (z.B. Krise). Aber auch die im Zuge eines Aufschwunges gestärkte ArbeiterInnenklasse, die "ihr" Stück vom Kuchen nicht abbekommt, bietet einiges an revolutionärem Zündstoff.
  2. Die herrschende Klasse ist gespalten über die Methoden zur weiteren Aufrechterhaltung ihrer Macht (z.B. mehr oder weniger Repression und Gewalt) und daher geschwächt.
  3. Die Mittelschichten sind verunsichert und schließen sich der Bewegung gegen die herrschende Klasse an, so gibt es z.B. Risse innerhalb des stehenden Heeres und des Repressionsapparates.
  4. Bewußtes und gesteigertes Eingreifen der ArbeiterInnenklasse und die Entwicklung und Mobilisierung von Massenaktionen bis hin zum politischen Generalstreik.
  5. Das Vorhandensein einer revolutionären Führung/Partei, die die Kräfte bündelt und ein klares Ziel hat.

Das Fehlen des letzten Punktes ist die Ursache für das Scheitern einer Vielzahl von Revolutionen und DAS Charakteristikum im 20. Jahrhundert.
Weiters ist für jede Revolution die Frage des Staates ein Scheidepunkt: Die Staatsgewalt ist nicht nur Objekt, um das es in einer Revolution geht (welche Klasse kontrolliert den Staat), sondern eine sozialistische Revolution ist der Kampf gegen die kapitalistische Staatsmaschinerie! Die Zerschlagung und Ersetzung durch Räteverwaltung und -kontrolle auf allen Ebenen, die Auflösung der Institutionen des ehemaligen bürgerlichen Staates, die Zerschlagung des Heeres und die Bildung eines Milizsystems müssen als Voraussetzungen für das Niederhalten der Konterrevolution stehen!
Entsprechend der Stadien der gesellschaftlichen Entwicklung und des Charakters des Staates unterscheiden MarxistInnen zwischen verschiedenen "Typen" von Revolution.

Die soziale Revolution

Hierbei werden die wirtschaftlichen Verhältnisse "umgedreht", eine Klasse wird durch eine andere sozial UND politisch entmachtet. Ihr folgt eine Übergangsgesellschaft, in dem die ehemals unterdrückte Klasse politisch und wirtschaftlich Macht ausübt, um die mögliche blutige Konterrevolution zu unterbinden.
Lenin meint zu ihren Aufgaben: "Die soziale Revolution des Proletariats, die das Privateigentum an Produktions- und Zirkulationsmitteln durch das gesellschaftliche Eigentum ersetzt und den gesellschaftlichen Produktionsprozeß im Interesse des Wohlstands und der allseitigen Entwicklung aller Mitglieder der Gesellschaft planmäßig organisiert (Kontrolle und Verwaltung mittels Räten auf allen Ebenen, Anm.), wird die Klassenteilung der Gesellschaft beseitigen und so die ganze unterdrückte Menschheit befreien, denn sie wird jeder Art Ausbeutung eines Teils der Gesellschaft durch den anderen ein Ende setzen."
Je nachdem, welche Klasse welche ablöste (das Bürgertum die Feudalherren und den Adel oder das Proletariat das Bürgertum) unterscheiden wir zwischen der bürgerlichen Revolution und der proletarischen.

Bourgeoisie oder Proletariat:

In der kapitalistischen Gesellschaft gibt es zwei Hauptklassen, deren Interessen sich diametral gegenüberstehen: Die Bourgeoisie faßt der Besitz des bedeutendsten Teils an Mitteln zur Produktion und zur Zirkulation von Waren zusammen; die ArbeiterInnenklasse der Zwang, die eigene Arbeitskraft ständig oder periodisch verkaufen zu müssen, weil man anders nicht leben kann.
Die Interessen dieser beiden Klassen widersprechen sich. Es fehlt nicht etwa an "gegenseitigem Verständnis" füreinander, sondern an der Möglichkeit zur "Übereinkunft" zu beiderseitigem Nutzen!
Während die Bourgeoise bei der Überwindung des Feudalismus noch eine fortschrittliche Rolle spielte, bedeutet ihre Herrschaft heute eine Barriere für die Weiterentwicklung der Menschheit. Der Kapitalismus kann im Speziellen für das Proletariat und andere unterdrückte Schichten keine friedliche Entwicklung, keinen dauernden Wohlstand, ja nicht einmal Vollbeschäftigung sichern. (Die Zusammenfassung zu Klassen mit gleichen Hauptinteressen schließt natürlich Differenzierungen innerhalb dieser Klassen nicht aus die auch zu offenen Konflikten führen können - z.B. zwischen den Bourgeoisien verschiedener Staaten.
Die ArbeiterInnenklasse ist in der schwächeren Rolle, daher ist ihre Zusammenfassung als einheitliche Klasse entscheidend um die potentielle Macht durch kollektives Handeln einsetzen zu können.

Die Mittelschichten

Zu diesen gesellschaftlichen Hauptpolen kommt ein komplizierender Faktor hinzu: Die Mittelschichten, die zum Teil ein Erbe der Feudalgesellschaft darstellen. Sie bilden sich aus der Bauernschaft und Landbevölkerung, die in sich äußerst inhomogen und geschichtet ist, sowie dem städtischen Kleinbürgertum. Hinzu kommen Teile der Beamtenschaft und des Staatsapparates.
Das Kleinbürgertum steht zwischen den Polen Kapital und Arbeit, es ist teilweise ins System eingebunden (staatliche Bürokratie, Kleinkapitalisten), wird aber andererseits durch die Dominanz des großen über das kleine Kapital bedrückt. Es gibt kein "kollektives Interesse" DER Mittelklasse(n) sondern - im Extremfall - sogar widersprechenden Interessen. Am Land war dies besonders deutlich zwischen LandarbeiterInnen, einfachen Bauer und den Großbauern.
Der Sieg der Russischen Revolution 1917 war vor allem deshalb möglich, weil die ArbeiterInnenklasse die unteren Mittelschichten, konkret LandarbeiterInnen und landlose Bauern, führte - nicht umgekehrt! Die Revolution war ohne der Lösung der Landfrage unmöglich, die Absicherung dieser Umwälzung nicht ohne den Sturz des Kapitalismus. Die ArbeiterInnenklasse hat das weitreichendere Interesse an der Umwälzung. Und die Möglichkeiten dazu: "Nur das Proletariat ist, aufgrund seiner Konzentration, seiner einigermaßen einheitlichen Lebensbedingungen, seiner Homogenität und weil ihm organisierte Kämpfe aufgezwungen werden, fähig, sich zu anderen Bewußtseinsformen als denen seiner Herren aufzuschwingen und so neue Elemente des gesellschaftlichen Bewußtseins einzuführen." (Victor Serge, lange Weggefährte Trotzkis, über die chinesische Revolution 1927).

Die Revolution in wirtschaftlich unterentwickelten Staaten

In Bezug auf wirtschaftlich unterentwickelte Staaten, die sogenannte "3. Welt" stellt sich die Frage - was steht auf der Tagesordnung: die bürgerliche oder die proleatarische Revolution. Der "Etappentheorie" folgend antworten Sozialdemokraten und Stalinisten das zuerst eine bürgerlich, demokratische Revolution erfolgen müsse und dann nach einer nicht näher definierten Zeit der parlamentarischen "Reife" und der "vollständigen Entwicklung des Kapitalismus (Entstehen einer Industrie, starke Bourgeoisie und ArbeiterInnenklasse etc.)" die soziale Revolution anstehe.
Dieser in der Praxis tödlichen Illusion (China 1926, Chile 1974, Indonesien 60er Jahre) steht die marxistische Konzeption der "Permanenten Revolution" gegenüber.

Die Permanente Revolution

Ausgehend von Lenins Analyse des Imperialismus, der das für die gesamte Welt dominierende Wirtschaftssystem darstellt, wird deutlich, daß auch in der "3. Welt" das Zeitalter der bürgerlichen Revolution vorbei ist.
Diese hat eine Reihe von zentralen Aufgaben, die in diesen Staaten zweifellos noch anstehen.

  1. eine durchgehende Landreform, die das Land den Bauern übergibt,
  2. die Entwicklung eines internen Marktes,
  3. die Einigung des Landes und die Entwicklung moderner Nationalstaaten; sowie
  4. die Übergabe der Staatsmacht an die Bourgeoisie,

Aber eben weil diese Staaten teil der imperialistischen Weltwirtschaft sind, kann die schwache und vom Imperialismus abhängige nationale Bourgeoise diese Aufgaben nicht bzw. nicht dauerhaft erfüllen.

Die Koloniale Revolution

Vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die Koloniale Revolution, also die Bewegungen in ehemals direkt abhängigen Kolonien und den Ländern der sogenannten "3. Welt", in den Brennpunkt der Aufmerksamkeit gerückt.
Der weltpolitische Hintergrund war der "Kalte Krieg", die "bipolare" Weltordnung. Einerseits ein Kapitalismus im Nachkriegsboom, andererseits eine ebenso (vor allem territorial und militärisch) gestärkte stalinistische Einflußsphäre. Und auch obwohl die stalinistische Bürokratie immer wieder nach "friedlicher Koexistenz" mit dem Imperialismus trachtete, überwog der Widerspruch der beiden Systeme, der "Klassenkampf" im Weltmaßstab.
Die strategischen Interessen des Stalinismus waren zwar nicht die der Weltrevolution, aber an Wirtschaftshilfe, Unterstützung mit Waffen für Befreiungsbewegungen hatte man insofern Interesse, als es eigene Sphären absicherte. Dabei war es für die SU-Bürokratie wichtig, das jeweilige Regime zu kontrollieren und weitergehende revolutionäre Dynamik zu unterbinden.
Der Imperialismus unter der Führung der USA griff häufig auch militärisch ein, um Revolutionen zu verhindern, strategisch wichtige Einflußsphären abzusichern. Doch trotz dieses scheinbar übermächtigen Feindes schafften es viele Massenbewegungen unterdrückter Völker unter schwierigsten Bedingungen, in einem heroischen Kampf, dem Imperialismus teils bittere Niederlagen beizufügen und echte Fortschritte zu erreichen (z.B. Vietnams 1945-1975).
Die Bevölkerungen dieser Länder setzen sich aus überwiegend landlosen BäuerInnen und LandarbeiterInnen zusammen. Das Proletariat ist zahlenmäßig schwach und auf kleine Bereiche konzentriert (allerdings stärker als in Rußland 1917).
Aber auch die gegenüberliegende Hauptklasse, die Bourgeoisie, ist nur spärlich entwickelte und in direkter Abhängigkeit vom Imperialismus. Die herrschende feudal geprägte Elite der Großgrundbesitzer fällt mehr oder minder mit der „modernen“ Bourgeoisie zusammen. Bürgerlich-demokratische Schichten konnten in speziellen Perioden kurzfristig eine fortschrittliche Rolle in der nationalen Befreiung spielen. Sie standen unter dem Druck der Massen und waren zu radikalen Maßnahmen und Massenmobilisierung gezwungen. Aber entweder die Revolution entwickelte sich in diesen Staaten weiter und löste auch die soziale Frage (z.B. Kuba) oder die Bourgeoisie wurden bald wieder zum offenen Feind der Revolution.
Charakteristisch für die Revolutionen speziell nach 1945 ist die Dominanz von Guerilla-Armeen, die in vielen Fällen auch den Kampf der städtischen ArbeiterInnenschaft „übernahmen“, ja ersetzten.
Diese Verlagerung war einerseits Folge der Niederlagen der internationalen Revolution vor dem Weltkrieg, andererseits dem Einfluß des gestärkten Stalinismus geschuldet. Diese Guerillas haben einen größtenteils bäuerlich-kleinbürgerlichen Charakter und waren oft soziale Grundlage für stalinistische Bürokratien. Sie stellen häufig einen wichtigen Faktor der Bewegung dar, stoßen aber an ihre eigenen Grenzen, eben da sie zwischen den beiden Hauptklasse stehen.

Politische Revolution versus Konterrevolution

Seit der Entwicklung des Stalinismus in der Sowjetunion und der Bildung stalinistischer Staaten auf Weltebene stellt sich die Frage, was für eine Revolution ist dort notwendig, um die Menschheit weiterzuentwickeln. In kapitalistischen Staaten ist die herrschenden Klasse die Bourgeoisie, die sich durch den Besitz an Produktionsmitteln und Kapital auszeichnet. In den stalinistischen Staaten herrscht die stalinistischen Bürokratie, einer Kaste, die auf Grundlage einer nicht-kapitalistischen Produktionsweise diese Wirtschaft und Gesellschaft verwaltet. Der Stalinismus war eine Art „historische Sackgasse“, ein Regime zwischen zwei Stühlen, zwei Klassen: Der ArbeiterInnenschaft (Planwirtschaft) und den Mittelschichten (Bürokratie). Im Weltmaßstab - sehr deutlich nach 1945 - stellte die Bürokratie auch gleichsam den „Schatten der Weltbourgeoisie“ dar.
Hier ist eine politische Revolution notwendig. Sie bedeutet den Sturz der privilegierten Bürokratie durch die arbeitenden Massen und die Errichtung einer Rätedemokratie. Die sozialen Voraussetzungen dafür (kein Privateigentum an Produktionsmitteln und Planwirtschaft) waren vorhanden, nicht aber die ArbeiterInnendemokratie.
Die Tatsache, daß den Bewegungen in Osteuropa und der Sowjetunion 1989-91 die sozialistische Führung fehlte, die für eine ebensolche politische Revolution eintrat, führte zum Sieg der Konterrevolution. Also zur Restauration des alten Systems des Kapitalismus bei vollständiger Zerschlagung der Errungenschaften der Revolution. Die sozialen Konsequenzen dieser Konterrevolution sind offensichtlich.

International oder gar nicht!

Im Kapitalismus haben sich die Voraussetzungen für eine sozialistische Planwirtschaft (hoher Technologiestandard, aber v.a. internationalisierte Produktion und Arbeitsteilung, ArbeiterInnenklasse) längst entwickelt - er steht im Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung. Einerseits entwickelte der Kapitalismus einen vollends globalisierten Markt, befindet sich aber selbst in den für ihn unüberwindbaren Schranken des Nationalstaates. Doch eine durch die ProduzentInnen demokratisch kontrollierte Planwirtschaft steht im völligen Widerspruch zum Profitsystem UND zur Herrschaft der Bourgeoisie. Nur eine internationale sozialistische Revolution kann diese Widersprüche lösen. Der internationale Charakter der sozialistischen Revolution ist eine Tatsache, die zwar schon lange notwendig ist, aber angesichts der „Globalisierung“ immer offensichtlicher wird.
Das Zeitalter der Revolutionen ist nicht vorbei, Notwendigkeit und Möglichkeiten existent. Wenn wir aus den Niederlagen der Vergangenheit die Lehren für das 21. Jahrhundert ziehen, dann waren sie nicht umsonst!