Religiöser Fundamentalismus nimmt zu

Sonja Grusch

Bereits Anfang der 1990er Jahre - also zeitlich im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch des Stalinismus - beschrieb der französische Soziologe Gilles Kepel in seinem Buch "Die Rache Gottes" die Zunahme von religiösem Fundamentalismus. Er bezieht sich dabei auf verschiedene Religionsgruppen - nicht nur auf den Islam. Tatsächlich gibt es - neben Kritik und Ablehnung von traditionellen Kirchen - auch eine "neue Religiösität" die sich in verschiedenen Formen ausdrückt: kultivierte Enthaltsamkeit bei Jugendlichen in den USA, eine Stärkung fundamentalistischer Strömungen in den großen Weltreligionen und die "Esoterik-Welle". Sie alle haben eines gemeinsam: der Versuch im Glauben Antworten auf die Fragen und Probleme des tagtäglichen Lebens zu finden.

Über Religion schreibt schon Marx 1843: "Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks." Wenn vielleicht auch für uns heute etwas blumig formuliert - der Inhalt ist hochaktuell.

Trübe Perspektive

Denn ein Blick in die Tageszeitungen oder die Nachrichtensendungen zeigt die Absurdität des kapitalistischen Systems und den täglichen Horror auf dieser Welt. Klimawandel, Kriegsgefahr, gefährliches Essen, verhungernde Menschen… Dazu kommt noch die individuelle Perspektivlosigkeit. Job? Wenn überhaupt, dann stressig, unsicher und mies bezahlt. Pension? Wer jünger als 40 ist rechnet gar nicht mehr damit. Gesundheit? Rückenprobleme und Stresssymptome wegen Überarbeitung sind normal. Dass Menschen angesichts dieser Situation nach Antworten und Lösungen suchen ist logisch. Die Frage ist, wo sie sie finden.

Alternative fehlt

Es ist kein Zufall, dass religiöser Fundamentalismus seit Ende der 1980er Jahre wieder zunimmt. Das ist genau jene Zeit, in der zwei - miteinander verbundene - Entwicklungen zum Tragen kommen: 1) die soziale Situation der Mehrheit der Menschen verschlechtert sich. Die Jugend sieht sich mit der Realität konfrontiert, dass es ihnen schlechter geht als ihrer Elterngeneration. 2) politische Strömungen, die eine Alternative zum Kapitalismus anbieten sind in der Krise. Die stalinistischen Staaten - ohne ihre Diktaturen rechtfertigen zu wollen - haben eine gewisse Systemalternative zum Kapitalismus dargestellt. Sie sind mit Ende der 1980er Jahre Geschichte. Die Sozialdemokratischen Parteien waren in Europa über ein Jahrhundert lang Organisationen der ArbeiterInnenbewegung die - wenn sie auch für keine Gesellschaftsveränderung eingetreten sind - doch zumindest dafür eingetreten sind, dass die ArbeiterInnenklasse "ein Stück vom Kuchen" bekommt. Diese Parteien sind allerdings - nicht auf einen Schlag aber doch zeitlich nahe beieinander - in den 1980er und 1990er Jahren verbürgerlicht, sind also keine Instrumente der ArbeiterInnenbewegung mehr, um ihre Situation zu verbessern.

Imperialismus stützt Fundamentalismus

Diese Kombination - die Lage der Massen der Bevölkerung verschlechtert sich und es fehlt an Antworten und Lösungen - ist die Basis für das Erstarken des religiösen Fundamentalismus. Im arabischen Raum kommt noch das Versagen des arabischen Nationalismus dazu. Die jeweiligen herrschenden Schichten in den arabischen Staaten sind abhängig vom Imperialismus, wirkliche nationale Unabhängigkeit wurde kaum erreicht und bürgerliche Freiheiten sind rar. Das schwache Bürgertum konnte diese Unabhängigkeit nicht erreichen. Und die - zeitweise in der Region durchaus starken - Kommunistischen Parteien haben in alter stalinistischer Manier auf halbem Weg halt gemacht und damit letztlich gar nichts erreicht. Wie z.B. im Iran, wo 1979 der Sturz des Kapitalismus möglich gewesen wäre, die KP aber lieber die Mullahs unterstützt hat, weil "die Zeit noch nicht reif für Sozialismus in Iran" sei. In Palästina hat die anfangs säkulare PLO eine bürgerliche und immer abgehobenere und korruptere Politik gemacht und die palästinensischen Massen der (übrigens mit Unterstützung Israels aufgebauten) fundamentalistischen Hamas in die Arme getrieben. Das Versagen von arabischem Nationalismus und den KPn hat ein Vakuum geschaffen, in dem fundamentalistische Gruppen gedeien konnten. Diese wurden ihrerseits vom Imperialismus unterstützt - wir erinnern uns an "Rambo 3" wo Silvester Stallone als Rambo in Afghanistan gemeinsam mit den Mudjahedin "die Kommunisten" bekämpft.

Reicher Fundamentalismus

Um eine solche Situation "nutzen" zu können, braucht eine Idee aber auch die entsprechenden Mittel. Und Religionsgemeinschaften verfügen über große Geldmittel - und teilweise auch enorme staatliche Unterstützung. Obwohl es in den meisten Staaten offiziell eine Trennung von Kirche und Staat gibt, haben Religionsgemeinschaften doch enormen Einfluss im Staat. Da wird bei Gericht auf die Bibel geschworen, hängen Kreuze in Klassenzimmern, haben Religionsgemeinschaften Einfluss auf die Lehrpläne in der Schule. Der katholische Papst wird bei einer "privaten Pilgerreise" von der Regierung wie ein Staatsbesuch behandelt und predigt ganz offen gegen österreichische Gesetze - konkret gegen das Recht auf Schwangerschaftsabbruch. Dazu kommen noch die oft geradezu unerschöpflich wirkenden Geldquellen. Mit diesen Geldern können Religionsgemeinschaften dann auch Löcher stopfen, die im Sozialsystem existieren und durch die neoliberale Privatisierungspolitik noch vergrößert werden. Die Hamas verdankt ihren Aufstieg in den besetzten Gebieten u.a. ihren Sozialeinrichtungen im Gesundheits- und Bildungswesen. Die Katholische Kirche kann sich mit Schulen, Krankenhäusern und Kindergärten profilieren, wo sich die öffentliche Hand zurückzieht. Unternehmen würden diese Kosten als "Werbekosten" von der Steuer abziehen…

Alternativen aufbauen

Der Kampf gegen religiösen Fundamentalismus muss sich auf zwei Ebenen abspielen. Einerseits sind natürlich Bildung und Aufklärung wichtig um Menschen die Furcht vor Religion (bzw. dem Teufel) nehmen zu können. Noch wichtiger ist aber der Aufbau einer tatsächlichen politischen Alternative, die wirkliche Antworten auf die Probleme geben kann. Also der (Wieder-)Aufbau von ArbeiterInnenorganisationen, die den Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit führen. Solche Organisationen sind wichtig um den "Kampf der unterdrückten Klasse für ein Paradies auf Erden" (Lenin) zu führen.

Mehr zum Thema: 
Erscheint in Zeitungsausgabe: