Osteuropa und die ehemalige Sowjetunion

10 Jahre danach - die Bilanz ist negativ!
Fabian Linzberger und Sonja Grusch

Seit dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ sind zehn Jahre vergangen. Eine „Ära von Frieden und Wohlstand“ wurde angekündigt. Die Hoffnungen und Erwartungen waren enorm - aber was wurde daraus? Wie hat die sogenannte „freie Marktwirtschaft“ das Leben der OsteuropäerInnen verändert? Nach zehn Jahren ist es an der Zeit, eine Bilanz zu ziehen...
Als vor zehn Jahren Menschen in Deutschland, der ehemaligen CSSR, Rumänien, später in Rußland, auf die Straße gingen, war keineswegs von Anfang an klar, wohin diese Entwicklung führen würde. Die wichtigsten Forderungen waren jene nach demokratischen Rechten, nach „demokratischem Sozialismus“. Der Wunsch nach Konsumgütern aus dem Westen war zwar da, aber nicht das einzige Anliegen der Bewegungen. Ein Transparent auf den „Montagsdemonstrationen“ in der DDR brachte die damalige Stimmung gut auf den Punkt: „Es geht nicht um die Bananen, es geht um die Wurst“.

Wie kam es zum Stalinismus?

Im Gegensatz zur „offiziellen“ Geschichtsschreibung in Ost & West waren die osteuropäischen Staaten niemals (real)sozialistisch. Sie sind Übergangsgesellschaften zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Die Überwindung des Kapitalismus auf weltweiter Ebene begann 1917 mit der Oktoberrevolution in Rußland. Diese blieb allerdings fast drei Jahrzehnte lang isoliert. Eine Zeit, in der die internationale ArbeiterInnenbewegung eine Niederlage nach der anderen hinnehmen mußte und die in der Sowjetunion selbst zu einer politischen Konterrevolution führten. Die politische Herrschaft der ArbeiterInnenklasse wurde durch die Diktatur einer allmächtigen Bürokratie ersetzt. Wir nennen diese Gesellschaften „stalinistische Staaten“, weil Stalin jene Person war, die führend als „Pate“ während dieses Entwicklungsprozesses fungierte. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde das stalinistische System nach ganz Osteuropa „exportiert“.

Warum fielen 1989 die Regime?

Die Charakterisierung als „Übergangsgesellschaften“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus bedeutet, daß sich diese Staaten in einem widersprüchlichen Zwischenstadium befanden. „Sozialistisch“ waren ihre Eigentumsformen - also Staatseigentum an Produktionsmitteln, kombiniert mit einer geplanten Wirtschaft. Demgegenüber stand eine Bürokratie an der Spitze dieser Gesellschaft die das enorme Entwicklungspotential der Planwirtschaft zunehmend lahmlegte. Planwirtschaft und Bürokratie sind nur für eine „Übergangsperiode“ zusammen existenzfähig:
Solange die Wirtschaftsstruktur nicht komplex ist, kann sich eine geplante Wirtschaft trotz der Diktatur einer Bürokratie entwickeln. Die Sowjetunion stieg so in wenigen Jahrzehnten vom „3.Weltland“ zur zweitstärksten Industriemacht der Erde auf. Doch eine weitverzweigte, moderne Planwirtschaft braucht echte Arbeiterdemokratie, um sich weiter zu entwickeln - oder sie erstickt. Umgekehrt verteidigt die Bürokratie die Planwirtschaft nur solange sie eine sichere Quelle ihrer Privilegien darstellt. Der sich abzeichnende ökonomische Bankrott der Sowjetunion zu Beginn der 80er Jahre läutete das Ende dieser Übergangsperiode ein. Historisch standen zwei Optionen offen: Entweder die Beseitigung der Bürokratie durch eine politische Revolution von unten, oder eine Konterrevolution und die Rückkehr zum Kapitalismus.
In den Bewegungen 1989-1991 waren beide Elemente vorhanden. Die Bewegungen begannen als politische Revolutionen gegen die Bürokratie und stürzten diese in wenigen Tagen. Sie waren aber nicht in der Lage, aus sich heraus eine politische Alternative zur kapitalistischen Konterrevolution zu entwickeln. Jahrzehntelange stalinistische Diktatur hatte nämlich gerade die wirklich sozialistischen Kräfte fast restlos beseitigt.

Restauration des Kapitalismus

Die Konterrevolution setzte am zentralen Punkt - den Besitzverhältnissen an den Produktionsmitteln - an. Die Kombinate und Planungskommissionen wurden zerschlagen, die Wirtschaft privatisiert. Ein Prozeß, der keineswegs abgeschlossen ist. Es fehlt an Käufern und die bisherigen Erfahrungen sind so schlecht, daß die Regierungen aus Angst vor den sozialen Folgen davor zurückschrecken, die Wirtschaft gänzlich zu privatisieren. Aber woher kommen die neuen Kapitalisten?
Nach dem Zusammenbruch des Stalinismus entstand die neue „heimische“ Bourgoisie in den „Reformstaaten“ aus jenen Teilen der alten Bürokratie, die inwischen ihre Interessen am besten unter kapitalistischen Vorzeichen gewahrt sahen.
Die meisten heutigen Spitzenpolitiker - egal ob aus Regierung oder Opposition - kommen aus dem ehemaligen stalinstischen Partei- und Staatsapparat. Ergänzt durch Glücksritter, Kriminelle und Spekulanten die sich in dieser stürmischen Phase enorm bereichern konnte. Die neue Kapitalistenklasse in diesen Ländern hat von ihrer gesellschaftlichen Verankerung wenig gemein mit der historisch gewachsenen Bourgoisie in den westlichen Ländern. Es herrscht ein „Gangsterkapitalismus“. Die strukturelle Schwäche dieser Volkswirtschaften drückt sich nicht zuletzt in einer schwachen herrschenden Klasse aus, die die Macht defacto dem westlichen Kapital überlassen muß.

Der Westen, nicht uneigenützig!

Ein neuer Marshallplan wurde Anfang der 90er Jahre für Osteuropa und Rußland angekündigt. Doch die Praxis sieht anders aus. Tatsächlich ging es den westlichen Investoren und deren politischen Interessensvertretern niemals um die Etablierung unabhängiger kapitalistischer Staaten. Ziel war es, neue Absatzmärkte für die Produkte, die im Westen nicht mehr abzusetzen waren, zu finden und gleichzeitig die Produktion von Waren für den westlichen Markt von billigeren und dennoch qualifizierten Arbeitskräften durchführen zu lassen. Zusätzlich ermöglichte diese Strategie ein Erpressen von Zugeständnissen von den westlichen ArbeiterInnen. Wir kennen das unter dem Titel „Standortlogik“: Werdet billiger, sonst müssen wir in den billigeren Osten gehen.
Die ausländischen Investitionen erfolgten in weit geringerem Ausmaß als angekündigt. Häufig werden Betriebe, die von ausländischen Konzernen aufgekauft werden gleich geschlossen - hier wird gekauft, um lästige Konkurrenten loszuwerden. Um rentabel zu produzieren muß genug Absatzmarkt vorhanden sein. Durch die Schließung von Produktionskapazitäten steigt die Arbeitslosigkeit und kommt es zu einer regelrechten Deindustrialisierung. Schätzungen zufolge wurden zwischen 1990 und 1998 40% der Industrie vernichtet. Als „erfolgreich“ stellte sich nur der Rohstoffbereich heraus - womit die Abhängigkeit vom Weltmarkt steigt. Die Entwicklungen in und zwischen den verschiedenen Ländern sind insgesamt sehr unterschiedlich. In Staaten wie Tschechien oder Ungarn wurde wesentlich mehr investiert als z.B. in Kasachstan oder Moldawien. In Rußland beschränken sich die Investitionen v.a. auf die Großstädte wie Moskau (etwa 80% der Auslandsinvestitionen ). In kleineren Orten werden mit der Schließung des lokalen Betriebes mit einem Schlag fast alle Arbeitsplätze vernichtet. Wer Glück hat findet in der nächsten Großstadt arbeit. Wie z.B. die zehntausenden ArbeiterInnen der ehemaligen Stahl- und Minenbetriebe in der tschechischen Stadt Kladno, von denen heute der Großteil täglich nach Prag pendelt. Wenige haben soviel Glück: in Moldawien gibt es für Jugendliche keine Aussicht auf einen Job. In Rußland sind 75 % aller Arbeitslosen Frauen - Tendenz steigend.

Soziale Katastrophe

Die Menschen in Osteuropa und den GUS-Staaten sehen sich in den letzten zehn Jahren einer sozialen Katastrophe gegenüber. In den Staaten der ehemaligen Sowjetunion ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) - d. h. die Summe aller in einem Jahr produzierten Güter und Dienstleistungen - um mehr als 50% gefallen! Ein Drittel der Menschen in diesen Staaten lebt unter dem Existenzminimum von nicht einmal 300,- Schilling pro Monat. Selbst jene, die noch einen Job haben bekommen Einkommen die häufig unter dem Existenzminimum liegen - vorausgesetzt sie werden überhaupt bezahlt. Nicht nur Privatbetriebe, auch der staatliche Sektor ist oft monate- oder sogar jahrelang im Verzug mit der Auszahlung der Löhne und Gehälter. Und wenn „bezahlt“ wird bekommen die ArbeiterInnen manchmal kein Geld, sondern „Naturalien“ - in einem Reifenwerk z.B. Autoreifen die sie dann selbst verkaufen müssen um irgendwie an Geld zu kommen.
In Moldawien wurde im Zuge der Rußlandkrise der Handel eingebrochen, die Währung um über 200 % abgewertet - die Löhne blieben gleich. Staatliche Sozialleistungen werden nicht mehr ausbezahlt.
Angesichts solcher Zustände ist es nicht verwunderlich, daß es Widerstand gibt. Widerstand allerdings, über den die Medien schweigen. Die westlichen Medien haben zwar gejubelt über den „Sturz des Kommunismus“, den „Sieg von Marktwirtschaft und Demokratie“ und über die enormen Möglichkeiten, die sich nun eröffnen. Die Berichte über die zahlreichen, verzweifelten Arbeitskämpfe, Demonstrationen, Betriebsbesetzungen, Hungerstreiks etc. sind aber rar. Wie schon vor Jahren ArbeiterInnen in Ostdeutschland sind vor wenigen Wochen in Polen Krankenschwestern in den Hungerstreik getreten, um für höhere Löhne zu kämpfen. 80 % der Bevölkerung unterstützten sie laut Meinungsumfragen. In Rußland blockierten Bergarbeiter die Schienen um ihre seit Monaten ausstehenden Löhne einzufordern. In der Ukraine besetzten aus dem selben Grund die Beschäftigten eines AKW's dasselbe. Die lokalen Behörden wurden eingesperrt, die Hauptstraße blockiert und ein Telegramm an die zentrale Behörde geschickt. Wenn nicht umgehend bezahlt würde, würde der Strom abgeschaltet. Nur einige Beispiele, die zeigen, wie die Stimmung ist und welche Bewegungen stattfinden.

Es wird noch schlimmer...

Durch die vor einem Jahr begonnene Rußlandkrise hat sich die Situation noch verschlimmert. In Rußland wurden für die Bewältigung der Krisen mehr und mehr Kredite aus dem Ausland aufgenommen. Als dieser Schuldenberg zusammenbrach, war ein 66% Wertverlust des Rubel, innerhalb von nur drei Wochen die Folge. Auch in den anderen Staaten hat die Verschuldung gigantische Dimensionen angenommen. In der Ukraine wurde die Rückzahlung von Krediten mit kurzfristigeren Krediten finanziert. Diese sind bald fällig und werden die Schuldenkrise weiter verstärken. Schon jetzt werden beispielsweise in Moldawien zwei Drittel des gesamten BIPs allein für Zinsen ausgegeben!
Eine Studie der EU hat untersucht, wie lange die Staaten in Osteuropa brauchen werden bis ihr Einkommensniveau 50 % des durchschnittlichen EU-Bürgers erreicht. Für die Tschechische Republik, die Musterschülerin, rechnen sie mit immerhin 28 Jahren, das Schlußlicht Rumänien wird ihrer Schätzung nach 114 Jahre brauchen. Diese Prognosen gehen allerdings von einem durchschnittlichen Wirtschaftswachstum von 2-3 % pro Jahr aus. Werte, die angesichts der Auswirkungen der Rußlandkrise und der düsteren Perspektiven für die Weltwirtschaft insgesamt wohl ins Reich der Träume verwiesen werden müssen.

Politische Instabilität

Die wirtschaftlichen Probleme und die große Unzufriedenheit mit den Ergebnissen der kapitalistischen Restauration führen zu wachsender Unzufriedenheit und bilden die Basis für politische Instabilität.
In der herrschenden Klasse gibt es unterschiedliche Gruppen, die sich teilweise radikal bekämpfen. Die unterschiedlichen Positionen, die sie zu Fragen wie Privatisierung hatten und haben kommen nicht daher, daß die einen mehr als die anderen pro-kapitalistisch wären, sondern daß sie unterschiedliche Vorstellungen darüber haben, wie der Übergang zu einer kapitalistischen Wirtschaft am besten (und für sie profitabelsten) durchgeführt werden könnte. Während für manche eine schnelle Privatisierung von Nutzen war, wäre für andere mit weniger Privatkapital oder schlechteren Verbindungen zum Westen ein langsameres Vorgehen besser gewesen.
Bei den Parlamentswahlen in Rußland stehen sich verschiedene pro-kapitalistische Gruppen gegenüber. Auf der einen Seite die „Jelzin-Familie“ (zu der keineswegs nur Verwandte gehören), auf der anderen Seite der Moskauer Bürgermeister Luschkow und der ex-Premieminister Primakov, die jenen Teil der Kapitalisten vertreten, die die Dominanz der Jelzin-Familie brechen wollen, um selbst näher an die Futtertröge zu kommen.
In ganz Osteuropa wechseln die Regierungen häufig und radikal. Die Konzepte der verschiedenen Parteien unterscheiden sich nicht fundamental. Sie alle orientieren sich an den Wünschen und Bedürfnissen des ausländischen Kapitals und an den Auflagen der ausländischen Kreditgeber wie IWF und Weltbank. Die Bevölkerung wechselt ihr Stimmverhalten bei Wahlen häufig in der Hoffung, daß eine neue Regierung Verbesserungen bringen wird. Hoffnungen, die dann allerdings rasch entäuscht werden.
In Tschechien z.B. wurde Klaus für seine rechte Unternehmerpolitik zugunsten der Sozialdemokratie abgewählt. Die Sozialdemokratische Regierung ist nun aber auf seine Unterstützung angewiesen, da sie keine absolute Mehrheit erreichen konnte. Auf diese Art und Weise kann sich die Regierung auf Klaus ausreden, dieser die Regierung unter Druck setzen und nach deren Scheitern gegebenenfalls mit sauberen Händen zurückkehren.
In Ungarn, wo eine sozialdemokratisch geführte Regierung an der Macht war, wurde ein extremer Sparkurs im Interesse der westlichen Investoren durchgesetzt. Auf Kosten der ArbeiterInnenklasse und deren Sympathie. Bei den Wahlen 1998 wurden sie von einer bürgerlichen Regierung abgelöst. Der Parlamentarismus pendelt irgendwo zwischen den rechten und den pseudo-linken Kräften hin und her. Denn auch die sozialdemokratischen und „kommunistischen“ Parteien befinden sich auf dem Boden der Marktwirtschaft und führen, wo an der Macht, Sozialabbau und Privatisierung durch.
Die extremste Form der politischen Instabilität ist das Anwachsen nationalistischer Bewegungen, die in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion aber auch im ehemaligen Jugoslawien zu Kriegen und Bürgerkriegen geführt haben. Der Hintergrund für den Bürgerkrieg in Dagestan, wo die russische Regierung gegen moslemische Rebellen Krieg führt, ist die Absicherung von Pipelines für den Abbau von Rohöl für den Westen.

Sieg des Kapitalismus?

Das Ende der Systemkonkurrenz hat vor allem auf ideologischer Ebene einen Sieg des Kapitalismus bedeutet. Anfang der 90er Jahre war die ArbeiterInnenbewegung international geschwächt und vor allem ideologisch weit zurückgeworfen. Nicht nur im Osten, sondern auch im Westen ermöglichte der ideologische Triumphzug des „Sieges des Kapitalismus über den Kommunismus“ ein wichtiges Druckmittel der Bourgeoisie auf die ArbeiterInnen. Eine große Perspektivenlosigkeit und Verwirrung machte sich auf der Linken und in der ArbeiterInnenklasse breit. Dadurch standen die ArbeiterInnen den Angriffen der Unternehmer auf die Errungenschaften der Vergangenheit machtlos gegenüber und die Gegenwehr beschränkte sich auf ein Minimum. Dieser politische Effekt war einer der wichtigsten Ergebnisse des Umbruches vor zehn Jahren.
Dieser Punkt war es auch gemeinsam mit den neuen Märkten, die sich durch die Restauration ergaben, der es ermöglichte, daß die Krise des globalen Kapitalismus, die sich mit immer mehr Zeichen für die nahe Zukunft ankündigte, noch einmal aufgeschoben wurde. Aufgeschoben, nicht aufgehoben. Zu den ungelösten Problemen der Weltwirtschaft kamen während der 90er Jahre noch jene des ehemaligen Ostblocks dazu.
Die „neue Weltordnung“ stellte sich bald als neue „Weltunordnung“ heraus. Das Versagen des Kapitalismus wird immer offensichtlicher. Die Illusionen in den Kapitalismus sind nach einem Höhepunkt Anfang der 90er Jahre wieder zurückgegangen. Auch wenn vielen noch nicht klar ist, was die Alternative sein kann, so wird doch der Kapitalismus an sich immer kritischer gesehen.

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