Marielle Presente!

Warum die Ermordung von Marielle Franco in Rio de Janeiro ein Angriff auf demokratische Rechte und damit auf uns alle ist.

In der Nacht vom 14. März wurden Marielle Franco und ihr Fahrer Anderson Pedro Gomes im brasilianischen Rio de Janeiro in ihrem Auto erschossen, Marielles Assistentin wurde schwer verletzt. Marielle war erst 38 Jahre alt. Sie gehörte der Partei PSOL (Partei für Freiheit und Sozialismus) an, in der auch die SAV-Schwesterorganisation LSR (Freiheit, Sozialismus, Revolution) aktiv ist.

Von Anne Engelhardt, SAV Kassel, derzeit in Sao Paulo

Viele GenossInnen der LSR kannten Marielle schon sehr lange, waren eng mit ihr befreundet und waren mit ihr gemeinsam aktiv, sei es gegen rassistische Polizeigewalt, gegen die aktuelle Welle von Sozialkürzungen oder sexistische Übergriffe. Der Schock über ihre Ermordung sitzt tief. Selbst die Mordkommission spricht von einer „regelrechten Hinrichtung.“ Marielles Auto fuhr durch das sehr belebte und sehr zentrale Viertel Lapa, in dem auch viele Mitglieder von PSOL leben. Neun Kugeln wurden gezielt auf sie abgegeben, da nichts gestohlen wurde, ist ein Raubüberfall, wie er leider Aufgrund der Armut und Polarisierung in Rio de Janeiro sehr häufig vorkommt, ausgeschlossen.

Politischer Mord

Marielles Ermordung hatte ausschließlich politische Motive. Denn in Marielles Herkunft und in ihrem politischen Aktivismus konzentrierten sich sämtliche Widersprüche der brasilianischen, aber auch der weltweiten ökonomischen und sozialen Lage von ArbeiterInnen, Schwarzen, Frauen, Homosexuellen. Einerseits gibt es eine starke Zunahme von Bewegungen von schwarzen Frauen und insgesamt der Frauen-, Trans*- und LGBTQ-Bewegung gegen Übergriffe und ihre soziale Lage. In Brasiliens Großstädten gibt es eine unglaublich hohe Sichtbarkeit von Diversität und Bewegung. Andererseits scheint genau das, neben der Armut Anlass zu sein, schwarze und vor allem Frauen gezielt anzugreifen, da diese, eben genau wie Marielle, als SprecherInnen und KämpferInnen für Menschenrechte in der ersten Reihe stehen. Marielle selbst ist in Maré geboren, einem der größten Favelas in Rio de Janeiro. Häufig sind Favelas dadurch gekennzeichnet, dass die regionale Verwaltung diese nicht als Wohngebiete anerkennt, sie sozusagen als illegal gebrandmarkt sind und daher keine Postleitzahl erhalten. Dadurch sind die dort lebenden BewohnerInnen von der Registrierung für Schule, Gesundheitswesen oder sonstige administrative Bereiche ausgeschlossen und können sich nur über Scheinregistrierungen in anderen Vierteln abhelfen. Es fehlt häufiger als in „offiziellen“ Vierteln an Strom und Wasser. Die Landes- und Bundesregierung weigern sich, notwendige Investitionen, für Straßen, Abwasser und Stromversorgung zu leisten, obwohl viele der Millionen BewohneIinnen in den Vierteln landesweit arbeiten und Steuern zahlen. Marielle war eine schwarze linke Aktivistin, sie lebte in einer lesbischen Beziehung und hinterlässt eine Tochter. Marielle schaffte es trotz Armut, zu studieren und einen Master in Soziologie und Verwaltung abzuschließen. Marielles Herkunft, Hautfarbe und Geschlecht, waren wie unsere Schwesterorganisation LSR schreibt ebenfalls Faktor in der Ermordung. Denn „alle 21 Minuten wird in Brasilien eine junge schwarze Person getötet. Von 100 Mordfällen, sind 71 schwarz. Die gezielte Tötung von schwarzen Frauen ist zwischen 2005 und 2015 um 22 Prozent gestiegen, während die Rate der ermordeten Nicht-Schwarzen um 7,6 Prozent gesunken ist“ (die englischsprachige Stellungnahme unserer brasilianischen Sektion findet ihr hier: http://socialistworld.net/index.php/international/americas/45-brazil/969...).

Polizeigewalt gegen Schwarze

2016 wurde Marielle als erste schwarze Frau mit dem fünfthöchsten Ergebnis als Abgeordnete für den Bundesstaat Rio de Janeiro für die linke Partei PSOL gewählt. PSOL ist für seine heterogene Sozialstruktur bekannt. Erst kürzlich wurden die indigene Aktivistin Sonía Guajajara und Guilherme Boulos, Aktivist der Bewegung ArbeiterInnen ohne Wohnraum, als PräsidentschaftskandidatInnen gewählt, für die im November anstehende Präsidentschaftswahl. Trennung zwischen den sogenannten ‚indentitären‘ und ‚sozialen‘ Themen, wie sie derzeit noch in der LINKE diskutiert werden, sind hier ein weiteres Mal überwunden worden und ein breites Bündnis von ArbeiterInnen, die unterschiedlich von Diskriminierung und Ausbeutung betroffen sind, konnte sich in den letzten Jahren formieren. Marielle leistete dazu einen wichtigen Beitrag. Als Abgeordnete vom Bundesstaat Rio de Janeiro engagierte sie sich überwiegend für die Sichtbarmachung polizeilicher Repressionen in den Favelas in Rio de Janeiro. Dort kommt es immer wieder zu Gefechten zwischen Drogen- und Schmugglerbanden und der Militärpolizei. Diese ist ein strukturelles Erbe aus der Militärdiktatur Brasiliens und mit extrem rechten Kräften durchzogen. So werden in den Armenvierteln und Favelas täglich willkürliche Razzien durchgeführt und immer wieder kommt es zu kaltblütigen Erschießungen unbewaffneter Schwarzer. So fragte Marielle in einem ihren letzten Facebook-Posts: „Zu wie vielen Toten muss es noch kommen, damit dieser Krieg endlich aufhört?“

Ausnahmezustand

Ende Februar verhängte die Bundesregierung im Bundesstaat Rio de Janeiro den Ausnahmezustand, angeblich sei die Kriminalitätsrate enorm gestiegen. Das hatte zur Folge, dass heute in den Favelas nicht nur die Militärpolizei, sondern auch das Militär inklusive Panzer patrouillieren darf. Dieser Einsatz und die Debatte um die angebliche Zunahme der Gewalt in Rio de Janeiro sind schlicht ein Ablenkungsmanöver der aktuellen – nicht gewählten – Regierung des rechts-konservativen Präsidenten Michael Temer, von der Regierungskrise. Denn aufgrund des enormen Widerstandes kann er derzeit eine drastische Rentenkürzung im öffentliche Dienst nicht durchsetzen, da er dafür die Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament benötigt. Der Ausnahmezustand in Rio de Janeiro führte dazu, dass Temer die Abstimmung über die Kürzung verschieben konnte und er sich jetzt keine Niederlage einfangen musste. Ein Schelm wer Böses dabei denkt, dass der Ausnahmezustand genau drei Tage vor der Abstimmung verhängt wurde. „Temer“ bedeutet im Portugiesischen übrigens „Befürchten“ und der Name ist Programm. Die Armut und die soziale Ungleichheit haben sich seit seiner Amtsübername drastisch verschärft. Insbesondere gegen sozialdemokratische und linke Kräfte geht der Staat immer aggressiver vor. In Rio de Janeiro vergeht seit den Protesten 2013 kaum ein Protest ohne den massiven Einsatz von Tränengas und Gummigeschossen. Es ist normal geworden, sich mit Schutzbrille und Gasmaske auf Demonstrationen zu begeben. Als das Militär Ende Februar in den Favelas von Rio einrückte, forderte Marielle einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss, um die Arbeit des Militärs zu kontrollieren. Marielle selbst wurde Vorsitzende dieses Ausschusses und prangerte scharf jeden Übergriff und jede neue Ermordung von Schwarzen an. Erst in der letzten Woche wurden zwei Menschen erneut von der Polizei erschossen. Marielle machte das öffentlich.

Direkt am Tag, nach Marielles Ermordung gingen etwa eine Million Menschen in ganz Brasilien auf die Straße. In São Paulo waren etwa 100.000 Menschen unterwegs um zu trauern, um ihre Wut über die Regierung auszudrücken und ihren Rücktritt zu fordern. Temer wandte sich ebenfalls an die Bevölkerung und prangerte die ‚feige Tat‘ an. Doch seine Rolle in dem sozialpolitischen Gefecht zwischen den Klassen, ist unübersehbar. Jetzt geht es darum die Bewegung gegen die Temer- Regierung und die rassistische Polizeigewalt, sowie die sexuellen Übergriffe weiter aufzubauen. Im São Paulo sind zehn weitere Landes- und Wohnraumbesetzungen geplant, bei denen es vor allem auch darum geht, Frauen aus Beziehungen mit häuslicher Gewalt, durch Wohnraum eine neue Perspektive zu geben. Die Mehrheit der BesetzerInnen besteht aus schwarzen Frauen. Das politische Erbe, das Marielle für diese Bewegungen hinterlässt, ist riesig. In einem Gedicht von PSOL- AktivistInnen heißt es: „Warum wurde Marielle umgebracht? Weil sie eine Aktivistin, eine Frau, eine Schwarze, eine Jugendliche, eine Mutter, eine Soziologin war, weil sie das Potential hatte, die Dinge zu verändern. […] Der Tod von Marielle soll nicht umsonst sein. Unsere Trauer soll in Kraft umgewandelt werden. Die Kraft Marielles ist in uns. Sie veränderte, verändert und wird Strukturen verändern.“