Machtkampf in der Ukraine

Imperialistischer Widerstreit und Konflikte innerhalb der herrschenden Klasse bringen die Ukraine an den Rand des Bürgerkrieges
Aron Amm, Berlin

Nach der Präsidentenwahl am 21. November und der Erklärung Janukowitschs zum Wahlsieger gingen tage- und nächtelang Hunderttausende in Kiew und anderen Städten auf die Straße. Sie protestierten gegen Wahlfälschungen und ergriffen für den Gegenkandidaten Juschtschenko Partei. Im Westen stellen bürgerliche Politiker und Pressevertreter die Auseinandersetzung zwischen den beiden Präsidentschaftskandidaten als einen Konflikt zwischen Demokratie und Diktatur dar. Davon kann keine Rede sein.
Juschtschenko und Janukowitsch gehören beide zur neuen aufstrebenden Kapitalistenklasse der Ukraine, die sich nach dem Zusammenbruch des Stalinismus den Reichtum des Landes aneignen konnte. So war der Oppositionelle Juschtschenko von 1993 bis 1999 Chef der ukrainischen Zentralbank, danach bis April 2001 Ministerpräsident unter demselben Kutschma, der sich heute auf die Seite von Janukowitsch geschlagen hat. Juschtschenko gilt als Architekt der Liberalisierung der ukrainischen Wirtschaft und ermöglichte die Plünderung öffentlichen Eigentums. Während sich eine kleine Clique maßlos bereichern konnte, ist die ukrainische Bevölkerung (knapp 50 Millionen Menschen) mit einem durchschnittlichen Monatseinkommen von 65 Euro die ärmste Europas.

Ukrainische Elite gespalten

Die Rivalität unter den zwei Präsidentschaftskandidaten hat nichts mit Spannungen zwischen autoritären Herrschaftsmethoden und angeblich demokratischen Bestrebungen zu tun. Sie repräsentieren lediglich unterschiedliche Vorstellungen innerhalb der herrschenden Klasse darüber, wie Macht und Einfluss am Besten aufrechterhalten und erweitert werden können. Juschtschenko verkörpert den Flügel im bürgerlichen Lager, der für eine forcierte Öffnung der Wirtschaft gegenüber dem Westen eintritt. Juschtschenko möchte den Handel mit den USA und der Europäischen Union fördern und spekuliert auf einen Beitritt in die EU.
Hinter Juschtschenko und Janukowitsch stehen rivalisierende imperialistische Machtzentren. Die westlichen Staaten stellen sich hinter Juschtschenko. Sie zielen darauf ab, eine Machtausdehnung des neuen imperialistischen Russlands zu verhindern. Außerdem ist die Region als Transportweg für die Öl- und Gasvorräte aus verschiedenen Teilen der ehemaligen Sowjetunion von zentraler geostrategischer Bedeutung. 80 Prozent der russischen Erdgaslieferungen nach Westeuropa werden durch die Ukraine geleitet. “Die Ukraine ist ein viel zu wichtiger Transportkorridor für Energieträger, sowohl für russisches Öl und Gas als möglicherweise für die Reserven am Kaspischen Meer, als dass das Land zum Spielball des Kremls werden dürfte” (Handelsblatt vom 23. November).
Auf der anderen Seite stärkt der russische Präsident Putin Janukowitsch den Rücken, um die Vorherrschaft Russlands in Osteuropa zu festigen und den Einfluss auf Zentralasien erhöhen zu können. Dort versucht sich Putin gegenüber den USA zu behaupten, die kürzlich eine Reihe von Militärbasen aufgebaut haben. In den letzten Jahren hat Putin immer mehr Macht auf sich vereinigt und demokratische Rechte abgebaut. Damit im eigenen Land der Ruf nach demokratischen Rechten nicht lauter wird, ist ihm auch an autoritären Strukturen in der Ukraine gelegen.

Zwischenimperialistische Spannungen

Westliche Politiker vergießen Krokodilstränen. Ihre Anteilnahme gegenüber den Massenprotesten in der Ukraine, die sich auf Grund von Wahlfälschungen und Korruption empören, ist durch und durch verlogen. Sie halten engste Beziehungen zu Diktaturen aufrecht, in Afghanistan oder in Niegeria hatten sie an den jüngsten Wahlen nichts auszusetzen, da mit Karsai und Obasanjo prowestliche Regierungschefs gestützt wurden. Dabei wurde in beiden Fällen das Wahlrecht massiv missachtet.
Auch wenn der Westen im Bezug auf die Ukraine an einem Strang zu ziehen scheint, so ist er doch in anderen Fragen tief zerstritten. Neben den Differenzen während des Irak-Krieges zeigt sich das in den Anstrengungen, konkurrierende Wirtschaftsblöcke (die EU als ökonomische, politische und militärische Gegenkraft zu den USA und der NAFTA) zu schaffen.
Gleichzeitig bestehen zwischen Russland und den USA trotz aller wirtschaftlicher und politischer Spannungen auch gegenseitige Abhängigkeiten. Darum war Putin der erste, der Bush zu seiner Wiederwahl gratulierte.
Unter den DemonstrantInnen der letzten Tage waren viele, vor allem Jugendliche, die sich mit ihrer Unterstützung für Juschtschenko gegen den Abbau demokratischer Rechte zur Wehr setzen wollen. Zur gleichen Zeit scheinen sich Kohle- und StahlarbeiterInnen im Donetzbecken im Osten der Ukraine auf die Seite Janukowitschs zu schlagen, weil sie unter Juschtschenko die Zukunft ihrer Gruben und Arbeitsplätze bedroht sehen. Außerdem fürchtet die russische Minderheit, die mehr als ein Fünftel der Bevölkerung ausmacht, Benachteiligungen unter dem prowestlichen Juschtschenko.
Doch weder Juschtschenko noch Janukowitsch verteten die Interessen von ArbeiterInnen und Jugendlichen. SozialistInnen können im Machtkampf der ukrainischen Kapitalistenklasse keine Seite unterstützen. Es führt kein Weg daran vorbei, die schwachen Kräfte unabhängiger Gewerkschaften zu unterstützen, Arbeitskämpfe und Jugendproteste zu fördern und auf dieser Basis in der Ukraine eine politische Alternative zu Korruption, Kürzungspolitik und Kapitalismus aufzubauen.

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