Leninismus contra Stalinismus (1999)

Ianka Pigors - CWI-Deutschland

Vor 75 Jahren, am 21. Januar 1924 starb Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin. Er ist eine der bedeutendsten und umstrittensten Figuren dieses Jahrhunderts. In einem Punkt sind sich Anhänger wie Gegner einig: Ohne Lenin wäre die Oktoberrevolution, der Sturz des Kapitalismus in Russland, wahrscheinlich unmöglich gewesen. Die heute herrschende Geschichtsauffassung beschreibt Lenin als Vorläufer Stalins. Angeblich hätte das totalitäre Regime des Stalinismus seine Wurzel in den politischen Ideen und der politischen Praxis Lenins und der Bolschewiki. Musste der erste Versuch, den Kapitalismus durch ein anderes Gesellschaftssystem zu ersetzen unweigerlich zum dem Typ stalinistischer Staaten führen, wie er bis 1989/90 in Osteuropa herrschte? Oder wieso konnte Stalin nach Lenins Tod uneingeschränkte Macht entwickeln?
Russland 1917: Der Zar war im Februar vom Volk gestürzt worden. Die Arbeiter und Bauern forderten „Frieden, Land, Brot“. Doch die probkapitalistische Regierung, die auf die Zarenherrschaft gefolgt war, zeigte sich unfähig auch nur eine dieser Forderungen zu erfüllen. Unter Führung der Bolschewiki gelang es, auch diese Regierung durch die Revolution im Oktober 1917 zu stürzen. Die Macht lag in den Händen der demokratisch gewählten Arbeiter und Soldatenräte. Wie die Bolschewiki versprochen hatten, wurde sofort ein Waffenstillstand mit Deutschland erklärt. Die Großgrundbesitzer wurden enteignet, das Land unter den Bauern verteilt, bereits erfolgte Landbesetzungen wurden legalisiert. Die Menschen bildeten Komitees, die die verschiedensten Lebensbereiche organisierten. Frauen erhielten das Wahlrecht. Fast noch wichtiger waren die Versuche, die gesellschaftliche Benachteiligung der Frauen zu beenden. Um die Frauen von der Hausarbeit zu befreien, wurde mit der Planung von Kindergärten, Speisehäusern, öffentlichen Waschanstalten etc. begonnen. Der alte undemokratische Staatsapparat wurde zerschlagen. Richter wurden wähl und abwählbar. Die geheimen Verträge der ehemaligen Regierung mit anderen Ländern wurden veröffentlicht. Die Gesellschaft sollte von jetzt an von den Massen durch ihre demokratischen Organisationen – die Sowjets (Räte) – gelenkt werden. Das revolutionäre Russland besaß große Anziehungskraft auf die Arbeiter und die kriegsmüden Soldaten in den anderen Ländern. In dieser Zeit besaß das Land das demokratischste Regierungssystem, das je existiert hatte. Die einzige Partei, die verboten wurde, waren die „Schwarzen Hundert“, eine faschistische Partei.

Der Bürgerkrieg

Die Sowjetregierung sollte nicht viel Zeit für „sozialistische Experimente“ bekommen. Im Frühjahr 1918 organisierte sich die erste „weiße“ konterrevolutionäre Armee unter General Kornilow. Im Juli organisierten die rechten Sozialrevolutionäre einen Aufstand. Ihr Ziel war die Wiederaufnahme des Krieges und der Sturz der Arbeiterregierung. Dieser Aufstand wurde von Revolutionstruppen niedergeschlagen. Mitte 1918 wurden die Partei der Menschewiki und die der rechten Sozialrevolutionäre wegen ihrer Teilnahme am Bürgerkrieg gegen die Sowjets auf Seiten der Weißen Armeen verboten. Die Partei der linken Sozialrevolutionäre wurde kurz darauf verboten, nachdem sie den deutschen Botschafter ermordet und einen Mordversuch gegen Lenin unternommen hatten. Aber Lenin verwies darauf, dass es sich dabei um eine vorübergehende Notmaßnahme handele. Eine Maßnahme, die den russischen Arbeitern helfen würde, die Stellung solange zu halten bis auch die Arbeiter in Deutschland und anderen Ländern selbst eine Revolution machen würden. Lenin hatte nie die Idee, dass ein Ein-Parteien-Regime die Regel eines Arbeiterstaates darstelle – eine Fälschung, die später von Stalin aufgebracht wurde und heute auch bei uns offizielle Geschichtsschreibung ist. Im Juli begann die Intervention der Alliierten. Die größte Rolle spielten England, Frankreich, die USA und Japan. Deutschland hatte nach dem Frieden von Brest Litowsk große Teile der Ukraine besetzt. Alle ausländischen Mächte unterstützten antisowjetische Regierungen und Armeen mit Truppen, Waffen und Geld. Die Arbeiterregierung mussten eine Armee aus dem Boden stampfen, um sich zu verteidigen. Die Ausgangslage hierfür war alles andere als rosig. Der Friede von Brest-Litowsk hatte das Land wichtige Landwirtschafts- und Rohstoffgebiete gekostet. Die Aufteilung der großen Güter in kleine Bauernhöfe führte zu einem Produktivitätsverlust in der Landwirtschaft. Der Weltkrieg hatte die normale Industrieproduktion bereits geschädigt. Der Bürgerkrieg führte zum Zusammenbruch der Produktion. Die Bauern, die so keine Industrieprodukte als Gegenleistung für ihre Nahrungsmittel mehr bekommen konnten, wollten nicht umsonst arbeiten. Sie versuchten, die Waren bis zur Verbesserung der Lage zu horten.

Hunger

Die Arbeiterregierung, die sowohl die Armee, als auch die hungernden Städte ernähren musste, reagierten darauf mit gewaltsamen Beschlagnahmungen. Die Bauern produzierten daraufhin nur noch für den eigenen Gebrauch. Das änderte nichts am Bedarf. Die städtischen Sowjets schickten bewaffnete Trupps, die nach Getreide suchen sollten. Die Bauern wehrten sich, es kam zu blutigen Auseinandersetzungen. Hunger wurde überall zu einem ernsten Problem. Die Unzufriedenheit wuchs. 1921 kam es zu einer Serie von Bauernaufständen und einer damit verbundenen Revolte neu eingezogener bäuerlicher Matrosen in Kronstadt. Dies stärkte den Einfluss von Anhängern der Sozialrevolutionäre, der Menschewiki und anarchistischer Strömungen Die Bolschewiki konnten dem politisch wenig entgegensetzen ihre besten Leute kämpften an der Front oder waren gefallen. Armee und Städte konnten nicht auf Nahrungsmittel warten. Verzweifelt griffen sie zu Zwangsmaßnahmen. Es kam zur gewaltsamen Unterdrückung von Hungerprotesten und Streiks. Parallel zu diesem Prozess fand ein Absterben der Sowjets statt. Im Interesse einer effektiven Kriegführung wurden die Kompetenzen der lokalen Sowjets immer mehr von zentralistischen militärischen Organisationen beschnitten. Gleichzeitig sank die Bevölkerung der Städte. Die Leute versuchten vor dem Hunger aufs Land zu fliehen. Der Zusammenbruch der Produktion zerstörte den Zusammenhalt der Arbeiterviertel. Die politisch bewusstesten Arbeiter hielten an den Bürgerkriegsfronten die gefährlichsten Abschnitte und fielen massenhaft. Auch dadurch bluteten die Sowjets aus. Nicht zuletzt wurden gefangene Sowjetmitglieder, egal ob Bolschewiki oder nicht, von den Weißen Truppen niedergemetzelt. Bei der Rückeroberung der Gebiete durch die Rote Armee lebten die Sowjets selten wieder auf. Statt begeisterter Aufbaustimmung herrschte in Russland jetzt ein verzweifelter Überlebenskampf. Gab es eine Alternative? Es ist klar, dass eine Kapitulation vor den monarchistischen und diktatorischen Bürgerkriegsgenerälen Selbstmord gewesen wäre. Es hätte die Errichtung einer Militärdiktatur wie unter Suharto in Indonesien oder unter Pinochet in Chile bedeutet.

Bürokratisierung

Die junge Sowjetunion gewann den Krieg. Aber die Folgen des Krieges waren verheerend: etwa 6 Mio. Tote, weite Teile des Landes verwüstet, die Industrie zerstört, die Arbeiterklasse verstreut und ausgedünnt, unzählige der begeistertsten Leute gefallen, das Rätesystem lag am Boden. Mangel an allem war das wichtigste Kennzeichen dieser Zeit. Mangel zwingt die Menschen zu Verteilungskämpfen. Der Staat musste eingreifen, damit nicht das Recht des Stärkeren herrschte. Die Staatsbediensteten waren aber ebenfalls in die Verteilungskämpfe verwickelt. Das allgemeine Elend bot ihnen die Chance, ihre Position auszunutzen. Das begünstigte bürokratische Entwicklungen. Im Krieg war die Regierung gezwungen gewesen, zaristische Funktionäre mit Privilegien in ihrem Dienst zu halten, um das fehlende Wissen vor allem in militärischen Fragen auszugleichen. Auch viele Bolschewiki fanden im Kampf gegen das Chaos und den allgegenwärtigen Mangel die „militärische Methode“ angenehm effektiv. Auch dadurch wurde die Entstehung einer unpolitischen, auf ihr eigenes Wohl bedachten Funktionärsschicht gefördert.

Neue ökonomische Politik

1921 waren die sozialistischen Revolutionen in den anderen Ländern gescheitert. Die Bolschewiki mussten sich darauf einrichten, längere Zeit ohne Hilfe von Außen zu überstehen. Die wichtigste Aufgabe war der Wiederaufbau der Wirtschaft. Nach dem Ende des Krieges konnten die Bolschewiki die Armee demobilisieren. Sie entschlossen sich, den Bauern kleinkapitalistischen Handel zu erlauben. Lenin war klar, dass ein solcher Schritt langfristig wieder zu Kapitalismus führen würde. Die Isolation der Sowjetrepublik ließ ihm jedoch keine Wahl als einen kontrollierten Rückzug. Er hoffte, durch eine Erholung der Landwirtschaft, Ressourcen für eine staatlich geplante Industrialisierung freizusetzen. Die sogenannte NÖP – Neue ökonomische Politik – verhinderte den wirtschaftlichen Kollaps – allerdings sehr zum Nachteil der Städte gegenüber dem Land. Sie förderte gleichzeitig die Bildung einer Schicht von Zwischenhändlern und Großbauern. Diese begannen mit den Funktionären aus Staat und Partei zusammenzuarbeiten. Lenin war sich des Problems bewusst. Er setzte durch, dass die Mitgliedschaft der Partei auf Karrieristen und Bürokraten überprüft wurde. Eine größere Zahl von Mitgliedern wurde ausgeschlossen. Das waren in der Regel Leute, die sich aus eigennützigen Motiven der Partei angeschlossen hatten, nachdem der Bürgerkrieg vorüber war und sie sich von einer Parteimitgliedschaft nicht Gefahren sondern persönliche Vorteile versprachen. Ende Mai 1922 erlitt Lenin seinen ersten Schlaganfall, der ihn bis zum Herbst von der politischen Arbeit fernhielt. Während dessen nahm die Bürokratisierung immer mehr zu. Um sie zu bekämpfen, trat Lenin für die Aufstellung einer „Arbeiter- und Bauerninspektion“ ein, einer Art Anti-Korruptions-Einheit.

Stalin

An ihre Spitze wurde ausgerechnet Stalin gestellt, den er wegen seinen organisatorischen Fähigkeiten schätzte. Die Position in der „Arbeiter und Bauerninspektion“ gab ihm ideale Möglichkeiten, sich eine ergebene Hausmacht zuzulegen. So wurde die Inspektion selbst ein Teil des Problems. Stalin war für die sich entwickelnde Bürokratie der geeignete Anführer. Er hatte organisatorisches Talent, Machtbewusstsein, wenig Skrupel und ein beschränktes politisches Verständnis. Das schien den Bürokraten ideal. Lenin war sich der Probleme in dem von Armut und Krieg gezeichneten, wirtschaftlich rückständigen Lande bewusst. Er meinte, die Sowjetunion sei ein Arbeiterstaat aber kein gesunder Arbeiterstaat. Aber es dauerte seine Zeit bis er erkannte, wie weit die Bürokratisierung in der Partei fortgeschritten war. 1922 fand er heraus, dass Stalin die besten Führer der georgischen Bolschewiki ausgeschaltet hatte. Er hatte sie durch seine Anhänger ersetzt, um den Anschluss Georgiens an Russland durchzusetzen. Lenin war alarmiert. Die Kaltschnäuzigkeit, mit der sich Stalin – gegen das Programm der Bolschewiki – über die nationalen Interessen des kleinen Georgiens hinwegsetzte, erinnerte ihn stark an den großrussischen Chauvinismus der Zarenzeit. Einmal aufgeschreckt begann Lenin ein Programm für den Kampf gegen die Bürokratie zu entwickeln. Die erste Maßnahme sollte die Erweiterung des Zentralkomitees um zahlreiche junge Arbeiter aus den unteren Rängen der Partei werden. Trotzki wurde der Einzige, dem er bei diesem Kampf vertraute. Aber Lenin wurde nie wieder gesund. Am 9.3. 23 erlitt er seinen dritten Schlaganfall. Er konnte bis zu seinem Tod am 21. 1. 24 nicht mehr politisch arbeiten. Trotzki und die „Linke Opposition“ führten den Kampf weiter. Aber Stalins Anhänger setzten sich immer mehr durch. 1924 holten sie mit dem sogenannten „Leninaufgebot“ ca. 250.000 neue Mitglieder in die Partei. Diese Leute waren nicht während der Revolution oder im Bürgerkrieg eingetreten, als es gefährlich war, das Parteibuch zu besitzen. Erst jetzt, in der NÖP Zeit, drängten sie in die Partei. Die meisten von ihnen waren offensichtlich keine Kommunisten. Der Zustrom von unpolitischen Kräften versetzte der Partei Lenins den Todesstoß. Sie war nicht länger die Partei der fortschrittlichsten und entschlossensten Arbeiter Russlands.

Sozialismus in einem Land?

Parallel zu dieser Entwicklung schuf sich die Bürokratie ihre eigene Ideologie. Ihre Ideen waren aber nicht dazu da, die Gesellschaft zu erklären. Ihr Zweck war allein, die Unabänderlichkeit der herrschenden Verhältnisse zu begründen. Ihr Dogma war Stalins Idee vom „Sozialismus in einem Land.“ Sie besagte, dass der Revolutionsprozess abgeschlossen sei, und man nun mit dem Aufbau des Sozialismus beginnen werde. Diese Idee entsprach der Stimmung weiter Teile der Bevölkerung, die nach den Jahren von Krieg und Bürgerkrieg auch politisch ausgezehrt und müde geworden war. Lenin hat zu keinem Zeitpunkt die Idee vertreten, man könne den Sozialismus in einem Land aufbauen. Er sah die russische Revolution als Beginn einer Kette von Revolutionen in den anderen Ländern der Welt. Der fundamentale Unterschied zwischen Lenin und Stalin in dieser Frage widerspiegelt sich im Schicksal der Kommunistischen Internationale. Sie war 1919, mitten im Bürgerkrieg, in Moskau gegründet worden und wurde 1943 von Stalin aufgelöst.

Terrorherrschaft

Stalin installierte eine Terrorherrschaft, der auch viele Bolschewiki der Revolutionszeit zum Opfer fielen. Auch die Führer der linken Opposition wurden erst aus der Partei ausgeschlossen, dann eingesperrt oder verbannt und schließlich umgebracht. Stalin brauchte immerhin 12 Jahre, bis zum Ende der Moskauer Prozesse Mitte/ Ende der 30er Jahre, bis er jede organisierte Opposition ausgemerzt hatte. Das allgemeine Elend durch den Bürgerkrieg und die Tatsache dass die Revolution auf das rückständige Russland beschränkt blieb, hat zum Aufstieg der Bürokratie unter Stalin geführt. Die Lehre daraus ist nicht, auf Sozialismus zu verzichten. Die Lehre daraus ist, heute in allen Ländern revolutionäre sozialistische Parteien aufzubauen und eine revolutionäre Arbeiterinternationale. Der Kampf für Sozialismus beginnt in jedem einzelnen Land und ist erst zu Ende, wenn weltweit mit dem Kapitalismus auch Krieg, Armut und die Unterdrückung des Menschen durch den Menschen abgeschafft sind.

(zuerst erschienen in der VORAN - heute Solidarität -  202 im Februar 1999)