Lafontaine und die Linke

Eine Bewertung der Entwicklungen in WASG und Linkspartei/PDS
Sascha Stanicic, CWI-Berlin

Mit ihren Vorstößen gegen junge Erwerbslose und alte Erwerbstätige (Kürzung des ALG II für unter 25-Jährige und Heraufsetzung des Renteneinstiegsalters auf 67 Jahre) und den Arbeitszeitverlängerungen im öffentlichen Dienst setzen SPD und CDU/CSU die Offensive von Regierung und Kapital fort. Die Kapitalisten wiederum verschärfen ihre Strategie der Werksschließungen und Arbeitsplatzvernichtung trotz steigender Profite. Vor diesem Hintergrund kommt der Schaffung einer starken linken Partei eine wachsende Bedeutung zu.

Der Widerstand von Belegschaften nimmt mit den bundesweiten Streiks im öffentlichen Dienst und einer ganzen Reihe von betrieblichen Streiks und Arbeitskämpfen zu. Die Chance, diese vielen, aber weitgehend isolierten Kämpfe zu verbinden und zusammen zu fassen, wird von den Gewerkschaftsführungen bisher ignoriert. Jeder kämpft für sich alleine. Auch WASG und Linkspartei/PDS und ihre Bundestagsfraktion haben bisher keine konkreten Initiativen entwickelt, um die betrieblichen Kämpfe mit dem notwendigen politischen Widerstand gegen die Maßnahmen der Großen Koalition zu verbinden.

Die Arbeitskämpfe sind ein wichtiger Hintergrund für die Entwicklungen in WASG und Linkspartei/PDS. Zum einen, weil sie einen – oft unsichtbaren – Druck auf die Linke ausüben, denn viele WASG-Mitglieder sind gewerkschaftlich engagiert und selber von den Angriffen der Unternehmer betroffen. Diese erwarten von ihrer Partei Unterstützung beziehungsweise spüren die Erwartung anderer KollegInnen. Zum anderen, weil sie die Notwendigkeit einer gemeinsamen politischen Perspektive für den Widerstand deutlich machen. Nur ein politisches Programm, das die gesellschaftlichen Ursachen von zum Beispiel Arbeitsplatzabbau bei AEG und Arbeitszeitverlängerung im öffentlichen Dienst zum Ausgangspunkt nimmt, kann diese unterschiedlichen Kämpfe vereinigen.

Die Entwicklungen in der WASG und der Linkspartei/PDS sind widersprüchlich, aber es gibt eine Entwicklung. Es tut sich etwas! Die entscheidenden Ereignisse sind die Auseinandersetzung um die Frage des eigenständigen Wahlantritts der WASG bei der Berliner Abgeordnetenhauswahl im September und der radikalere Ton in den Äußerungen Oskar Lafontaines und anderer WASG-Führungsfiguren. Ersteres verhält sich zu letzterem wie Ursache zu Wirkung. Neben der Zunahme an betrieblichen Kämpfen ist es der ungebrochene Widerstandsgeist des Berliner Landesverbands der WASG, der eine enorme Polarisierung in der gesamten Bundespartei, eine veränderte Positionierung bei Lafontaine und der WASG-Führung in einigen Fragen und selbst eine gewisse Zunahme von Debatten innerhalb der Linkspartei/PDS ausgelöst hat.

Die Berliner WASG ist nicht bereit, die Grundsätze der Partei über Bord zu werfen und eine gemeinsame Kandidatur mit der als Teil des Senats für arbeitnehmerfeindliche Politik mitverantwortlichen Berliner Linkspartei/PDS durchzuführen. Sie geht zu Recht davon aus, dass sie erstens eine gute Chance hat, als soziale Opposition ins Berliner Abgeordnetenhaus einzuziehen und zweitens dies ein Beitrag dazu sein wird, den bundesweiten Neuformierungsprozess der Linken auch auf eine linke Grundlage zu stellen. Beide Annahmen haben schon in den letzten Wochen eine Bestätigung gefunden: Nach einer Meinungsumfrage vom 13. Februar liegt die WASG schon – noch bevor sie überhaupt beschlossen hat zu kandidieren – bei 4,3 Prozent. Vor allem aber hat ihre prinzipienfeste Haltung eine bundesweite Debatte über Sinn und Unsinn der Regierungsbeteiligungen der Linkspartei/PDS bewirkt und innerhalb der WASG geradezu einen Aufruhr gegen eine schnelle und zentralistisch durchgeführte Fusion beider Parteien ausgelöst.

Während Oskar Lafontaine noch im November 2005, zeitgleich zum damaligen Landesparteitag der WASG Berlin, die Regierungsbeteiligung der Linkspartei/PDS in Berlin verteidigt hat, steht mittlerweile Kritik an den politischen Maßnahmen des Berliner Senats im Vordergrund seiner Aussagen (siehe Kasten). Klaus Ernst, Mitglied im geschäftsführenden Bundesvorstand der WASG, sagte den Delegierten der Berliner Partei noch im November: „Das, was Ihr hier macht, geht nicht!“ Mittlerweile ruft er aus: „Privatisierung und Tarifflucht in Landesregierungen geht nicht!“ Und: „Der Wahnsinn sitzt in Berlin auf der anderen Seite!“ – gemeint ist die Linkspartei/PDS.

Lafontaine und Ernst argumentieren weiterhin für eine gemeinsame Kandidatur in Berlin, allerdings bedienen sie sich dabei mittlerweile der politischen Argumente der BefürworterInnen einer eigenständigen Kandidatur: Opposition gegen Privatisierung, Lohnkürzungen, Sozialabbau. Insbesondere Lafontaine will den Eindruck erwecken, dass er den Führungsanspruch für die neue Partei erhebt und diese sich deutlich linker positionieren wird, als es die PDS in der Vergangenheit getan hat.

Sicher hat der verbale Linksschwenk Lafontaines auch ein wichtiges taktisches Element. Scheinbar soll nach der Devise „Umarmung statt Konfrontation“ die Berliner WASG-Basis von einer eigenständigen Kandidatur abgehalten werden. Aber seine veränderte Positionierung geht doch darüber hinaus und ist von erheblicher Bedeutung für die Entwicklung einer neuen linken Partei in der Bundesrepublik.

Man muss zur Kenntnis nehmen, dass Lafontaine sich in einer ganzen Reihe von Fragen deutlich links von der Sozialdemokratie und der Regierungs-PDS positioniert hat. Das gilt für seine Ablehnung des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr, seine Forderung nach der Rücknahme von Agenda 2010 und Hartz IV, seine Unterstützung von deutlicheren Lohnerhöhungen und des Flächentarifs und seine Ablehnung von Privatisierungen öffentlichen Eigentums. Außerdem spricht er davon, eine antikapitalistische Partei aufbauen zu wollen.

Und man muss zur Kenntnis nehmen, dass er versucht, seine Ideen und Positionen in die Linke und die Bevölkerung zu vermitteln. Die Bedeutung seines Auftritts auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz der jungen Welt im Januar, seiner Besuche bei streikenden und protestierenden Belegschaften und der gegen die Mehrheit der Linkspartei/PDS-Stadtratsfraktion gerichteten Veranstaltung in Dresden ist nicht zu unterschätzen.

Fritz Schmalzbauer, WASG-Bundesvorstandsmitglied, berichtete von Lafontaines Auftritten bei protestierenden ArbeiterInnen und sagte, dass habe er seit der Begeisterung für Willy Brandt zu Beginn der siebziger Jahre nicht mehr erlebt: stehende Ovationen und „Oskar, Oskar“-Sprechchöre. Diese Resonanz alleine drückt das Potenzial für eine Partei der Lohnabhängigen und Erwerbslosen  aus. In der positiven Reaktion der KollegInnen zeigt sich die Erleichterung, dass endlich mal wieder ein prominenter Politiker der Linken deutlich sagt: Es reicht! Eine Rede, wie Lafontaine sie vor den streikenden AEG-KollegInnen in Nürnberg gehalten hat, stellt eine Ermutigung für solche Kämpfe dar. Darin hatte er unter anderem gesagt, dass das Werk ja eigentlich ihnen gehöre und nicht ohne ihre Zustimmung geschlossen werden dürfe.

Gleichzeitig zeigt sich auch, dass die Erwartungshaltung – angesichts des sonstigen neoliberalen Einheitsbreis – relativ gering ist. Eine glaubwürdige Haltelinie gegen die Angriffe von Regierung und Kapital und gegen den Neoliberalismus reicht zur Zeit aus, um sich von allen anderen Parteien zu unterscheiden und dementsprechend zu profilieren. Lafontaine scheint mittlerweile verstanden zu haben, dass aber die Politik der Linkspartei/PDS an den Landesregierungen genau diese Haltelinie überschreitet und deshalb nicht dazu dienlich ist, Unterstützung für eine neue Partei zu mobilisieren, sondern einen gegenteiligen Effekt hat. Diese Erkenntnis, zusammen mit der wachsenden Klassenpolarisierung und den beginnenden betrieblichen Kämpfen, ist die Grundlage für seine offensive Kritik an kommunalen Privatisierungen. Das bedeutet allerdings nicht, dass er sich grundsätzlich dagegen ausspricht, durch eine Strategie von Regierungsbeteiligungen auf Landesebene die erwünschte „Regierungsfähigkeit“ im Bund zu erlangen. Auf einer Veranstaltung am 20. Februar in Berlin hat er eine Politik des „kleineren Übels“ offensiv verteidigt. Nach dieser Logik sind Regierungsbeteiligungen, die Sozialabbau und Privatisierungen beschließen, gerechtfertigt, wenn sie zu erwartende schlimmere Maßnahmen durch eine andere Regierung verhindern. Dieser Logik liegt der Gedanke zugrunde, dass soziale Kämpfe und selbst Generalstreiks nicht den nötigen Druck zur Verhinderung von Angriffen ausüben können und Regierungsbeteiligungen entscheidend sind, um der neoliberalen Offensive Einhalt zu gebieten.

Gleichzeitig sind den radikalen Worten bisher zu wenig Taten gefolgt. Vor allem die Bilanz der Arbeit der Bundestagsfraktion ist dünn. Nicht einmal ein Antrag zur kompletten Rücknahme von Hartz IV wurde bisher gestellt. Bundestagsabgeordnete der Linken drücken zwar ihre Solidarität mit den streikenden ver.di-KollegInnen und anderen Belegschaften aus, haben aber bisher kaum eigenständige Initiativen für die bessere Vernetzung und Ausweitung von Kämpfen ergriffen.

Wenn aber aus passiver Wahlunterstützung eine wachsende aktive Mitgliedschaft werden soll, bedarf es mehr als Worte und Gesten: Kampagnen und Mobilisierungen. Und es bedarf eines demokratischen Entstehungsprozesses einer neuen Partei, statt des sich bisher abzeichnenden zentralistischen Fusionsprozesses zwischen WASG und Linkspartei/PDS unter Ausschluss anderer linker Kräfte. In der WASG hat die paradoxe Entwicklung eingesetzt, dass eine Art demokratischer Aufbruch gegen die bürokratischen Methoden der Führung eingesetzt hat und gleichzeitig die aktive Beteiligung an Versammlungen zurückgeht.

Unter WASG-Mitgliedern wird viel spekuliert, welche Folgen eine eigenständige Kandidatur der WASG Berlin haben wird. Manche fürchten administrative Maßnahmen der Parteiführung gegen den Berliner Landesverband, eventuell sogar die Absetzung des Landesvorstands oder einen Komplett-Ausschluss. Andere sehen die Möglichkeit, dass der Flügel um Lafontaine und Ernst einfach zum Übertritt in die Linkspartei/PDS aufruft, die WASG also links liegen lässt. Beides ist nicht auszuschließen, aber unter den gegebenen Bedingungen doch nicht das Wahrscheinlichste.

In der WASG hat sich in nahezu allen Landesverbänden eine erhebliche Kritik an der Politik der Mehrheit des Bundesvorstands entwickelt. Diese richtet sich vor allem gegen mangelnde Transparenz und undemokratische Entscheidungsprozesse. Es gibt aber auch große Sorgen, dass der Gründungskonsens der Partei – gerade im Hinblick auf die Beteiligung an Sozialkürzungen betreibenden Landesregierungen – aufgeweicht werden könnte.

Der Bundesvorstand steht unter dem Druck von Rücktrittsforderungen aus verschiedenen Richtungen. Eine Mehrheit für ein administratives Vorgehen gegen den Berliner Landesverband gäbe es wahrscheinlich weder bei einem Bundesparteitag noch innerhalb des bundesweiten Länderrats. Viele Mitglieder unterstützen eine Kandidatur in Berlin oder sagen zumindest, dass dies die Entscheidung der Berliner WASG ist.

Jeder Schritt in diese Richtung beinhaltet die Gefahr einer Spaltung. Die meisten WASG-Funktionäre brauchen aber eine Hausmacht, um in einer vereinigten linken Partei Einfluss und Posten zu bekommen. Ohne tausende WASG-Mitglieder liefe die Vereinigung auch in Westdeutschland auf einen Anschluss an die Linkspartei/PDS hinaus.

Deshalb ist es möglich, dass eine eigenständige Kandidatur der WASG Berlin politisch, organisatorisch und finanziell sabotiert wird, aber durchgeführt werden kann. Dieser zu erwartenden Sabotage der Führung würde sehr wahrscheinlich die aktive und praktische Wahlkampfunterstützung von hunderten WASG-Mitgliedern gegenüber stehen, die sich auf den Weg nach Berlin machen werden.

Schafft die WASG Berlin die Fünf-Prozent-Hürde und fliegt die Linkspartei/PDS zudem noch aus der Landesregierung, wird das enorme Rückwirkungen auf den bundesweiten Neuformierungsprozess haben und den linken Flügel dabei stärken. Dies würde nicht nur für die WASG gelten. Auch in der Linkspartei/PDS würde sich auf dieser Basis etwas bewegen können. Auch wenn diese Partei nur eine sehr schwache aktive Basis hat (nach Schätzungen gibt es kaum aktive Mitglieder, die nicht in Funktionen oder Mandaten sind), kann sich äußerer Druck durch die WASG und durch soziale Bewegungen und Arbeitskämpfe auswirken. Erste Anzeichen davon sind schon heute sichtbar bei den Auseinandersetzungen innerhalb der Dresdener PDS über die Privatisierung der öffentlichen Wohnungen, bei den Auseinandersetzungen in der PDS Mecklenburg-Vorpommern und selbst bei Aussagen Berliner PDS-Funktionäre, die nun die Privatisierung der Wohnungsbaugesellschaft Mitte in Frage stellen und einen Wiedereintritt in den kommunalen Arbeitgeberverband prüfen wollen. Aber wohlgemerkt: Erstens ist Wahljahr und da täuschen alle Parteien gerne sozial und links an; zweitens geschieht diese minimale Bewegung nur durch maximalen Druck durch die WASG Berlin.

Wie auch immer die Entwicklungen genau verlaufen werden, ist damit zu rechnen, dass auf der Basis der neuen Rhetorik von Oskar Lafontaine die neue Partei, die sehr wahrscheinlich 2007 gebildet wird, der einzige Ansatzpunkt zu einer neuen Partei für Beschäftigte, Erwerbslose und Jugendliche bleibt und für einen gewissen Zeitraum eine gewisse Anziehungskraft auf sich radikalisierende ArbeiterInnen und Erwerbslose wird ausüben können – unter der Voraussetzung, dass sie nicht in einem Bundesland nach dem anderen in die Regierung eintritt und Sozialabbau exekutiert.

Lafontaines Rede bei der Rosa-Luxemburg-Konferenz der Tageszeitung junge Welt im Januar hat große Aufmerksamkeit erregt. Besonders seine Ausführungen zur Privatisierung kommunaler Dienstleistungen kam einer offenen Kritik des SPD/PDS-Senats gleich. Letztlich vertrat Lafontaine allerdings nur alten Wein im neuen Schlauch (WASG und Linkspartei/PDS). Seine Ideen sind klassisch reformistisch und weisen, trotz antikapitalistischer Rethorik, nicht über die Grenzen des Kapitalismus hinaus, sondern zurück zur so genannten sozialen Marktwirtschaft. Doch in Zeiten, in denen das Wort „Reform“ von den Neoliberalen gestohlen und in seiner Bedeutung auf den Kopf gestellt wurde und in denen die früheren Reformisten zu Sozialabbau und Privatisierung voran treibenden Konterreformisten geworden sind, klingt eine klassisch reformistische Rede ganz schön radikal und kann eine große Wirkung erzielen.

Klare Aussagen gegen Privatisierung, Deregulierung und Krieg sind zu begrüßen. Sie können dabei helfen, Verteidigungskämpfe politisch zu bewaffnen.

Doch es lohnt sich, Lafontaines Positionen etwas genauer zu betrachten. In der Frage der Privatisierung klingen er und die Bundestagsfraktion kompromissloser, als sie in Wirklichkeit sind. Das Nein zu Privatisierungen öffentlichen Eigentums ist in Wirklichkeit ein Nein zur Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge. Was aber gehört dazu? Bei Strom, Wasser, Nahverkehr mag man sich da noch einig sein, aber wie sieht es mit Wohnungen und Kitas aus? Und bedarf es hier nur eines bestimmten Grundstocks öffentlichen Eigentums oder ist der gesamte Bereich öffentlich zu organisieren? Und nicht nur das: Nach welchen Gesichtspunkten soll in diesem Bereich gewirtschaftet werden?

Für Oskar Lafontaine gibt es in diesen Fragen offensichtlich viel Spielraum: In Dresden schlug er verschiedene Kompromissmöglichkeiten für die Auseinandersetzung um die Privatisierung städtischer Wohnungen vor: erstens eine Teilprivatisierung des gesamten Bestandes, zweitens ein Komplettverkauf nur von Teilen des Wohnungsbestands und drittens ein Verkauf mit einer Sozialcharta. Solche Vorschläge bedeuten nach allen Erfahrungen nichts anderes als schrittweise Privatisierung und eben nicht Verteidigung öffentlichen Eigentums. In einem Interview zitierte die Bundestagsabgeordnete Dagmar Enkelmann Lafontaine mit der Aussage: Wenn Investoren privatisierte Objekte profitabel bewirtschaften können, warum sollte das die öffentliche Hand nicht auch können? Dies stellt den Sinn und Zweck öffentlicher Daseinsvorsorge von der Wasserversorgung über den Nahverkehr bis zu den Krankenhäusern auf den Kopf. Für die VerbraucherInnen und Beschäftigten macht es schließlich keinen Unterschied, ob Gebührenerhöhungen beziehungsweise Lohnkürzungen durch einen privaten oder öffentlichen Träger beschlossen werden. Öffentliches Eigentum soll nicht nach marktwirtschaftlicher Profitlogik funktionieren. Ziel ist eine kostengünstige und in manchen Fällen kostenlose Bereitstellung lebenswichtiger Dienstleistungen, um eine Grundversorgung und hohe Lebensqualität zu gewährleisten. Das bedeutet auch, dass diese Bereiche durch Steuereinnahmen subventioniert werden müssen, um die Dienstleistung für alle erschwinglich zu halten.

In seiner Rede vor dem Landesparteitag der Linkspartei/PDS im Dezember 2005 hat Lafontaine auch explizit die mit drastischen Lohnkürzungen einhergehende und ohne Neueinstellungen begleitete Arbeitszeitverkürzung im öffentlichen Dienst Berlins unterstützt. Diese Argumentation lässt völlig außer Acht, dass erstens die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes in Berlin nun dieselbe Arbeit in kürzerer Zeit, also bei erhöhtem Stress verrichten müssen und zweitens, dass die Entscheidungen des rot-roten Senats eine bundesweite Ab-wärtsspirale in der Frage der Arbeitszeit ausgelöst haben. Der SPD/PDS-Senat hat hier eine Vorreiterrolle gespielt, die mittlerweile unter anderem von der Tarifgemeinschaft der Länder gefolgt wird. Folge ist auch die Arbeitszeitverlängerung für Beamte auf bis zu 42 Stunden pro Woche, deren Ausgangspunkt eine Bundesratsinitiative des Berliner Senats war.

Lafontaine begründet seine Unterstützung für diesen Tarifbruch mit der höheren Zahl öffentlicher Beschäftigter im Vergleich zu anderen Bundesländern. Mit genau demselben Argument rechtfertigt die PDS auch die Gebührenerhöhungen bei den Kindertagesstätten, die Kürzung des Blindengeldes und andere Sozialabbau-Maßnahmen – Berlin sei in diesen Bereichen überdurchschnittlich ausgestattet gewesen und es handele sich nur um eine Angleichung auf das Niveau anderer Bundesländer. Mit dieser Logik müsste man im Rahmen der EU eine Angleichung der Sozial- und Lohnstandards auf portugiesisches Niveau fordern. Schließlich sind diese in den neuen Mitgliedsländern Osteuropas noch schlechter und Portugal liegt wahrscheinlich im Mittelfeld.

Lafontaine sagt, man solle den Begriff „Globalisierung“ durch „Kapitalismus“ ersetzen – „und dann sind wir wieder auf der richtigen Seite“. Klingt gut. Schließlich wird viel zu oft um die Tatsache herum geredet, dass wir im Kapitalismus leben (müssen). Ist aber trotzdem falsch. Auch wenn der Begriff „Globalisierung“ unscharf ist und als Propagandabegriff dazu benutzt wird, nationale Regierungen von der Verantwortung an Verarmung, Massenerwerbslosigkeit und Abbau von Sozialstandards freizusprechen, so bezeichnet er doch eine Entwicklungsrichtung der kapitalistischen Gesellschaft, welche auch an Grenzen geraten und wieder reduziert werden kann. Wenn Lafontaine nun von Kapitalismus statt Globalisierung spricht, hat das vor allem den Effekt, dass sein Anti-Globalisierungs-Programm als Antikapitalismus erscheinen soll. Das ist es aber nicht. Denn es stellt die Eckpunkte der kapitalistischen Gesellschaft nicht in Frage: Privateigentum an Produktionsmitteln, Konkurrenz, Marktwirtschaft, Profitmaximierung, Ausbeutung der Lohnabhängigen durch private Aneignung eines Teils der von ihnen geschaffenen Werte – und auf der Basis von all dem die Spaltung der Gesellschaft in Klassen und die Existenz eines die Interessen der herrschenden Klasse vertretenden Staates.

Lafontaines zentraler Gedanke ist die Möglichkeit eines sozial gestalteten Kapitalismus. Diesen unterstreicht er immer wieder durch Hinweise auf die angeblich bessere Lage in skandinavischen Ländern. Doch auch für Skandinavien gilt, trotz tatsächlich existierender höherer Standards in einigen sozialen Bereichen, dass es auch hier in den neunziger Jahren zu massiven Privatisierungen und Sozialkürzungen gekommen ist und die gesamtgesellschaftlichen Probleme und Krisenpotenziale gestiegen sind.

Lafontaines Programm der Re-Regulierung der Weltwirtschaft mittels fester Wechselkurse und Kapitalverkehrskontrollen ignoriert erstens, dass dieses keynesianische Regulierungsprogramm nicht auf Grund politischer Entscheidungen abgeschafft wurde, sondern diese Regeln die weltweite Rezession 1973-75 nicht verhindern konnten und durch eben diese Krise außer Kraft gesetzt wurden. Es ignoriert auch die Tatsache, dass es zwei wichtige Voraussetzungen gab, die eine keynesianische Wirtschaftspolitik über einen so langen Zeitraum ermöglichten: erstens die langanhaltende Aufschwungsphase der kapitalistischen Weltwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg und zweitens ein Kräfteverhältnis zwischen Arbeit und Kapital, das sowohl innerhalb der Nationalstaaten durch starke Arbeiterbewegungen, als auch auf Grund eines starken nichtkapitalistischen Blocks international, den Druck auf die Kapitalistenklassen für Zugeständnisse an die Massen steigerte.

Die Phase der kapitalistischen Entwicklung seit dem Ende des Nachkriegsbooms zu Beginn der siebziger Jahre ist dominiert von einer Verschärfung der internationalen Konkurrenz und von einem tendenziellen ökonomischen Niedergang. Die Aufschwünge werden schwächer, die Krisen tiefer. In den Aufschwüngen kann nicht mehr aufgeholt werden, was in der Krise verloren ging: vor allem die Erwerbslosigkeit ist zu einem permanenten Phänomen geworden. In jeder Krise hat sie sich in der Bundesrepublik faktisch verdoppelt. Das Kapital kann seiner Verwertungskrise nicht entkommen. Überkapazitäten und Überproduktion, Spekulationsblasen und Ungleichgewichte aller Art sind die Folge. Auf der Jagd nach größtmöglichen Profiten wüten die Konzerne über den ganzen Erdball und setzen die ihnen hörigen Nationalstaaten dabei in Kriegen um Rohstoffe, Transportwege und Märkte ein.

Die Vorstellung, dieser Kapitalismus ließe sich durch staatliche Regulierungsmaßnahmen bändigen und in eine gerechte und friedliche Marktwirtschaft verwandeln, ist eine Illusion. Der Spielraum für Reformen ist objektiv kleiner geworden. Das führt einerseits dazu, dass solche nur durch wirkliche Massenmobilisierungen erkämpft werden können, aber im Rahmen der kapitalistischen Ordnung nicht abzusichern sind. Andererseits ist die Instabilität reformistischer Parteien eine Folge dieses Charakters der aktuellen Periode. Die Entstehung von über vielen Jahrzehnten stabilen reformistischen Massenparteien, wie den sozialdemokratischen und stalinistischen Parteien Westeuropas der Nachkriegsperiode, ist unmöglich. Wie mit der PDS geschehen, werden diese Parteien, einmal an der Regierung, zur Exekution kapitalistischer Angriffe gezwungen. Diesem Druck dauerhaft Stand halten können sie nur, wenn sie eine sozialistische Programmatik und Perspektive entwickeln.

Die Illusion einer Rückkehr zum so genannten Sozialstaat der Vergangenheit schwächt zudem den sozialen Widerstand. Denn auch die erfolgreiche Führung von Abwehrkämpfen beziehungsweise das Erringen von Verbesserungen (Reformen im eigentlichen Sinne des Wortes) bedarf heute mehr denn je einer sozialistischen Perspektive der Gesellschaftsveränderung. Zum einen, weil man in vielen Auseinandersetzungen die Eigentumsfrage aufwerfen muss, um zum Beispiel den Erhalt von Fabriken oder die Rekommunalisierung von privatisierten Wasserwerken zu erreichen. Zum anderen, weil sich nur durch eine sozialistische Überzeugung eine neue Generation von AktivistInnen entwickeln kann, die über den einen oder anderen Kampf hinaus blickend neue kämpferische Gewerkschaftsstrukturen in den Betrieben und eine wirkliche starke Partei der Arbeiterklasse aufbauen werden. Ohne die Vision einer grundlegend anderen Gesellschaft bleibt niemand dauerhaft aktiv, es sei denn, um die eigene soziale Frage zu lösen.

Hier wiederum kann an Lafontaines positiven Äußerungen zum Sozialismus angeknüpft werden. Beim Landesparteitag der WASG in Baden-Württemberg hat er gesagt: „Es kann keinen Sozialismus ohne Demokratie geben. Es kann aber auch keine Demokratie ohne Sozialismus geben.“ Dabei versteht Lafontaine unter Sozialismus keine auf Gemeineigentum an Produktionsmitteln basierende demokratisch geplante Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, sondern eine soziale Marktwirtschaft, die die sich widerstrebenden Interessen von Arbeit und Kapital ausgleicht. Nicht überall, wo Sozialismus drauf steht ist, auch Sozialismus drin. Aber dass gerade Lafontaine offensiv sich als Antikapitalist und Sozialist präsentiert und Begriffe benutzt, die viele Linke über Jahre gescheut haben, weist auf etwas Wichtiges hin: Diese Begriffe schrecken nicht ab! Im Gegenteil: Der real existierende Kapitalismus hat zu einer Radikalisierung in der Arbeiterklasse und zu einer Entfremdung mit den herrschenden Institutionen geführt, der programmatisch und begrifflich ein Ausdruck verliehen werden muss, wenn eine neue Linke erfolgreich sein will.

Sascha Stanicic ist aktives WASG-Mitglied und Bundessprecher der SAV

Oskar Lafontaine und Klaus Ernst über die Frage der Regierungsbeteiligung der Linkspartei/PDS

Oskar Lafontaine

„Es ist immer besser, wenn eine linke Kraft auch in schwieriger Zeit mitregiert. Die Linke kann im Interesse der Menschen das eine oder andere verbessern, auch wenn sie genötigt ist, unpopuläre Entscheidungen mitzutragen. Die Alternative in Berlin wäre ein SPD/CDU/FDP-Senat, der den sozial Schwächeren größere Probleme bringen würde.“ November 2005

„Wer ernsthaft sagt, wir wollen die Gesellschaft sozial gestalten, der darf nicht Kernbereiche gesellschaftlicher Verantwortung in den Gemeinden und in den Ländern immer weiter privatisieren. Das muss die Grundlinie für die neue Linke sein, sonst sind wir unglaubwürdig.“ Januar 2006

„Es nutzt nichts, wenn man sich (...) zu bestimmten Prinzipien bekennt, sondern man muss auch gegen Widerstände immer wieder die Kraft aufbringen, diese Prinzipien im praktischen Handeln und Denken durchzuhalten.“ Januar 2006

„Wer neoliberalen Politikinhalten anhängt, ich will das ja respektieren, ist besser in einer anderen Partei als in der neuen Linken aufgehoben. (...) Für alle, die Mandate in der Linken haben, muss klar sein, dass sie sowohl eine Verpflichtung gegenüber den Wählern als auch gegenüber ihrer Partei haben. Man kann diese Verpflichtung nicht kalt lächelnd zur Seite schieben, wie es einige selbstherrliche Mandatsträger tun.“ Februar 2006

Klaus Ernst

„Man kann über Sinn und Unsinn der Regierungsbeteiligung der PDS in Berlin diskutieren.“ November 2005

„Wir werden uns an keiner Regierung beteiligen, an der unsere Grundsätze nicht umgesetzt werden.“ Februar 2006

„Der Wahnsinn sitzt in Berlin auf der anderen Seite.“ Februar 2006