Krise in Brasilien

Lateinamerika: Wenn die Börse Samba tanzt...
Stefan Kerl

Börsenkrise, Rezession, Arbeitslosigkeit. Das ist Brasilien 1999. Von den insgesamt 160 Millionen EinwohnerInnen hungern 32 Millionen. Das ist die Realität im - zum Teil hochindustrialisierten - „Schwellenland“ mit unermesslichen Bodenschätzen,fruchtbarem Boden und günstigem Klima: Brasilien exportiert heute v.a. Kaffee,Eisenerz, Orangensaftkonzentrat und Soja. Gleichzeitig müssen Reis und Bohnen importiert werden, um die Grundversorgung der Bevolkerung mit Lebensmitteln sicherzustellen. Dazu kommt noch, daß in kaum einem anderen Land der Welt der Reichtum so ungleich verteilt ist.
Abhängigkeit und Konzentration des Reichtums auf wenige prägen die Entwicklung Brasiliens bis heute. Auch die Landkonzentration nimmt ständig zu: Heute nennen die 2,8 Prozent Großgrundbesitzer 56,7 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche ihr eigen. Ihnen gegenüber stehen 89,1 Prozent Kleinbauern, die 23,4 Prozent der Flächen bewirtschaften. Verdrängung und Vertreibung haben 4,8 Millionen Familien zu Landlosen werden lassen - sie schlagen durch von der Landlosenbewegung MST organisierte Besetzungen von ungenutztem Großgrundbesitz zurück. Die achtgrößte Volkswirtschaft der Welt leidet aber auch unter einer enormen Schuldenlast und einer anhaltenden Kapitalflucht. Die Verbindlichkeiten Brasiliens gegenüber internationalen Geschäftsbanken belaufen sich auf rund 70 Milliarden Dollar und gegenüber brasilianischen Finanzinstituten auf rund 300 Milliarden Dollar.

Crash

Man hat das Szenario in den vergangenen zwei Jahren oft genug betrachten können: Eine bisher als „Wirtschaftswunderland“ gesehene Volkswirtschaft wird - scheinbar plötzlich - zum Ziel von Attacken internationaler Spekulanten. Erst stoßen sie ihre Aktienbestände ab und lösen mit dem Verkauf der dafür erhaltenen Landeswährung den Beginn der Abwertung der Währung aus. Nach einigen Jahren des Wachstums, seit dem „Sieg“ über die Hyperinflation Anfang der neunziger Jahre bekommt die Weltwirtschaft jetzt die Rechnung für die durch teure Kredite finanzierte Konjunktur präsentiert. Der Verlauf erinnert an die Asien-Krise: Wachsende Exporte und Kredite heizten die Konjunktur an, während die brasilianische Regierung einen Hartwährungskurs verfolgte - Zinsen und Verschuldung stiegen so immer weiter. Als die globale Investorengemeinde die Halbierung der Devisenreserven in den letzten sechs Monaten bemerkte, denen ebenso hohe Kapitalspritzen des Internationalen Währungsfonds (IWF) Ende 1998 gegenüberstanden, ergriff sie Mitte Jänner die Flucht.
Ein Devisenabfluß von zwei Milliarden Dollar innerhalb weniger Tage führte zum Rücktritt des brasilianischen Notenbankpräsidenten Gustavo Franco. Gleichzeitig wurde die Landeswährung Real faktisch um acht Prozent gegenüber dem US-Dollar abgewertet (Erst im November mußte eine drohende Abwertung durch ein vom IWF geschnürtes Kreditprogramm in Hohe von 41,5 Milliarden Dollar noch in letzter Minute abgewendet werden). An der Börse in Sao Paulo purzelten die Kurse. In den ersten zehn Handelsminuten fiel der Index um zehn Prozent. Daraufhin wurde der Handel ausgesetzt. „Ausgelöst“ wurde die aktuelle Krise durch die Ankündigung der Regionalregierung von Minas Gerais, die Schulden beim brasilianischen Staat in Höhe von 13,4 Milliarden Dollar für 90 Tage nicht zu bedienen. Maßnahmen wie dieser wird jetzt die Schuld zugeschoben. Die Anleger fürchteten, andere Regionalregierungen würden diesem Beispiel folgen. Allein am 13. Jänner zogen verunsicherte Anleger 1,5 Milliarden Dollar ab. Bis dahin war Brasilien ein Paradies für Investoren: Rund 5,3 Billionen Schilling (das sind geschätzte 90 Prozent des Sozialprodukts) schafften Firmen und Privatpersonen im Vorjahr abgabenfrei an den Finanzämtern vorbei. Diese Milliardäre sind wohl eher als die wahren Auslöser für den Crash zu bezeichnen.

Weltweite Ursachen und Auswirkungen

Das „Nachziehen“ anderer Märkte in Lateinamerika ließ nicht lange auf sich warten: In Mexiko verlor der Peso am „Tag danach“ gut sieben Prozent seines Werts. In Argentinien stürzte der wichtigste Börsenindex um 9,4 Prozent, in Chile um fast sechs Prozent.
Und während uns bürgerliche Medien in Europa weiß machen wollten, daß die Krise keine globalen Auswirkungen haben würde und sich nicht auf Europa oder die USA übertragen wurde, sprechen die Zahlen eine andere Sprache: In New York eröffnete die Wall Street ihre Sitzung im freien Fall. Der Dow Jones Index sackte binnen weniger Minuten um mehr als 200 Punkte ab, zu Ende des Börsentages waren es 250 Punkte. Die größten europäischen Märkte beendeten den Tag mit drei bis fünf Prozentpunkten Verlusten; in Spanien, dem Land Europas, das den meisten Handel mit Brasilien treibt, fiel der Index um fast 9 Prozent.
Tatsächlich ist die Krise in Brasilien nur Ausdruck der globalen kapitalistischen Krise: Der Abschwung der Weltwirtschaft setzt sich von Asien über Rußland nach Lateinamerika fort. Seit Monaten gibt es einen Rückzug der Finanzspekulanten in „Sichere Märkte“ in den USA und Europa.
Im Oktober 1998 war die Industrieproduktion in Brasilien um fast ein Zehntel gegenüber dem Vorjahr gefallen. Ein Hauptgrund sind die ständig fallenden Rohstoffpreise, mit denen die westlichen Konzerne ihre Profite verbessern wollen. Jetzt schlägt diese Entwicklung in ihr Gegenteil um: Vor allem das Zahlungsbilanzdefizit der USA - 1999 wurden bis jetzt über 250 Milliarden Dollar erwartet - droht sich durch die Brasilienkrise noch weiter zu vergrößern - der stotternde Weltkonjunkturmotor USA könnte bald zum Stillstand kommen.

Neoliberales Sanierungsprogramm

Präsident Cardoso will sein Stabilisierungsprogramm zur Sanierung der stark defizitären Staatsfinanzen möglichst rasch durch den Kongreß bringen, um die Finanzmärkte zu beruhigen. Das Programm soll öffentliche Ausgabenkürzungen und höhere Steuern enthalten. Der IWF forderte Brasilien auf, dieses Sanierungsprogramm aufrechtzuerhalten. Die Regierung wird vielleicht auch „nationale Heiligtümer“, wie den staatlichen Petrobras (Erdölkonzern), die Bank Brasiliens und andere privatisieren, um die Finanzmärkte zu beschwichtigen.

Der Widerstand formiert sich

Der Widerstand gegen die neoliberale Kürzungspolitik des „sozialdemokratischen“ Präsidenten Cardoso formiert sich: Ein wichtiger Punkt ist zum Beispiel die Bewegung der entlassenen Ford-Arbeiter (Die Autoindustrie baute 1998 11.000 Arbeitsplätze ab, das waren fast zehn Prozent des Bestandes zu Jahresbeginn). Die Regierung versucht, den Widerstand und soziale Unruhen brutal niederzuhalten. Die Polizei hat allein in der Millionenmetropole Sao Paulo in den ersten elf Monaten des Jahres 1998 417 Menschen erschossen, eine Zunahme im Vergleich zu den Jahren davor.
Sie wird ihn aber nicht verhindern können. Staatliche Ausgabenkürzungen werden Aktionen von öffentlichen Angestellten, SchülerInnen und StudentInnen provozieren. Landlose Landarbeiter (geführt von ihrer Organisation, der MST), bereiten ebenso Mobilisierungen vor.
Vor allem der CUT (der brasilianische Gewerkschaftsbund) und der ArbeiterInnenpartei PT käme eine wichtige Rolle zu. Die PT konnte bei den Wahlen Ende 1998 die Regierung des (fünftgrößten) Bundestaates „Rio Grande do Sul“ übernehmen - der größte Sieg in ihrer Geschichte der durch eine breit getragene Kampagne erreicht wurde. Die Bürgerlichen versuchten mit Gewaltaktionen und „Schmutzkübeln“ diesen Wahlsieg zu verhindern und wurden durch den Widerstand der ArbeiterInnen, Bauern und Landlosen in die Schranken gewiesen. Unglücklicherweise schiebt die PT-Führung jetzt die radikalen Maßnahmen - mit dem Hinweis auf fehlende absolute Mehrheiten und die Zentralregierung - auf. Was jetzt droht ist - unter Berufung auf den IWF - ein Aushungern des PT-regierten Bundesstaates durch die Regierung von Präsident Cardoso.
Die Reaktion des PT-Führers Lula auf die Krise war ebenfalls höchst problematisch: Er zeigte sich besorgt um Cardosos Präsidentschaft und gab sich konstruktiv.  Seiner Meinung nach, würde eine Regierungskrise jetzt das Land ins Chaos stürzen. Tatsächlich wäre die jetzige Krise eine große Chance für die brasilianische Linke: Eine klare antikapitalistische Alternative zur Krise und der Aufbau einer Massenbewegung, die ArbeiterInnen, BäuerInnen und LandarbeiterInnen, StudentInnen und Arbeitslose gegen Cardoso und den IWF, vereint, könnte die Regierung, Multis und Großgrundbesitzer besiegen.

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