Krieg in der Ukraine: Was kann die Arbeiter*innenbewegung tun?

Eric Byl, Linkse Socialistiche Partij (LSP) / Parti Socialiste de Lutte (PSL), ISA in Belgien

Dieser Artikel wurde am 01. September auf der Homepage unserer Internationale (Opposing War || War in Ukraine: What Can the Labour Movement Do? • ISA (internationalsocialist.net) veröffentlicht.

Mindestens 9.000 ukrainische und 15.000 russische Soldat*innen sind Berichten zufolge getötet worden. Zehntausende von Zivilist*innen wurden getötet oder verwundet. Vierzehn Millionen Ukrainer*innen sind auf der Flucht und unzählige Familien wurden auseinandergerissen. Städte und Dörfer wurden in Schutt und Asche gelegt. Die internationale Energie- und Lebensmittelversorgung ist gefährdet. Trotz Überschwemmungen, Dürren und Waldbränden sind fossile Brennstoffe und Atomenergie wieder auf dem Vormarsch. "Stagflation" und eine internationale Rezession scheinen unausweichlich, und Aufrüstung und Militarismus kündigen sich weiter an. Für die LSP-PSL (ISA in Belgien) kann nur die Arbeiterbewegung einen Ausweg aus dieser Katastrophe bieten. Wir erklären, warum und wie.

Der Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Die Ukraine ist zu einem Schlachtfeld geworden, auf dem die großen imperialistischen Mächte ihren Kampf um die Vorherrschaft ausfechten lassen. Eine Lösung ist weder von ihnen noch von ihren Verbündeten zu erwarten. Selbst wenn sie einen faulen Kompromiss schließen, wird der Krieg wieder aufflammen, sobald sich die Streitkräfte erholt haben, wenn die Situation nicht schon jetzt weiter eskaliert.

Die Invasion sollte das Kräfteverhältnis, wie es sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt hatte, brutal zugunsten der russischen Oligarchie verschieben. Seit der Restauration des Kapitalismus wird dessen Einflusssphäre kontinuierlich von Konkurrenten, vor allem vom westlichen Imperialismus, bedrängt. Was auch immer Russland unternahm, dieser Trend schien sich nur noch zu verstärken und gipfelte in einer Reihe von "farbigen Revolutionen" in Serbien (2000), Georgien (2003), der Ukraine (2004) und Kirgisistan (2005).

Ära der geopolitischen Spannungen

Nach der Großen Rezession von 2008/9 geriet die Eurozone in eine existenzielle Krise. Die EU wurde durch interne Spaltungen zerrissen, die mit dem Brexit einen vorläufigen Höhepunkt erreichten. Alle europäischen Staaten erleben eine Polarisierung, das Wiederaufleben nationaler Spaltungen und die Aushöhlung ihrer traditionellen Institutionen und Parteien als Ergebnis jahrzehntelanger neoliberaler Angriffe auf den Lebensstandard.

Auch die USA sind gespalten und geschwächt. Die Republikanische Partei wird jetzt von dem völlig unberechenbaren Populisten Trump kontrolliert. Die Demokratische Partei ist nicht mehr in der Lage, sich glaubwürdig als Führer der Nation zu präsentieren. International hat sich die Schwächung des US-Imperialismus im schmachvollen Rückzug aus Afghanistan manifestiert, nach dem die Taliban in Windeseile die Macht übernommen haben.

Gleichzeitig ist China zum größten Herausforderer der Hegemonie des US-Imperialismus geworden. Die internationale Arbeitsteilung und die Globalisierung haben den Prozess der gemeinsamen Entwicklung durch Austausch und Nachahmung vorangetrieben. Im Kapitalismus geschieht dies jedoch nicht auf harmonische, sondern auf chaotische, ungleiche Weise, was unweigerlich zu Spannungen führt und erklärt, warum der Kapitalismus letztlich Krieg bedeutet.

Die USA und China sind in einen Wettstreit um Technologie, Rüstung, Einflusssphären, diplomatische Beziehungen usw. verwickelt. Sofern sich die Rhetorik des Kalten Krieges nicht verselbständigt, ist eine direkte militärische Konfrontation kurzfristig unwahrscheinlich. China könnte das noch nicht auf sich nehmen, und es gibt natürlich eine nukleare Abschreckung, aber inzwischen ist der Kalte Krieg zwischen den beiden kapitalistischen Mächten so dominant geworden, dass er ein entscheidender Faktor im gesamten Weltgeschehen ist. Die Sanktionen gegen das Putin-Regime und die Waffenlieferungen der NATO an die Ukraine sind auch eine Warnung an China in Bezug auf Taiwan.

Für das Putin-Regime sind diese Umstände und die "grenzenlose" Partnerschaft mit Xi Jinping eine außergewöhnliche Chance. Wenn es jemals einen Schlussstrich ziehen und in Zukunft eine Rolle als Supermacht spielen wollte, war jetzt der richtige Zeitpunkt. Dies wurde wahrscheinlich auch dadurch verstärkt, dass es dem Putin-Regime in Syrien, Weißrussland und Kasachstan gelang, Assad, Lukaschenko und Tokajew im Sattel zu halten.

Putins geplanter Blitzkrieg ist jedoch inzwischen in Grabenkämpfen steckengeblieben. Anstatt den Westen zu spalten, hat die Invasion die NATO mit stark erhöhten Militärausgaben, einer Vervielfachung der Truppen in Europa und einer NATO-Erweiterung nach Schweden und Finnland wiederbelebt. In der Donbass-Region verschanzen sich die russischen Truppen für den Winter und im Süden ist die angekündigte Gegenoffensive der ukrainischen Armee seit über einem Monat ins Stocken geraten. Ein Ende ist nicht in Sicht.

Kalter Krieg und imperialistische Annexion

Trotz überlegener Feuerkraft stoßen die russischen Truppen auf erbitterten Widerstand. Westliche Waffenlieferungen und Geheimdienste spielen dabei eine wichtige Rolle, aber vor allem liegt es daran, dass dieser imperialistische Krieg auch - und so wird er vor allem von der ukrainischen Arbeiterklasse gesehen - ein aggressiver imperialistischer Annexionskrieg ist.

Diese Wahrnehmung erklärt, warum viele westliche Gastfamilien anfangs ukrainische Flüchtlinge als Zeichen der Solidarität aufnahmen. Aus denselben Gründen hat sich auch noch keine echte Antikriegsbewegung entwickelt. Für viele geht es jetzt vor allem darum, Putin zu stoppen, und obwohl sie den Absichten des Westens - vor allem in den ehemaligen Kolonialländern - zu Recht skeptisch gegenüberstehen, drückt sich dies auch wider besseres Wissen in der Akzeptanz der Sanktionen, der Waffenlieferungen, der Erhöhung der Militärausgaben und der Erweiterung der NATO aus, die die ISA entschieden ablehnt.

Dank des Hoffnungsschimmers, den der sinnvolle Widerstand gegen den Krieg in Russland selbst zu Beginn des Krieges darstellte, gab es in mehreren Ländern zunächst Sympathie für den Aufruf zu einer massiven internationalen Antikriegsbewegung, ohne dass diese Stimmung jedoch in eine aktive Mobilisierung umgesetzt wurde. Währenddessen wurde die Antikriegsbewegung in Russland in den Untergrund getrieben. Die Teilnehmer*innen landeten im Gefängnis, flohen ins Ausland oder hielten sich bedeckt. Dieser Hoffnungsschimmer ist somit verschwunden. In Russland muss sich die Antikriegsbewegung umstrukturieren und sich auf die Arbeiter*innenklasse konzentrieren, die am meisten unter Inflation und Arbeitsplatzverlusten leidet und in der die Unterstützung für den Krieg weniger ausgeprägt ist als in den besser gestellten Schichten.

 

Eine Strategie und ein Programm für die Arbeiter*innenbewegung in Zeiten des Krieges

Zelenskiy wurde 2019 als Anti-Establishment-Kandidat gewählt, der die Korruption bekämpfen würde. Unter seiner Regierung wurden große Unternehmen privatisiert, ein prokapitalistisches Arbeitsgesetz verabschiedet, der Mindestlohn eingefroren und das Bildungs- und Gesundheitswesen kommerzialisiert. Vor dem Krieg waren seine Zustimmungswerte auf 30 % gesunken, doch nachdem er das Angebot der USA, vor der russischen Invasion zu fliehen, abgelehnt hatte, sind sie nun wieder auf einem sehr hohen Niveau. Im Moment steht das ukrainische Volk geschlossen hinter Zelensky im Kampf gegen den Besatzer.

Doch während die ukrainischen Soldat*innen darum kämpfen, ihr Land, ihre Häuser und Gemeinden vor der russischen Besatzung zu schützen, verteidigen die Regierung und das Militär vor allem das Recht auf Ausbeutung durch die Oligarch*innen, die glauben, dass ihren Interessen durch eine prowestliche Politik am besten gedient ist, gegen die Versuche des russischen Regimes, dieses Recht im eigenen Interesse in Frage zu stellen. Diese Entscheidung manifestiert sich auf allen Ebenen.

In erster Linie durch die Einladung an den westlichen Imperialismus, der zwar Russland so weit schwächen will, dass es keine weiteren militärischen Abenteuer in Betracht ziehen kann, und gleichzeitig einen chinesischen Verbündeten schwächt, aber das Putin-Regime nicht in eine Lage bringen will, in der es zu Atomwaffen greifen würde. Zelenskis Kriegskampagne zielt auch keineswegs darauf ab, die demoralisierten russischen Truppen zu beeinflussen. Im Gegenteil: So wie Putin ukrainische Symbole und Musik in Russland verbietet, wird auch in der Ukraine die russische Kultur unterdrückt und alle Oppositionsparteien verboten.

Nicht Zelensky und die Armeeführung, sondern die Motivation des ukrainischen Volkes und der Soldaten ist der entscheidende Faktor für den Widerstand gegen die Besatzung. Wenn es der Arbeiter*innenbewegung gelänge, diese Motivation zu organisieren und zu kontrollieren, wäre vieles möglich.

Wir unterstützen daher jeden noch so kleinen Schritt, der den bürgerlichen Charakter der Armee in der Ukraine in Frage stellt und die Unabhängigkeit der Arbeiter*innenklasse geltend macht, sei es die Verbreitung einer Arbeiter*innen-Soldat*innen-Zeitung, die freie Wahl von Soldat*innenvertreter*innen zur Überwachung der Bedingungen in den Schützengräben, die demokratische Wahl von Offizier*innenen oder die Bildung lokaler Komitees aus Soldat*innen und Anwohner*innen zur Überwachung der militärischen Operationen.

Zum Arsenal der Arbeiter*innenbewegung gehören auch Versammlungen, Streiks und ziviler Ungehorsam. Die Proteste der Feuerwehr in Enerhodar und die Arbeitsniederlegung der Arbeiter*innen im Atomkraftwerk Saporischschja zeigen, welche Möglichkeiten sich daraus ergeben. Wenn sie auf breiter Basis und systematisch organisiert würden, hätten sie eine enorme Wirkung auf die demoralisierten russischen Kräfte.

Die Oligarch*innen und ihre politischen Vertreter*innen rufen zur nationalen Einheit auf, führen aber einen einseitigen Klassenkampf, um ihre kühnsten Träume zu verwirklichen. UkrOboronProm, ein staatliches Konsortium aus 20 ukrainischen Rüstungsunternehmen, das enorme Gewinne erzielt, wird in Vorbereitung auf die Privatisierung in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Die Privatisierung von 200 Unternehmen, vor allem aus dem Lebensmittelbereich, ist für September angekündigt. Im Juli wurde im Eiltempo ein neues Arbeitsgesetz durch das Parlament gebracht, das die Rechte von 70 % der Arbeiter*innen einschränkt, und die Rentenreform, die bereits vor dem Krieg geplant wurde, wird nun beschleunigt umgesetzt. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 35 %, und mit dem IWF wird über ein Darlehen in Höhe von 20 Milliarden Dollar verhandelt.

Die Produktion von Waffen, Nahrungsmitteln und Medikamenten sollte nicht den Superprofiten der Oligarch*innen dienen - schon gar nicht in Kriegszeiten. Die Arbeiter*innen und Unterdrückten sollten sie beschlagnahmen und unter Arbeiter*innenkontrolle stellen, um einen Produktions- und Verteilungsplan im Interesse der Bevöllerung zu erstellen. Mit Hilfe der internationalen Arbeiter*innenklasse sollte der Kapitalabfluss aus der Ukraine aufgespürt und beschlagnahmt werden. Inflation, Spekulation und Korruption können durch Arbeiter*innen- und Nachbarschaftsausschüsse bekämpft werden, die die Preise regulieren, Spekulanten ausschließen und alle staatlichen Aufträge überwachen, um Bestechung zu verhindern.

Das neue Arbeitsgesetz sollte abgeschafft werden. Um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, sollte eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung ohne Lohneinbußen eingeführt werden. Arbeiter*innen, die zur Armee eingezogen werden oder ihren Arbeitsplatz wegen des Krieges verlieren, sollten vom Unternehmen den vollen Lohn erhalten. Wenn Unternehmen nach Öffnung der Bücher nachweisen können, dass sie dies nicht zahlen können, sollte ein staatlicher Fonds, der durch eine spezielle Kriegssteuer für Reiche finanziert wird, eingreifen. Jeder Versuch, den Krieg zu nutzen, um Renten, Einkommen, Arbeits- und Lebensbedingungen zu untergraben, muss zurückgewiesen werden.

Alle Produktionskapazitäten und Finanzmittel müssen mobilisiert werden, um die Gemeinden, Wohnungen und Arbeitsplätze so wirksam wie möglich zu verteidigen und den Wiederaufbau so schnell wie möglich nach denselben Grundsätzen zu beginnen. Unternehmer*innen, die die Übernahme durch die Gemeinden im Rahmen eines solchen nationalen Plans ablehnen, müssen enteignet werden. Dieses Programm ist nur ein Hinweis auf die Art von Kriegsprogramm, das die Arbeiter*innenbewegung braucht, um die Herausforderungen zu bewältigen. Nichts Vergleichbares ist von etwas anderem als einer Arbeiter*innenregierung zu erwarten.

Ein solches Programm wird zunächst mit Gleichgültigkeit oder gar Feindseligkeit aufgenommen werden. Entweder ein Sieg des Putin-Regimes oder von Zelensky und dem westlichen Imperialismus würde zu mehr Aggression im In- und Ausland führen. Wir können weder das eine noch das andere unterstützen. Viel wahrscheinlicher ist jedoch ein langwieriger Krieg, bei dem es keinen eindeutigen Sieger gibt und bei dem die Klassenunterschiede immer deutlicher werden. Der Krieg ist eine hochkonzentrierte Form der Politik, wobei die Vernunft manchmal als Hebamme der Revolution bezeichnet wird, und eine goldene Regel der Kriegsführung lautet, dass man eine Revolution niemals mit Aussicht auf Erfolg angreifen kann. Wenn die Arbeiter*innenbewegung in der Ukraine das oben genannte Programm mit einem ausdrücklichen Aufruf zur Verbrüderung mit den russischen Soldat*innen und Arbeiter*innen annehmen würde, hätte dies nicht nur eine enorme Wirkung auf sie, sondern würde auch die erforderliche Antikriegsbewegung weltweit auslösen. Die internationale Arbeiter*innenbewegung würde sich zweifellos für den Erlass der Kriegsschulden mobilisieren.