Kapitalismus hemmt medizinischen und wissenschaftlichen Fortschritt

Tom Stanford

In der kapitalistischen Wirtschaft stehen die Gewinne der KapitalistInnen im Mittelpunkt. Im Falle der Pharmaindustrie geht das aber nicht nur auf Kosten der ArbeiterInnen, sondern auch der PatientInnen. Als Beispiele wurden hier zwei aufklärende Studien gewählt.

Antidepressiva – nur geringe Wirkung

Die erste Studie wurde von der University of Hull, Großbritannien, durchgeführt und vor kurzem veröffentlicht. Untersucht wurde die Wirkung der am häufigsten verwendeten Antidepressiva. Diese Untersuchung unterscheidet sich von anderen dadurch, dass sie nicht von der Pharmaindustrie finanziert wurde, und durch ihren Umfang – sie fasst eine ganze Reihe von verschiedenen medizinischen Untersuchungen zusammen, inklusive deren, die von der Pharmaindustrie beauftragt aber absichtlich nicht veröffentlicht wurden. Eigentlich werden die meisten Untersuchungen selbst von der Pharmaindustrie durchgeführt oder beauftragt. Allerdings können sich die Pharmafirmen weigern, Ergebnisse zu veröffentlichen, wenn diese den Behauptungen des Herstellers nicht entsprechen.

Die Ergebnisse dieser breiten Untersuchung weisen darauf hin, dass diese Antidepressiva nur dem kleinen Teil der am schwersten leidenden PatientInnen von irgendwelchem Nutzen sind. Für alle anderen Patientengruppen gibt es nicht einmal den geringsten Hinweis, dass die Medikamente irgendeine positive Wirkung erzielen.

Zwar bekommen viele dieser depressiven PatientInnen den Eindruck, dass sie sich durch die Medikamente besser fühlen. Aber um festzustellen, ob diese offensichtliche Verbesserung eine eigentliche Wirkung des Medikaments ist, wird jeder wissenschaftliche Test von Medikamenten so ausgeführt, dass die „Wirkung“ vom Medikament mit der von einer Scheinmedikament (oder „Placebo“ – das nur Wasser, Zucker oder ähnliches enthält) verglichen wird, wobei eine Gruppe von PatientInnen die getestete Substanz bekommt, während die andere das unerkennbare Placebo. In dieser Studie hat es sich ständig so ergeben (ausgenommen bei den am schwersten leidenden PatientInnen), dass durchschnittlich genauso viele Menschen in den Placebo-Gruppen eine Verbesserung angegeben haben, als in den Gruppen mit dem wirklichen Medikament.

Patienten ausgenützt

In England zum Beispiel wurden 2006 mehr als 31 Millionen Rezepte für Antidepressiva ausgestellt, der überwiegende Teil davon in Fällen von schwächeren Depressionen. Im ganzen Europa hat die Anzahl der PatientInnen, die solche Medikamente nehmen, in den letzten zwanzig Jahren dramatisch zugenommen. Auf der einen Seite können wir uns überlegen, wieso so viele Menschen heute in einen depressiven Zustand geraten. Geldmangel, Prekärisierung, Unsicherheit, Aussichtslosigkeit des Lebens, tägliche Belastungen, sowie das Gefühl von Wertlosigkeit in einer Gesellschaft die nur den materiellen Erfolg schätzt, sind als mögliche Ursachen von Depressionen auch besondere Merkmale des heutigen Kapitalismus. Zusätzlich erfahren wir jetzt, dass die neuesten Antipressiva den meisten Patienten kaum helfen. Übrigens sollte diese neue Generation von Antidepressiva (nur diese wurden von der University of Hull untersucht) unvergleichlich wirksamer als alle früheren sein. Wieso nehmen also so viele Menschen Arzneimittel, die ihnen von geringem Nutzen sind?

Die Antwort hat noch einmal mit dem Kapitalismus zu tun. Informationen über ein Produkt werden von den Herstellern selbst veröffentlicht. Arzneimittel sind eine Ware wie jede andere – sie müssen bloß verkauft werden. KundInnen – z.B. ÄrztInnen oder Spitäler – müssen einfach überredet werden, die Produkte zu kaufen oder sie den PatientInnen zu empfehlen. Objektive und echt wissenschaftliche medizinische Beschreibungen und Untersuchungen sind nur schwer erhältlich, solange die Profitgier Vorrang vor den Bedürfnissen der PatientInnen hat. Für die Gewinne der Pharmaindustrie ist es eigentlich sinnvoller, die PatientInnen nach wirkungslose Medikamente süchtig zu machen, als ihnen zu helfen, Gesund zu werden.

Skandal Tabakindustrie

Das erinnert an die Geschichte der Tabakindustrie. Bis zu den sechziger Jahren bestritten nicht nur die Führungsetagen der Tabakindustrie, sondern auch viele ÄrztInnen und GesundheitsexpertInnen, dass Rauchen Gesundheitsschädlich sei. Die Industrie konnte sogar auf eine Reihe von ihren Untersuchungen hinweisen, die die Harmlosigkeit des Tabakverbrauchs beweisen sollten. Erst in den neunzigen Jahren wurden die größten Tabakfirmen in den USA vor Gericht verklagt. Am Anfang der sechziger Jahre hatten diese Firmen schon Jahrzehntelang die Beweise, dass das Rauchen von Zigaretten Krebs verursachen kann. Nur hatten sie sich geweigert, alle Untersuchungen mit unangenehmen Ergebnissen zu veröffentlichen, weil es schädlich für den Umsatz gewesen wäre. Als Entschädigungsgeld für die an Krebs leidenden Menschen musste die Industrie ein paar Milliarden Dollar zahlen. Wegen ihrer nach der kapitalistischen Logik sinnvollen Lügen sind vielleicht Millionen Menschen gestorben.

Marketing wichtiger als Forschung

Eine ganz andere neue Studie untersuchte, wie viel es der Pharmaindustrie kostet, für ihre Produkte zu werben. Diese wurde von Forschern der University of New York veröffentlicht und trägt dazu bei, den Wahnsinn des heutigen Kapitalismus zu beweisen. Die ForscherInnen rechnen, dass die Marketingkosten (Werbung, usw.) der Pharmaindustrie im Jahre 2004 schon allein in den USA $57,5 Milliarden betrugen (mehr als der gesamte Bruttoinlandsprodukt der Ukraine, mit ihren 50 Millionen Einwohnern!). Im Vergleich betrugen die Ausgaben für Forschung und Entwicklung der Medikamente nur $31,5 Milliarden – ungefähr die Hälfte! Aller Wahrscheinlichkeit nach ist es in Europa nicht anders als in den USA. Sollen wir staunen, wenn Medikamente immer teurer werden und die Krankenkassen Pleite gehen?

Kapitalismus führt zu ungeheurer Verschwendung

Die Zeit in der der Kapitalismus eine fortschrittliche Rolle gespielt hat, ist schon lange vorbei. Heute wird ein immer größerer Teil der Wirtschaft mit schmarotzerischen Tätigkeiten befasst, d.h. Tätigkeiten die nichts nützliches für die Gesellschaft erzeugen. Marketing und Finanzdienstleistungen sind die bedeutendsten dieser Tätigkeiten. Immer mehr Wirtschaftsaktivitäten sind darauf gerichtet, von Konkurrenten die KundInnen abzuwerben, oder der Bourgeoisie zu helfen, immer mehr Geld aus Geld zu machen (was immer bedeutet, dass die arbeitenden Menschen schließlich zahlen, denn Reichtum kann nur durch Arbeit erzeugt werden).

Dazu kommt der Patentschutz, der bedeutet, dass neue Erfindungen und Entwicklungen nicht frei für das Wohl der Menschheit verbreitet werden dürfen, sondern nur begrenzt denjenigen verkauft werden, die am meisten zahlen können. Nicht nur bei der Pharmaindustrie und der Medizinforschung, sondern in allen Bereichen der Wissenschaft, wird der Fortschritt dadurch stark gebremst, dass die gleichen Untersuchungen ohne Koordination bei mehreren verschiedenen Firmen und Forschungszentren gleichzeitig durchgeführt werden, die hart miteinander konkurrieren, um das Patent früher als die anderen zu bekommen. Auch staatliche Zentren sind dazu gezwungen, an dieser wahnsinnigen kapitalistischen Konkurrenz teilzunehmen.

Die Antwort: Forschung unter ArbeiterInnenkontrolle

Nur ein öffentliches Gesundheitssystem und vergesellschaftete Industrien, einschließlich der Pharmaindustrie, unter Kontrolle der ArbeiterInnen und VerbraucherInnen könnten sichern, dass die Entwicklung von Medikamenten und anderen Behandlungen auf die eigentlichen Gesundheitsinteressen der PatientInnen gerichtet wird. Außerdem ist nur eine solche Vergesellschaftung der Industrie imstande, die rationelle und gezielte Planung der wissenschaftlichen Forschung zu ermöglichen und dadurch den wirklichen Bedürfnissen der Menschheit zu entsprechen. Sonst wird der Kapitalismus, im Gesundheitsbereich sowie in so vielen anderen, die verbrecherische Verschwendung von immer mehr Ressourcen, menschlicher Arbeit und Menschenleben noch mit sich bringen.

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