Italien 1919/20: „Alle Macht den Räten!“

Teil 4 der Artikelserie: Revolutionen und ihre Lehren
Jan Millonig

Mit Ende des 1. Weltkrieges und inspiriert von der Machtübernahme der Sowjets (Arbeiter*innen- und Soldatenräte) in Russland im Oktober 1917 entwickelten sich in vielen Ländern Rätebewegungen. Im Gegensatz zu Russland gelang es diesen nirgends, den Kapitalismus zu stürzen. Überall dort rettete die Führung der Sozialdemokratie die herrschende Klasse, indem sie sich gegen die revolutionären Anstrengungen stellte. Hinzu kam die Schwäche der Führungen der neugegründeten Kommunistischen Parteien in den sozialen Auseinandersetzungen der folgenden Jahre sowie die Entwicklung des Stalinismus. All das verhalf dem Faschismus zum Aufstieg.

Die Massenbewegung im „Biennio Rosso“, den „zwei roten Jahren“ im Italien 1919-20 ist ein Beispiel an diesem Scheidepunkt der Geschichte. Bis zu 2,5 Millionen Arbeiter*innen beteiligten sich an Streiks. Der Höhepunkt war die Besetzung der Mehrheit der metalltechnischen Industriebetriebe in Norditalien durch eine halbe Million Beschäftigte. Unter der Losung „Machen wir es wie in Russland!“ gründeten sich schnell landesweit Fabrikskomitees, wobei Turin ein Zentrum der Bewegung bildete.

Zwei Formen der Macht existieren gleichzeitig

Die Sozialistische Partei Italiens (PSI) und der Gewerkschaftsverband verzeichneten enormen Mitgliederzuwachs. In der PSI waren revolutionärer Flügel, Schwankende („Zentrist*innen“) und Reformist*innen (die auf einen parlamentarischen Weg setzten) vereint. Die „Zentrist*innen“ legten eine revolutionäre Rhetorik an den Tag, die die Massen immer weiter ermutigte, aber scheuten davor zurück dieser auf Basis der realen revolutionären Lage Taten folgen zu lassen. So blieb die Führung der PSI weitgehend untätig und verzichtete darauf, sich konkret für die volle Machtübernahme durch die Arbeiter*innenklasse einzusetzen. Das führte zur widersprüchlichen Situation, dass die (Land-)Arbeiter*innen an vielen Orten zwar die Wirtschaft kontrollierten und sich gegen Regierungstruppen, Rechte und die Besitzenden verteidigten, aber die bürgerliche Regierung trotzdem noch die Staatsmacht inne hatten. 

Eine treibende Kraft der Rätebewegung in Turin und Kopf der revolutionären Opposition in der PSI war der Marxist Antonio Gramsci. In der Wochenzeitung „L’Ordine Nuovo“ („Neue Ordnung“) zog er die Lehren der Sowjetrevolution in Russland und machte klar, dass die Fabriksräte den Embryo einer sozialistischen Gesellschaft darstellten, aber diese zur Organisation der gesamten Gesellschaft ausgeweitet werden müssen.

Auch in jüngsten Bewegungen zeigt sich, dass die Bildung von lokalen (Fabriks)Komitees selbst noch nicht den Sturz der Gesellschaftsordnung bringt, v.a. wenn sie nicht die Kontrolle über die Wirtschaft erreichen. Sowohl in Bosnien 2014 als auch im “Arabischen Frühling” 2010 oder im Sudan 2018 bildeten sich Komitees zur Organisierung des täglichen Lebens in Fabriken und Stadtvierteln. Und selbst wo es eine “Vernetzung” gab fehlte eine zentrale Organisierung und Planung, um über die lokale Eben hinaus die Kontrolle über die Gesellschaft zu übernehmen.

Erfolgreiche Revolution braucht Räte & Partei

Dazu braucht es eine politische Kraft, die bereit ist mit dem alten System zu brechen. Gramsci rief die PSI auf, die Revolution koordiniert in ganz Italien und auch auf politischer Ebene zu vollziehen. Leider blieb er damit in Turin isoliert.

So bewahrheitete sich seine Prophezeiung, „entweder die Eroberung der politischen Macht durch das revolutionäre Proletariat für den Übergang zu neuen Produktions- und Verteilungsformen oder eine gewaltige Reaktion der Grundbesitzerklasse“, im negativen. Die Bewegung fand 1920 ihr Ende nachdem die Regierung drohte sie niederzuschlagen und die Partei- und Gewerkschaftsführung einen Deal mit den Kapitalist*innen schloss. Weitere Aufstände wurden von Regierung und Unternehmen mit Hilfe von rechten Banden immer stärker angegriffen bis schließlich der Faschismus die Arbeiter*innenbewegung endgültig ausschaltete. Auch im Sudan, Tunesien und Ägypten kamen nach der Niederlage der revolutionären Bewegungen wieder brutale Regimes an die Macht.

Auch wenn Gramscis Schlüsse danach teilweise die Hürden einer Revolution „im Westen“ überschätzten, gründete er in Folge die Kommunistische Partei Italiens, um weiter für einen revolutionären Kurs zu kämpfen.

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