Gesunde Ernährung – eine soziale Frage

In welchem Maß man sich gesunde Ernährung „leisten“ kann, hat mit der sozialen Lebenssituation zu tun.
Nora

Die Sozialversicherung für Selbstständige (SVA), bei der auch Freiberufler*innen und sogenannte „neue Selbstständige“ versichert sind, möchte die Versicherten zum gesunden Leben „erziehen“. Diese werden zur regelmäßigen Evaluierung der Parameter Blutdruck, Gewicht, Bewegung sowie Tabak- und Alkoholkonsum angehalten. Bei „guter Führung“ winken niedrigere Selbstbehalte.

Ob der Vitamindrink oder das fettreduzierte Joghurt – wir sind umgeben von Produkten, die an unser Gesundheitsbewusstsein appellieren. Gleichzeitig sollen wir von ungesundem Verhalten abgehalten werden – so etwa durch abschreckende Aufdrucke auf Zigarettenschachteln. Wir sollen so zu gesünderen Mitgliedern der Gesellschaft werden. Gesund bedeutet weniger Krankenstände und besser gerüstet für die Zumutungen des Arbeitslebens, daher verwertbar für das Kapital. Gesund bedeutet aber auch – insbesondere für Frauen – eine Figur, die den gängigen Schönheitsidealen entspricht.

Linke Gesundheitspolitik muss sich gegen die neoliberale Propaganda der Selbstoptimierung und die autoritären Maßnahmen der SVA stellen. Für sie steht das tatsächliche Wohlbefinden der Menschen im Zentrum – nicht ihre Verwertbarkeit. Essen darf auch schlicht und einfach Genuss sein.

Zudem lenkt der Fokus auf die individuelle Verantwortung für die eigene Gesundheit von den eigentlichen Ursachen der Probleme ab. Welche Einkaufsmöglichkeiten in Wohnortnähe vorhanden sind, welche Ernährungsangebote es am Arbeitsplatz gibt oder wie viel Zeit neben dem Alltagsstress für die Zubereitung von Nahrung bleibt, wird damit nämlich nicht hinterfragt. Auch der Umstand, dass die Besorgung und Zubereitung von Nahrung – und somit auch die Zusatzverantwortung für gesunde Ernährung – zum Großteil an Frauen hängen bleibt, wird nicht angesprochen.

In welchem Maß man sich gesunde Ernährung „leisten“ kann, hat mit der sozialen Situation zu tun. Die Alleinerzieherin, die zwischen Kindergarten und Job hin und her hetzt und sich Sorgen um die nächste Mieterhöhung macht, hat wenige Freiräume, um sich mit gesunder Ernährung zu befassen. Im Gegenteil befördern Stress und Zeitmangel eher den Griff zu Fertigprodukten und zuckerhaltigen Limonaden, die rasch Energie liefern.

Ernsthafte gesundheitspolitische Maßnahmen sind eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Gehalt sowie die Einrichtung von Kantinen mit leistbaren gesunden Menüs in Schulen, Betrieben und Nachbarschaften. Ernsthafte Gesundheitspolitik bedeutet aber auch, Konzerne wie Nestlé oder McDonalds, die mit ungesunden Produkten viel Profit machen unter Kontrolle und Verwaltung von Gewerkschaften und Beschäftigten zu stellen, um die Produktlinie zu verändern. Dasselbe gilt für Agrarkonzerne, die aktuell u.a. von der EU mit unseren Steuergeldern subventioniert werden. Ebendiese sind nämlich durch den massenhaften Pestizid-Einsatz und ihre klimaschädliche Wirtschaftsweise eine Bedrohung für unsere Gesundheit.

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