Elvis, Rock’n Roll und Lemmy von Motörhead

Ali Kropf

Am 28. Dezember 2015 starb Ian Fraser Kilmister. Besser bekannt unter dem Namen „Lemmy“ und Frontmann der Gitarren-Combo „Motörhead“. Natürlich ranken sich viele Gerüchte um die Herleitung seines (Spitz)Namens. Am wahrscheinlichsten klingt, dass der schon früh Spielautomaten süchtige „Lemmy“ jeden und jede mit „Lemme a fiver“ um Geld angepumpt haben soll.

Nur wenige Tage nach seinem 70. Geburtstag (der „Antichrist“ war tatsächlich ein Weihnachtskind!) und weiteren zwei Tagen nach seiner tödlichen Krebs-Diagnose „schlief“ Lemmy auf der Couch seiner Wohnung in Los Angeles beim Zocken seines Lieblingsautomaten für immer ein. Nicht wirklich ein Rocker-Tod. Eigentlich hätten sich viele erwartet, dass Lemmy irgendwann blunzenfett und voll gepumpt mit Amphetaminen (Speed) einfach von der Bühne fällt – aus Maus.

Wie die meisten Rock’n Roller seiner Generation griff Lemmy zuerst zur Gitarre, zum Bass kam er eher zufällig bei den „Spacerockern“ von Hawkwind. Also spielte er den Bass mehr aus einer Notlage als wirkliches Kalkül eher wie eine Gitarre als einen „klassischen“ Bass. Ein wesentliches Element des typischen „Motörhead“ Sounds. Trotzdem ist der Tod Lemmys auch der Endpunkt einer langen Entwicklung. Mit Lemmy stirbt einer der letzten authentischen Vertreter des gesellschaftspolitischen Rock’n Roll. Das ist auf den ersten Blick ein schwerer Widerspruch: Lemmy, Metal, Rock, Politik und dazu vielleicht auch noch fortschrittlich?! Dagegen spricht doch schon der Name „Motörhead“. So wurden in den späten 1960er und 1970er Jahren mit „Speed“ aufgeputschte, völlig durchgedrehte Freaks bezeichnet. Und abgesehen davon war Lemmy nicht ein Chauvinist, Sexist und der fleischgewordene „Sex, Drugs and Rock’n Roll“ Macho? Ja, war er und das zeigt auch die widersprüchliche Entwicklung seit den 1960er Jahren.

Der Ursprung des Rock’n Roll ist untrennbar mit Elvis verbunden. Aaron Elvis Presley, der Lastwagenfahrer, das Landei aus dem rückständigen Süden der USA nimmt im Jänner 1956 „Heartbreak Hotel“ auf. Danach steht bald kein Stein mehr auf den anderen. Die Jugendlichen der Welt haben jetzt eine gemeinsame Sprache, die ihre Gefühle ausdrückt und vereinheitlicht. Wenn nicht in der gleichen Generation, dann unmittelbar danach ist auch schon der 1945 im englischen Stoke-on-Trent geborene Ian Fraser Kilmister. Lemmys Vater ist Militärgeistlicher, predigt Wasser, trinkt Wein und lässt Kind und Frau sitzen. Lemmy wird sein ganzes Leben überzeugter Atheist bleiben. Aber nicht nur des Vaters wegen. Schwerer wiegt für ihn, wie ein Gott, der angeblich die Menschen liebt, ihnen so etwas Schönes wie Sex verbieten kann? Der Rock’n Roll bildet den Transmissionsriemen für Millionen Jugendlichen und jungen Menschen im Kampf, ihrer Loslösung gegenüber des verklemmten, konservativen und von den Religionen verbrämten Umgangs mit Sexualität. Sexualität ist sowieso mal verdeckter, mal offener eines der Hauptthemen des Rock’n Roll. Natürlich auch bei Lemmy. Aber auch seine Ablehnung gegenüber Religionen zieht sich als Thema (wie das hervorragende „God was never on your side“ zeigt) durch seine Musik.

Stoke, die Region bis zur Merseymündung in Liverpool im Norden, das „Black Country“ im Süden und Lemmys soziales Umfeld sind vom Arbeiten und Leben in und um die Fabriken geprägt. Auch etwas was Lemmy trotz allen Ruhmes und Reichtums nie loslassen wird; er behält sich immer einen Respekt vor ArbeiterInnen. Die Beatles zieht er den Stones vor. Trotz Anzüge und „Beatles-Boots“ findet er sie noch immer authentischer: "Die Beatles waren hart, denn sie waren aus Liverpool, was wie Hamburg oder Norfolk, Virginia ist - eine raue Hafenstadt (...) Die Rolling Stones waren dagegen die reinsten Muttersöhnchen - sie waren alle College-Studenten aus den Randgebieten von London." Die Musik ist für ihn wie viele andere eine Flucht vor dem Leben und der Zukunft seiner Umgebung. Oder wie es Ozzy Osbourne es ausdrückte: "Angst war einer der Hauptgründe, warum ich in eine Band wollte. Angst davor, fünfundvierzig Jahre lang in einer Fabrik zu arbeiten und dann gebrochen und ohne einen Penny zu sterben."

Mehr noch als das Telefon und das Transatlantik-Kabel nimmt der Rock’n Roll die Globalisierung vorweg. Am Beginn der „Beatlemania“ sagt Lennon, dass die Beatles jetzt weltweit bekannter seien als Jesus Christus. Die religiöse Rechte zwingt ihn damals noch zu einer Entschuldigung. Lennons späterer Mörder wird bei den von der Rechten organisierten Verbrennungen von Beatles Schallplatten teilnehmen. Für Lemmy und mit Motörhead wird das aber kein Thema mehr sein. Dieser Kampf war schon zu Ungunsten der religiösen Fanatiker ausgefochten.

In nur einem Jahr wird Elvis unvorstellbar reich und zieht nach Graceland, einem Riesenhaus. Der amerikanische Traum? Nicht wirklich, aber für die jugendlichen Rebellen präsentiert es sich so. Elvis war eigentlich kein Rocker und sein Aufstieg auch nicht zufällig. In Wirklichkeit war er schon ein Produkt seines Managers und der Musikindustrie. Am liebsten sang er Schlager und verglichen mit seinen Nachfolgern wie etwa Lemmy oder auch den frühen Beatles, war er kreuzbrav. Er ließ sich sogar die Haare schneiden und ging zur US-Army. Später bot er sich freiwillig Präsident Nixon im Kampf gegen Drogen und die Hippies als „Spezial-Agent“ an. Anders als Elvis, war sich Lemmy über seinen Alkohol- und Drogenkonsum sehr wohl im Klaren. Die letzten Jahre stieg er von seinem geliebten Cola-Jack auf Wodka-Orange um. Der Vitamine wegen und weniger wegen seiner Zuckerkrankheit, wie er in einem Interview behauptete. Selbst das Rauchen schränkte er auf wenige Zigaretten ein. Elvis dagegen verschloss konsequent die Augen vor seinen gesundheitlichen Problemen und negierte seinen Drogenmissbrauch durch Medikamente. Die Hippies lehnte Elvis hauptsächlich wegen ihres Drogenkonsums ab. Mit Elvis teilte Lemmy zwar die Ablehnung der Hippies, mit den Hippies aber teilte er die „Leidenschaft“ und den offenen Umgang mit Drogen und Sexualität. Seine Ablehnung der Hippiebewegung hatte banale soziale Gründe. In den Blumenkindern sah Lemmy hauptsächlich die Kinder des amerikanischen und britischen Vorstadt-Kleinbürgertums. Das war einfach nicht seine Welt und deswegen fing er mit ihnen und ihrem „Friede-Freude-Eierkuchen“ nichts an.

Im Gegensatz zu Elvis waren Lemmy und Motörhead von Beginn an kein Management-, PR- oder Marketing Produkt. Losgelöst waren sie aber davon nicht, was in einer kapitalistisch dominierten Welt auch gar nicht geht. Schon Anfang der 1980er Jahre mit dem einsetzenden Erfolg werden sie Teil der Musikindustrie. Auch wenn sich Lemmy authentisch bis zu seinem Tod bemühte als Antithese zu den Marketing-Aktivitäten der Musikindustrie zu leben, wird er damit schließlich genau als dieses „Produkt“ bis über seinen Tod hinaus vermarktet und über den Metal-Bereich hinaus berühmt.

Zweifelsohne haben viele nach Elvis den Rock n‘ Roll mehr gelebt. Elvis selbst war und wurde schließlich wieder Schnulzensänger. Nach oben gebracht und unsterblich gemacht hat ihn aber der Rock. Seine Bezugsperson in den 60iger Jahren war sein jüdischer Frisör. Mit ihm diskutierte er über Bücher, Philosophie und Religion. Elvis näherte sich dem jüdischen Glauben an. Colonel Parker sein Manager und seine von der Nachwelt völlig verklärte Frau Priscilla verbrennen daraufhin seine Lieblingsbücher im Garten von Graceland. So einsam kann ein Superstar sein. Elvis stirbt 1977 auf seiner Badezimmer-Matte zusammen gekauert wie ein Embryo. Auch kein Rocker-Tod. Lemmys Bezugsperson wird der Barbesitzer gleich um die Ecke bei seiner Wohnung in LA. Die Liebe seines Lebens stirbt im Drogenrausch, Lemmy wird sich nicht mehr binden (können). Die Offenheit und emotionale Verbundenheit mit der er darüber in seiner (sehr guten) Autobiographie schreibt, ergreifen und lassen einen anderen Lemmy erkennen. Seine Wohnung ist voll gestopft mit Relikten und „Reliquien“ aus dem 2. Weltkrieg – eigentlich unwohnlich. Oft wird Lemmy deswegen in ein rechtes Eck gestellt, wo er aber nicht hingehört. Ganz im Gegenteil, offen spricht er über seine für ihn selbst nicht erklärbare Sammlersucht für „Nazi-Scheiß“. Immer wieder äußert er sich über drei Jahrzehnte zu Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus. Dabei lässt er eigentlich keinen Spielraum für Interpretationen: „Rassismus ist das Übel unserer Welt. Nazi sein bedeutet, dass du verloren hast, bevor du anfängst. Du kannst nicht gewinnen. Du bist nur dumm!“. Auch seine neue Heimat, die USA sieht er kritisch vor dem Hintergrund von sozialem Elend, Diskriminierung und Rassismus: „Und er war Nichtraucher, Nichttrinker, Vegetarier, fesch, mit kurzem Haar und gut gekleidet. Hitler wäre in jedem Restaurant in Amerika bedient worden, im Gegensatz zu Jesse Owens, dem Helden der Olympischen Spiele von 1936.“ Wenn Lemmy nicht durch die Welt tourt, sitzt er „daheim“ die meiste Zeit in seiner Bar vor dem Spielautomaten. Auch er bleibt eigentlich weitgehend einsam, was ihm zunehmend im Alter bewusst wird.

Im gleichen Jahr wie Elvis stirbt löst sich Motörhead nach zwei Jahren Existenz erst einmal auf, bevor sie doch weitermachen und ihre erste Platte aufnehmen und raus bringen. Trotzdem dümpeln sie mehr recht als schlecht dahin, nichts weist auf die noch kommenden Erfolge hin. Lemmys später berühmt gewordene viel zu hohe Mikrofonstellung kommt aus dieser Zeit. Die Konzerte sind schlecht besucht, damit er nicht sieht wie schlecht, zieht er den Mikro-Ständer ganz heraus und schaut lieber in die Scheinwerfer als auf die leeren Reihen bei den Konzerten.

Der Rock’n Roll hat die Welt umgekrempelt. Dabei ist der Begriff musikalisch gar nicht so leicht zu fassen. Heute ist es Sammelbegriff auf den sich de facto sämtliche Gitarrenmusik bis hin die dunkelsten Untergenres des Metals beziehen. Lemmy selbst hat mit „Klassifizierungen“ in diverse Subgenres des Metals nichts anfangen können. "Wann immer Leute sagen, dass Heavy Metal keine ernsthafte Musik sei, muss ich ernsthaft widersprechen. Metal ist eine der bestverkauftesten Spielarten des Rock, denn er ist richtiger Rock'n'Roll." Für ihn war und blieb es eben letztlich Rock-Musik. Daher rührt auch seine Vorstellung am Beginn der Konzerte „We are Motörhead and we play Rock and Roll“. Auf vielen Motörhead Alben bis zum Schluss finden sich Coverversionen oder fast schon klassische Rock’n Roll Nummern.

Am Beginn war Rock’n Roll mehr ein Schlagwort der Musikindustrie als eigenständiges Genre. Die ersten Elvis Hits wurden daher auch noch in den Western & Country Hitparaden geführt. Aber eines war der Rock’n Roll für die Jugendlichen von Beginn an und darin liegt auch seine soziale und politische Sprengkraft: Rebellion! Rock’n Roll ist einfach gestrickt, kann mit etwas Talent sich selbst beigebracht und muss nicht jahrelang studiert werden. Damit stand die Tür auch für Jugendlichen aus der Unterschicht wie Lemmy offen. Die Musikbranche war anrüchig, keine wirkliche verdienstvolle, ehrenhafte „Arbeit“. Viele jugendliche MusikerInnen aus besserem Haus wandten sich daher dann doch einem bürgerlichen Leben zu. Für die ArbeiterInnen-Kids aber war es aber auch eine großartige Chance und so wurden sie immer mehr TrägerInnen der Musik und Bewegung. Im Gegensatz zu den gut begüteten Jugendlichen, haben sie meistens ohnehin keine rosigen Zukunftsaussichten: Fabrik oder Musik waren ihre Wahlmöglichkeiten. Die Beatles brachen ihre Ausbildungen ab, Erfolg oder Gosse – ein Vabanque-Spiel, dem sich auch Lemmy anschließt. Natürlich landeten die meisten nicht an der Spitze der Hitparade, sondern dann doch halt über Umwege in der Fabrik. Fast auch Lemmy mit Motörhead. Dann schwimmen sie aber mit der „New Wave of British Heavy Metal“, dem sie eigentlich gar nicht angehören und auch nicht spielen, mit nach oben.

Die neuen Musikhauptstädte wurden durch den Rock die Ballungs- und Industriezentren z. B. Amerikas, Britanniens und Deutschlands. Liverpool und die „Merseyside“, in den 60er Jahren kein Ort zum Hinfahren, war die Heimat der Beatles. Über Birmingham schwebte in den 1960er und 70er Jahren eine Dunstglocke wegen der ansässigen Schwerindustrie und wurde zu einem Zentrum des britischen Metal. Atmen war dort nachgewiesenermaßen gesundheitsschädlich. Die Hauptstraße des angrenzenden West Bromwich wurde noch von Robert Plant, dem späteren Leadsänger von Led Zeppelin asphaltiert. Reste seines Werkes konnten bis zur Renovierung 2012 noch begangen und bestaunt werden. Auch der Ruhrpott war eine nebelige Suppe. Thomas Such, Frontmann der Band mit dem wenig prosaischen Namen „Sodom“, fuhr in Gelsenkirchen zuerst ins Steinkohlebergwerk ein und anschließend in den Proberaum. Später erinnert er sich, dass um 1984 beim Sonntags-Nachmittags Kaffee seine Tante meinte, dass der Thomas jetzt eine Kassette gemacht hätte und er sie doch mal der Familie vorspielen solle. Beim anschließenden Ruhr-Pott-Trash hat es bildlich gesprochen laut Such der schockierten Familie den Eierlikör wieder bei der Nase heraus gedrückt. Und Lemmy war jetzt mit seinen Motörhead selbst schon Vorbild für die Generation der Sodoms, Kreators, Grave Diggers, Helloweens und 1980er deutschen Metal Welle, die sich allesamt auch noch als Rock’n Roller sahen und sehen.

Wie wir schon gesehen haben wurde auch das „Rock-Monster“ Lemmy zu einem Produkt der Musikindustrie. Verglichen mit den heutigen Aalglatten, durch designten MusikerInnen sticht Lemmy doch wieder heraus. Schon alleine wegen seiner hässlichen Warzen im Gesicht, die eigentlich genau genommen gar keine sind. Hässlich bleiben sie trotzdem. Natürlich hätte er sie leicht wegmachen lassen können, genauso wie er mal jemanden wegen seines ziemlich uncoolen Bartes hätte fragen können. Hätte, hat er aber nicht, weil er eben Lemmy war und ihm das einfach scheiß egal war.

 Keine Frage, Lemmy hat in seinem Leben bei Interviews viel Scheiß verzapft. Er war aber auch Antirassist, Antiantisemit und hatte sich bis zum Schluss so etwas wie ein aufrechtes Klassenbewusstsein bewahrt. Das relativiert den Scheiß nicht, rundet aber das Bild von Lemmy (und auch anderen MusikerInnen) ab und zeigt die Widersprüchlichkeit des Rock auf.

(In Erinnerung an Wolfgang Purtscheller, der als Motörhead-Fan Lemmys Tod noch bedauerte und ihn doch nur wenige Tage überleben sollte)