Die Sache mit der Zeit

Arbeitszeit, Freizeit - Keine Zeit?
Claudia Sorger

“Ich hab keine Zeit, die Zeit vergeht nicht, Zeit ist Geld,...” Diese oft verwendeten Aussprüche kennzeichnen unseren Umgang mit Zeit. Zeit wird als „knapp“ wahrgenommen und wir scheinen ihr hinterherzulaufen. Manchmal will sie dann auch gar nicht vergehen und wir haben „lange Weile“. Dieser Gegensatz findet sich auch am Arbeitsmarkt. Während die einen ihren Arbeitsplatz verlieren und l quasi zum „Nichtstun“ gezwungen sind, müssen andere länger arbeiten und leiden so unter der Belastung von verstärktem Zeitdruck.
In der jüngeren Vergangenheit kam es im Zusammenhang mit den Deregulierungsversuchen der Unternehmer zu zahlreichen Vorstößen in Richtung flexibler Arbeitszeiten. Im Zentrum der Diskussion um die Auflösung traditioneller Zeiteinteilung steht die Auflösung der sogenannten Normalarbeitszeit.
Dabei kann schon seit einiger Zeit kann nicht mehr von einer generellen „Normalarbeitszeit“ gesprochen werden. Bereits 1991 galt das „Normalarbeitsverhältnis“ (mit Regelarbeitszeit ab 35 Stunden pro Woche) nur noch für ca. 40% der unselbständig Beschäftigten. Und die Mehrzahl davon sind Männer. Es gab also eine gigantische Zunahme von nichtexistenzsichernden Arbeitsplätze. Die Teilzeitarbeit lag 1997 bei 410.000 (davon 352.000 Frauen). Geringfügig Beschäftigte gab es im Okt. 2000 199.545 (davon 143.296 Frauen).  Und das bei gleichzeitiger Zunahme von Überstunden für Beschäftigte.
Abhängig Beschäftigte sind in immer mehr Bereichen den Bedürfnissen der Unternehmer ausgeliefert. Dazu zählen Gratisüberstunden, Bereitschaft rund um die Uhr, berufsfremde Arbeiten etc. Ein Paradebeispiel dafür ist das Kaufhaus „Peek&Cloppenburg“, in dem bewusst die Arbeit auf Abruf je nach KundInnenfrequenz praktiziert wird.

Flexibilisierung für wen?

Diese Entwicklung wird unter dem allgegenwärtigen Begriff der Flexibilisierung zusammengefasst. Ausschlaggebend dabei ist die Frage: Flexibilisierung für wen? Die wesentliche Unterscheidung ist zwischen „Zeitsouveränität“ und „flexibler Verfügbarkeit“. Während ersteres Flexibilität für die ArbeitnehmerInnen bedeutet, heißt zweiteres Flexibiltät zugunsten der Unternehmer im Sinne von Macht über die Zeit der ArbeitnehmerInnen.
In der Diskussion über dieses Thema wird bewusst versucht, diesen Interessengegensatz zu verdecken. Der Begriff der Flexibilität wird in einen progressiv klingenden Jargon verpackt. Als Ergebnis haben wir eine Rhetorik, die nahelegt, dass Flexibilität etwas ganz allgemein wünschenswertes ist. Obwohl die Umsetzung der „Flexibilisierung“ am Arbeitsmarkt offensichtlich zeigt, dass sich hinter diesem Wort eine Ideologie verbirgt, wird die entscheidende Frage der „Flexibilität für wen und auf wessen Kosten?“ außer Acht gelassen.
Im Interesse der Unternehmer ist es, über die Arbeitszeit der Menschen möglichst frei zu verfügen. Dazu gehör auch diese gar nicht in Anspruch zu nehmen (Arbeitslosigkeit). Ökonomisch gesehen ist Zeit im Kapitalistismus ein knappes Gut, das aus Unternehmerseite möglichst „rational“ eingesetzt werden soll. Auf diesem Weg kann die Ausbeutung intensiviert und der Mehrwert für die Unternehmer erhöht werden. In diesem Sinn sind Ruhezeiten und Ruhetage Störfaktoren im Wirtschaftsleben. Der Versuch der Unternehmer, die Maschinenlaufzeiten bzw. Betriebszeiten auszudehnen, ist so alt wie der Kapitalismus selbst. Das zeigt sich daran, dass die Argumente der Arbeitgeber aus dem vorigen Jahrhundert den heutigen 1:1 gleichen.
Im Zuge der Industriellen Revolution Ende 18., Anfang 19. Jahrhundert änderte sich der Arbeitsrhythmus drastisch. Die industrielle Produktion, in der die Maschine die Arbeitseinteilung beeinflusste, machte eine exakte Planung der Arbeitsabläufe notwendig. Während noch in der vorindustriellen Gesellschaft die Pünktlichkeit keine Rolle bei der Arbeitsorganisation spielte, wurde jetzt Disziplin verlangt.
In dieser Zeit fand eine massive Ausweitung der Arbeitszeiten statt. Seitens der Industrie wurde versucht, Gewinnsteigerungen mittels Verlängerung der absoluten Betriebs- und Arbeitszeiten zu erzielen. Feiertage wurden abgeschafft, die Sonntagsarbeit wieder eingeführt. der blaue Montag (ein seit dem Mittelalter für Handwerksgesellen erkämpfter Feiertag) wurde ebenso bekämpft, wie die Unterbrechung der Arbeitszeit durch soziale Aktivitäten. Die Umwandlung von Lebenszeit in Arbeitszeit und die Zusammenfassung der Arbeitskräfte in zentralen, vom Wohnbereich getrennten Produktionsstätten führten zu einer Auflösung der Wohnstruktur und der Ausgrenzung sozialer Handlungen aus dem Arbeitsbereich.
Diese Ausweitung der Arbeitszeit  verwies auf eine neue Bedeutungszuschreibung der modernen Arbeitszeiten, nämlich als wertschaffende Größe im gesamtwirtschaftlichen Produktionsprozess, während sie zugleich wichtiges Kriterium für die Lebens- und Arbeitsverhältnisse der neu entstandenen ArbeiterInnenklasse werden. In der Entwicklung zum Industriekapitalismus wird die Arbeitszeit somit zur dominanten Zeitstrukturordnung, was eine neue Bewertung von Zeit nach sich zieht: Als sozial wertvolle Zeit wird allein die Zeit betrachtet, die der Mensch am Arbeitsplatz verbringt. Diese Zeit wird zur reinen Arbeitszeit und verliert dadurch ihre Eingebundenheit in die gesamte Lebenswelt. Sonstige Bedürfnisse werden in die Freizeit verlagert.
Dadurch entstehen voneinander getrennte, jedoch funktional aufeinander bezogene Institutionen der Arbeitszeit und der Freizeit. Die Arbeitszeit wird für die Lohnabhängigen zu nahezu völlig fremdbestimmter Zeit und dadurch entwickeln sie ein zunehmendes Interesse an möglichst viel eigenbestimmter, privater Lebenszeit. Die Unternehmer andererseits sind an möglichst viel wertschaffender betrieblicher Nutzungszeit interessiert. An diesen gegensätzlichen Interessen entsteht ein Verteilungskampf um Zeit.

Zeit ist Macht!

In Konflikten um die Zeit wird deutlich, dass Zeit eine zentrale Dimension von Macht darstellt, die in der in einer Gesellschaft vorherrschenden Zeitordnung zum Ausdruck kommt.
Geringere Zeitgestaltungsfreiheit durch Abweichungen von der Regelarbeitszeit erhöht Spannungen in der Gesellschaft. Schicht-, Nacht- oder WochendarbeiterInnen sind durch ihren veränderten Lebensrhythmus von wesentlichen Teilen des “öffentlichen” Lebens ausgeschlossen. Selbst  finanzielle Entschädigungen, wie z.B. Schichtzulagen können diese sozialen Probleme nicht völlig kompensieren.
Die Erwerbsarbeit ist ein wesentliches Element im gesellschaftlichen Zeitbewusstsein. Veränderungen hier, wie etwa durch Arbeitslosigkeit, können zu einem tiefgreifendem Wandel des individuellen Empfindens von Zeit führen.
Dieses Phänomen haben Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel in ihrer Studie über die Arbeitslosen in Marienthal dokumentiert. Im Rahmen dieser Studie wurde in den 30er Jahren die Problematik der Arbeitslosen untersucht. Nicht nur durch materielle Not, sondern auch die Strukturlosigkeit des Alltags führte dazu, dass die Zeit- und Lebensplanung ins Wanken geriet.
Das zeigt sich auch noch heute. Obwohl die materielle Situation weitaus besser ist als in den 30er Jahren, gibt es vergleichbare Symptome für den Zerfall der Zeitperspektive. Auch wenn man/frau davon ausgeht, dass die Formen und die Dynamik des Zerfalls von Zeitplanung und Zeitdisziplin neben anderem durch ökonomische Faktoren bestimmt werden, so ist dieses Phänomen nicht alleine durch die materielle Lage erklärbar
Dabei zeigt sich auch für Frauen und Männer unterschiedliches Erleben von Zeit. Schon in der Untersuchung über die Arbeitslosen von Marienthal hat sich gezeigt, dass Frauen anders auf den Verlust der äußeren Zeitstruktur reagierten. Während die Männer großteils die Fähigkeit zur zeitlichen Bewältigung des Alltags verlieren, bleibt für die Frauen der Tag durch das Erledigen der Hausarbeit und Kinderversorgung strukturiert, da sie zwar erwerbs-, aber nicht arbeitslos geworden sind. „Sie haben den Haushalt zu führen, der ihren Tag ausfüllt. Ihre Arbeit ist in einem festen Sinnzusammenhang, mit vielen Orientierungspunkten, Funktionen und Verpflichtungen zur Regelmäßigkeit.”(Jahoda et.al 1975, S.89)
Mit den Zeitgestaltungsmöglichkeiten ist nicht nur der eigene Status mitdefiniert, sondern auch die Macht über die Zeit von anderen. Macht bedeutet in diesem Zusammenhang die Verfügungsgewalt über die Zeit von anderen. Man/frau kann angesichts der Tatsache, dass der Zeit ein immer wichtigerer Wert zukommt, davon ausgehen, dass Zeit auch als Gegenstand von Macht auf allen hierarchisch geordneten Ebenen der Gesellschaft an Bedeutung gewinnt.
Prognostiziert werden kann als Folgewirkung dieser Entwicklung eine tiefgreifende Veränderung des zeitlichen Gefüges, bei der auf eine bewusste Gestaltung der zeitlichen Rahmenbedingungen des Wirtschaftslebens mehr und mehr verzichtet wird.
Dagegen gilt es aufzutreten mit der Forderung nach einer 30 Stundenwoche bei vollem Lohn und geregelten Arbeitszeiten, die eine gemeinsame Gestaltung der Freizeit und auch eine gerechte Aufteilung der Hausarbeit und Kinderbetreuung ermöglichen.
Es ist nicht im Interesse der ArbeitnehmerInnen flexibel zu arbeiten, sondern flexibel zu leben, mehr Freiräume zu haben in der Arbeit und mehr Möglichkeiten individueller Zeitgestaltung, die nicht ständig eingebunden oder abhängig sind von betrieblichen Organisationszusammenhängen, von ökonomischen Interessen und von politischen Herrschafts- und Machtstrukturen.