Der Sozial- und Gesundheitsbereich: zwischen Unterstützungs- und Repressionsinstrument

Wir brauchen Milliarden für einen öffentlichen, bedarfsorientierten Gesundheits- und Sozialbereich
Sarah Moayeri

Menschen waren zu jeder Zeit auf Hilfe und Unterstützung angewiesen. Die Frage nach der gesellschaftlich organisierten Hilfe für jene, die aus unterschiedlichen Gründen nicht ohne Hilfe im jeweiligen gesellschaftlichen System leben und am sozialen Leben teilhaben können, hat sich in allen Klassengesellschaften gestellt und war immer mit den jeweiligen ökonomischen und politischen Bedingungen verbunden. 

Der Ursprung der modernen Sozial- und Gesundheitsarbeit liegt in der Entwicklung der Armenhilfe/Armenpflege. Das Almosenwesen im Mittelalter basierte auf der religiösen Verpflichtung von Kirche und wohlhabenden Privatleuten, Hilfe zu leisten. In der feudalistischen Gesellschaft wurde im europäischen Raum das Klassenverhältnis ideologisch durch das Christentum gestützt. Die Armen boten dem Feudaladel die Möglichkeit, sich durch Almosen von Sünden freizukaufen. Private Stiftungen und freiwillige Zusammenschlüsse setzten diese Hilfe um. Die Beginen, ein Zusammenschluss frommer Frauen, gründeten beispielsweise Spitäler, pflegten kranke und alte Menschen und leisteten damit Armenhilfe.

Mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft kam es zur Gründung von sogenannten Armen- und Arbeitshäusern, die oft auch gleichzeitig Zuchthäuser waren. Ziel war nicht nur das “Wegsperren”, sondern auch eine Disziplinierung zur Arbeit. Arbeitsfähige Arme, Jugendliche und Kinder wurden an Betriebe vermietet. Die zahlreichen Waisenhäuser im 18. und 19. Jahrhundert waren auf ökonomischen Interessen begründet und sollten durch Strafe und Erziehung Kinder auf Lohnarbeit abrichten. Gleichzeitig gab es auch die ersten kommunalen Versuche, mit Armut systematisch umzugehen. Ein Beispiel dafür waren “Bettelordnungen”, die Bettler*innen zum Tragen von Kennzeichnungen nötigten. Das zeigt, dass sich auch ideologisch das Bild von Armut wandelte. Sie wurde nicht mehr als unveränderbarer Zustand, sondern in erster Linie als individuell verschuldet gesehen - daraus resultierte die Verpflichtung der Bedürftigen zur Arbeit. Das unsystematische Almosenwesen war unter den neuen wirtschaftlichen Bedingungen und mit der Entwicklung neuer Klassen kein geeignetes Mittel mehr, um der Masse von Bedürftigen begegnen zu können. Durch die Industrialisierung explodierten Elend und Armut. Die sich entwickelnde Arbeiter*innenbewegung basierte auf Solidarität und dem Kampf um einen staatlich organisierten Umgang damit (Versicherungen etc.). 

Gleichzeitig gab es zum Teil auch ein Interesse der Herrschenden an diesen ersten Elementen des “Sozialstaats”, wo es zur Stabilisierung half. Die Armenfürsorge wurde so aber auch zum Instrument zur Erziehung zur Arbeit und zur Reproduktion der Arbeitskraft des Proletariats (mehr dazu Marx aktuell).

Im Zuge der weitgehend hart durch die Arbeiter*innenbewegung erkämpften sozialen Verbesserungen fand auch eine Professionalisierung und Institutionalisierung des Bereichs statt. Mit dem Nachkriegsaufschwung und der Entwicklung des Sozialstaats unter dem Einfluss der Sozialpartnerschaft vollzog sich auch ein Ausbau der sozialen Versorgung, nicht ohne Druck der Arbeiter*innenbewegung. 

In den 60er und 70er Jahren entwickelten sich in Deutschland und Österreich - auch unter dem Einfluss der 68-er Bewegung - zunehmend kritische Tendenzen, auch in Abgrenzung zu den institutionalisierten Strukturen. Ein wichtiger Teil davon war das Streben nach Selbstorganisation der Klient*innen, unterstützt durch Sozialarbeiter*innen und Aktivist*innen. Beispiele dafür waren Jugendwohlkollektive, entstanden aus Revolten von Jugendlichen in den Heimen, Zusammenschlüsse wie das Sozialistische Patientenkollektiv, autonome Vereine etc. Die Pathologisierung von Klient*innen, Disziplinierungsmaßnahmen und andere repressive Elemente wurden zunehmend hinterfragt. 

Selbst reformistische Ansätze einer “kritischen sozialen Arbeit”, die gar nicht das Ziel der Systemüberwindung haben, sind seitdem aber auch stets in Widerspruch zu den gesellschaftlichen Verhältnissen und der Stellung des Gesundheits- und Sozialbereichs im neoliberalen Kapitalismus geraten. Die Auswirkungen des Neoliberalismus auf diese Bereiche umfassen Kürzungen und Angriffe auf Errungenschaften und Veränderungen der Arbeit selbst. Die Ökonomisierung des Sozial- und Gesundheitsbereichs bedeutet auch eine Zunahme von privaten, gewinnorientierten Trägern und Einrichtungen, die nach marktwirtschaftlichen Prinzipien agieren, aber auch öffentliche Einrichtungen müssen im Kapitalismus zumindest kostendeckend arbeiten. Die Öffnung gegenüber profitorientierten Unternehmen bedeutet einen zunehmenden Widerspruch zwischen dem Charakter der Arbeit und einem größeren wirtschaftlichen Druck. Die Entwicklung von immer mehr freien Trägern hat also einen widersprüchlichen Charakter. Autonome, nichtstaatliche Vereine sind einerseits Ausdruck fortschrittlicher Elemente, andererseits fällt diese Entwicklung auch zusammen mit den Auswirkungen neoliberaler Politik. 

Gerade der Gesundheitsbereich bewegt sich im Zusammenhang mit dieser Ökonomisierung im Widerspruch, größtmögliche Gesundheit zu gewährleisten und andererseits in möglichst wenig Zeit und möglichst ressourcenschonend Patient*innen zu versorgen. Diesen Widerspruch spüren Beschäftigte tagtäglich, wenn sie die Versorgung so wie es eigentlich notwendig wäre, nicht umsetzen können. Gleichzeitig hat Neoliberalismus und damit Sozialabbau auch bedeutet, dass der Druck für Beschäftigte im Gesundheits- und Sozialbereich durch die Zunahme an Bedarf, an Klient*innen, Patient*innen etc. gestiegen ist. Der gesamte Bereich bewegt sich im Kapitalismus im Spannungsfeld zwischen ihrem Disziplinierungs- und Integrationsauftrag für das System einerseits und der Durchsetzung sozialstaatlich erkämpfter Rechte für Klient*innen andererseits. Insbesondere in der Flüchtlings- und Jugendarbeit wird das Element der “Integration ins System” sehr deutlich. Im besten Fall ist der Sozialbereich im Rahmen des Kapitalismus Symptombekämpfung, im schlimmsten Fall ein “harmloses” Gesicht staatlicher Repression gegen die größten Verlierer*innen des Systems (Exekution der Kürzung von Sozialleistungen, Zusammenarbeit mit Polizei etc.).

Der Kapitalismus produziert immer Armut und Elend. Gerade in Krisenzeiten werden sozialstaatliche Errungenschaften, und damit eng verbunden der Gesundheits- und Sozialbereich, angegriffen. Die Herrschenden sind in der Krise auf der einen Seite aus rein finanziellen Gründen darauf angewiesen, bei Sozialem zu sparen, auf der anderen Seite können sie es sich auch immer weniger leisten, auf “unterstützende”, “friedliche” Sozialarbeit für das System statt auf direkte Repression zu setzen. Die Notwendigkeit von einem Ausbau des Gesundheits- und Sozialbereichs und einer bedarfsgerechten Ausfinanzierung ist heute mehr als offensichtlich. Die prekären Arbeitsbedingungen zeigen gleichzeitig, dass Staat und Kapital immer weniger zu einer Ausfinanzierung bereit bzw. in der Lage sind. Die Streik- und Kampfbereitschaft der Beschäftigten ist aber auch Ausdruck von dem Potential für Veränderungen: Um Verbesserungen zu erreichen, aber auch um die Grundlage der Notwendigkeit vieler Bereiche der Sozialen Arbeit zu überwinden, müssen wir uns als Beschäftigte zur Wehr setzen und auch für eine Überwindung des kapitalistischen Systems kämpfen.

 

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