Der Kapitalismus und Corona machen uns krank

Theresa Reimer

Isolation, Angst, Belastung und drohender Existenzverlust bedrohen die psychische Gesundheit

Viele Menschen haben im Zuge der Coronakrise in den letzten Tagen und Wochen Unsicherheit und Angst verspürt. Täglich sind wir alle mit Schreckensmeldungen rund um das Coronavirus konfrontiert. Während viele von uns weiterarbeiten müssen (und das nicht nur in Jobs, auf die die Gesellschaft momentan nicht verzichten kann), sind die Möglichkeiten, eine Auszeit von den Verpflichtungen und dem Stress zu nehmen, begrenzt. Soziale Kontakte sollen auf ein Minimum reduziert werden; wir alle sind angehalten, in den Wohnungen zu bleiben. Die Ausgangssperren lassen viele Menschen in der häuslichen und somit der sozialen Isolation alleine zurück. Laut einer Studie, die während des Ausbruchs des Coronaviruses in der chinesischen Stadt Wuhan durchgeführt wurde, gehen Angstzustände, Schlafstörungen oder depressive Symptome mit der Quarantäne einher. Dieser emotionale Stress kann sogar dazu führen, dass sich auch körperliche Beschwerden, wie Atemnot, Herzklopfen und Kopfschmerzen entwickeln. 

Während Unternehmen ein Rettungspaket in Milliardenhöhe zur Verfügung gestellt wird, bangen Arbeitnehmer*innen um ihren Job, ihre Gesundheit und ihre Zukunft. Seit dem Beginn der Ausgangsbeschränkungen haben sich, zu den ohnehin schon 400.000 arbeitslosen oder sich in Maßnahmen befindenden Menschen, binnen einer Woche weitere 97.500 Menschen beim AMS arbeitslos gemeldet. Tausende Menschen, vor allem in der Baubranche oder in der Produktion, befinden sich in Kurzarbeit. Was danach kommt ist unklar. Die Arbeiter*innen im Gesundheits- oder Sozialbereich und im Handel stehen unterdessen unter einem enormen psychischen Druck und haben unter unzureichenden Schutzvorrichtungen weiter zu arbeiten. 

Diese neue und beispiellose Situation sorgt viele von uns. Für Menschen, die von psychischen Erkrankungen betroffen sind, kann dies eine zusätzliche psychische Belastung bedeuten. Ängste, Neurosen, Panikattacken oder depressive Episoden spielen bei vielen psychischen Erkrankungen eine Rolle und können im Zuge dieser Verunsicherung verstärkt auftreten. 

Kapitalismus ist Krise

Es besteht ein offenkundiger Zusammenhang zwischen einer ungesicherten wirtschaftlichen bzw. sozialen Lage und dem Aufkommen bzw. der Intensität von psychischen Erkrankungen. Dies zeigt beispielsweise die vermehrte Verschreibung und Abgabe von Antidepressiva oder Medikamenten gegen Aufmerksamkeitsstörungen. Besonders junge Menschen werden mittlerweile immer häufiger mit einer psychischen Erkrankung diagnostiziert. Die zunehmende Zukunftsunsicherheit und der gestiegene Leistungsdruck spielen bei diesem Anstieg eine erhebliche Rolle. Die stetig steigende Arbeitsverdichtung und Entfremdung bei Arbeiter*innen ist mit dem Zwang zur Produktivitätssteigerung und somit mit dem ökonomischen Wachstum gekoppelt. Die Ursachen für steigenden Druck nach mehr Leistung liegen klar in einem kapitalistischen Wirtschaftssystem verortet. Wenn mehr Leistung also mehr Stress bedeutet und dieser Stress Menschen an ihre psychischen Grenzen bringt, hat dies systemimmanente Ursachen. Der Kapitalismus macht uns nicht nur arm, sondern auch krank.

In Krisensituationen kommen allerdings für Menschen, die unter psychischen Erkrankungen leiden, weitere erschwerende Faktoren hinzu. Das Spardiktat der EU gegenüber Griechenland zeigte die enormen Auswirkungen, die eine verschlechterte finanzielle Situation und damit einhergehende gestiegene Sorgen und Unsicherheit auf Individuen der Arbeiter*innenklasse haben kann. Über 50 Jahre hindurch blieb die nationale Suizidrate in etwa auf dem selben Stand, ab 2011 stieg diese jahrelang rapide – um knapp 40 % – an. Durch die allgemeine Hoffnungslosigkeit angesichts der wirtschaftlichen Lage verstärkte sich das Gefühl der Ausweglosigkeit bei dem/der Einzelnen.

Psychische Gesundheit ist eine Klassenfrage

Ein weiterer Faktor, der auch in der jetzigen Situation zum Tragen kommt, ist, dass Gesundheit – und somit auch die psychische Gesundheit – nicht für alle im gleichen Maße zugänglich ist. Während die Elite private Krankenversicherungen abschließt und dadurch schnellen Zugang zu medizinischer Versorgung und Therapien hat, müssen Arbeiter*innen auch bei akuten Erkrankungen und Gefährdungen monatelang darauf warten, eine Therapie zu bekommen und darum bangen, ob und in welcher Höhe diese von den Krankenkassen übernommen wird. Hinzu kommt, dass viele psychotherapeutische Praxen aufgrund der Schutzbestimmungen bereits geschlossen haben. Telefonische Beratungen bzw. E-Mails sollen genutzt werden, sodass sich Erkrankte nicht allein gelassen fühlen und notwendige Therapie erhalten. Ob diese Maßnahmen wirklich ausreichen bzw. den Bindungsaufbau einer Psychotherapie ersetzen können, sei dahingestellt, zumal Expert*innen mit einem vermehrten Aufkommen von psychischen Erkrankungen im Zuge der Coronakrise rechnen und die ohnehin langen Wartezeiten dadurch noch verlängert werden könnten. 

Es ist natürlich wichtig, dass wir in dieser schwierigen Phase aufeinander achten, unsere sozialen Kontakte nicht vernachlässigen und uns gegenseitig unterstützen. Zuhören, wenn unsere Freund*innen und Familien Ängste und Sorgen äußern, ist ein wichtiger solidarischer Akt. Doch das kann und darf nicht alles sein. Es darf nicht die Aufgabe von Einzelpersonen und dem direkten sozialen Umfeld sein, sich um Menschen zu kümmern. Diese Aufgabe muss von staatlicher Seite und durch Expert*innen erfüllt werden. Psychische Gesundheit und ökonomische Absicherung hängen direkt zusammen. Wir brauchen daher ein öffentliches und voll ausfinanziertes Gesundheits- und Sozialsystem, das sich an den Bedürfnissen der Menschen orientiert. Unsere psychische Gesundheit darf nicht davon abhängig sein, wie viel wir verdienen. Das Personal im medizinischen und psychosozialen Dienst braucht keinen Applaus, sondern den gemeinsamen Kampf mit Patient*innen und Angehörigen für Arbeitszeitverkürzung, Lohnerhöhung, mehr Personal und ausreichende Finanzierung. Pflege, sowie medizinische und psychosoziale Betreuung dürfen kein “Kostenfaktor” sein, sondern müssen als wesentliche Pfeiler eines Gesundheitssystems entsprechend anerkannt und entlohnt werden. Für gesellschaftliche Solidarität und eine Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen! Für ein Ende dieses kranken Systems!