Britannien: „Die Arbeiter*innenklasse ist zurück" - Streikwelle setzt sich 2023 fort

Claire Laker-Mansfield, ISA in England, Wales und Schottland

Dieser Artikel erschien zuerst am 14. Jänner 2023 auf der internationalen Website der ISA.

Wie wichtig eine Verallgemeinerung und Eskalation der Aktionen ist, wird durch die Ankündigung neuer Angriffe auf das Streikrecht noch deutlicher. Die Regierung hat den Einsatz wieder einmal erhöht. Unsere Bewegung muss darauf reagieren, indem sie ihre ganze Kraft mobilisiert.

"Die Arbeiter*innenklasse ist zurück". Dies sind die Worte von Mick Lynch, dem Generalsekretär der Eisenbahngewerkschaft RMT. Und sie könnten kaum treffender sein. Im Dezember 2022 fielen so viele Arbeitstage durch Streiks aus wie in keinem anderen Monat seit 1989. Die landesweiten Streiks der Eisenbahner*innen brachten den Verkehr wieder einmal zum Erliegen. In der hektischen Vorweihnachtszeit streikten die Postbeschäftigten. In einer wahrhaft historischen Aktion legten die Beschäftigten des staatlichen Gesundheitsdienstes (NHS), darunter Krankenpfleger*innen, die Arbeit nieder, um gegen die geringe Bezahlung zu protestieren und die Sicherheit der Patient*innen zu verteidigen. Andernorts traten im Dezember Busfahrer*innen, Beschäftigte der Müllabfuhr und der Gepäckabfertigung, Grenzbeamt*innen und Fahrprüfer*innen in den Ausstand. Diese Liste ist bei weitem nicht vollständig.

Diese Streiks haben jede Vorstellung, dass die Arbeiter*innenbewegung Schnee von gestern wäre, kategorisch widerlegt. Die Nachrichten in Britannien sind derzeit voll von den Streiks und der Reaktion der Regierung auf die Aktionen der Gewerkschaften. Premierminister Rishi Sunak hat versucht, seine zerstrittene Konservative Partei - für die das Jahr 2022 eine einzige lange Dauerkrise war - durch eine harte Haltung gegenüber den Gewerkschaften und Angriffe auf die Rechte von Beschäftigten zu vereinen. Gleichzeitig gibt es jedoch Anzeichen dafür, dass er und seine Regierung auf dem Rückzug sind.

Der Schwung und die Initiative liegen derzeit bei der Gewerkschaftsbewegung. Die Inflation und die Krise der Lebenshaltungskosten setzen den Arbeiter*innen auf allen Ebenen zu. Die Arbeiter*innenklasse erkennt instinktiv die Notwendigkeit sich zu wehren. In den letzten Monaten sind neue Gruppen von Beschäftigten in den Kampf eingetreten - vor allem im NHS – und das hat die Moral und die Zuversicht jener gestärkt, die an den erbittertsten und langwierigsten Konflikten beteiligt sind - vor allem bei Bahn und Post. Der Aufruf zum Generalstreik findet breite Zustimmung. Die Beschäftigten verstehen, dass Koordination der Schlüssel ist und dass Einigkeit Stärke bedeutet.

Wie wichtig eine Verallgemeinerung und Eskalation der Streiks ist wird durch die Ankündigung neuer Angriffe auf das Streikrecht noch deutlicher. Die Regierung hat den Einsatz wieder einmal erhöht. Unsere Bewegung muss darauf reagieren, indem sie ihre ganze Kraft mobilisiert.

Sunak hat angekündigt, neue drakonische Gesetze einzuführen, die sich gerade gegen jene Gruppen von Beschäftigten richten, die sich an den Aktionen vom 9. Jänner beteiligt haben. Für Beschäftigte bei der Bahn, im NHS, im Bildungswesen und im Grenzschutz sollen "Mindestdienstniveaus" eingeführt werden. Diese zutiefst undemokratische Maßnahme zielt darauf ab, die Wirksamkeit potenzieller künftiger Streiks gerade jener Beschäftigter, die an der Spitze dieser aktuellen Welle von Aktionen stehen, einzuschränken.

Diese neuen Angriffe gehen jedoch mit einem schwankenden Ansatz bei den Lohnverhandlungen einher. Die öffentliche Unterstützung für die Streiks ist nach wie vor groß. Insbesondere die Unterstützung für die Beschäftigten des NHS ist überwältigend - mehr als zwei Drittel der Öffentlichkeit unterstützen laut Umfragen die Aktionen des Pflegepersonals. Sunaks Kalkül war, dass die „Störungen“ durch die Streiks mit der Zeit zur Verschlechterung der öffentlichen Stimmung und zu zunehmenden Feindseligkeit gegenüber den Streikenden führen würden. Bislang hat sich dies jedoch nicht bewahrheitet. Unter den Tory-Abgeordneten und den Minister*innen der Regierung gibt es zunehmende Spannungen darüber, wie sie diesen Geist wieder in seine Flasche zurück bekommen. Für Sunak ist die Frage, wie mit den Streiks umzugehen ist, nicht die Frage, um die sich seine Partei versammeln und vereinigen kann, wie er gehofft hatte, sondern sie bereitet ihm zunehmend Kopfschmerzen.

Bisher hatten die Minister*innen sich hartnäckig geweigert, über die Löhne zu verhandeln – gut möglich dass die Drohung weiterer Streiks sie erstmals an den Verhandlungstisch gezwungen hat. Am 9. Jänner kündigte die Regierung nicht nur drakonische neue Gesetze an sondern traf zum ersten Mal in dieser Serie von Kämpfen mit jenen Gewerkschaften zusammen, die die Beschäftigten des NHS, der Lehrer*innen und der Eisenbahnen vertreten. Obwohl sie erklärt hatten, die Lohnfrage sei "vom Tisch" gibt es Berichte darüber dass sie den NHS-Beschäftigten eine einmalige „Pauschalzahlung“ angeboten haben im Versuch, den Konflikt zu beenden. Doch das ist kein echtes Angebot für eine Gehaltserhöhung, sondern um einen armseligen Versuch, die Kontrolle über das Geschehen zurückzugewinnen – und zwar indem man eine armselige Einmalzahlung leistet, die keine Gewerkschaft, die etwas auf sich hält, ernsthaft in Betracht ziehen würde. Der Gesundheitsminister deutete an, dass eine solche Zahlung nur im Gegenzug für eine "Produktivitätssteigerung" der NHS-Beschäftigten möglich wäre, ein Versuch der nach hinten los ging. Dieser Vorschlag ist ein Schlag ins Gesicht der ohnehin schon stark überlasteten NHS-Beschäftigten und wird deren Wut nur vergrößern gerade weil sie logischerweise die Pflege von Menschen nicht als Frage von "Produktivität" betrachten. Dennoch ist die Tatsache, dass die Regierung gezwungen wurde, sich an den Verhandlungstisch zu setzen und mehr Geld anzubieten - wie unzureichend auch immer - ein kleines Signal, dass Widerstand funktioniert. Es ist eine Erinnerung daran, dass die Arbeiter*innen gewinnen können.

Die enorme Schwäche der Tory-Regierung bedeutet, dass die Möglichkeit besteht, dass die Aktionen der Arbeiter*innen diesem sterbenden Regime den Todesstoß versetzen können. Die Lehrer*innen werden die nächsten sein, die sich dem Kampf anschließen, und gibt Gerüchte über einen koordinierten Aktionstag im Februar. Bislang haben jene Gewerkschaften die die Arbeitskämpfe führen zwar ein gewisses Maß an Koordinierung erreicht, aber das reicht bei weitem nicht aus. Tatsächlich haben sie keine ausreichenden Schritte unternommen, um den Kampf auszuweiten - vor allem, um diese Gelegenheit zu nutzen, um die riesigen Massen jener Arbeiter*innen zu organisieren, die derzeit nicht in Gewerkschaften organisiert sind, insbesondere im privaten Sektor.

Die Gründung der Kampagne "Enough is Enough" („Genug ist Genug“ oder auch „Es reicht“), die von der Führung der Communication Workers' Union, die die Postbeschäftigte vertritt, initiiert wurde, hat das Potential zu zeigen, was möglich sein könnte. Zahlreiche Menschen aus der Arbeiter*innenklasse waren von dieser Initiative begeistert. Aber zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Artikels (Mitte Jänner 2023, Anm.) hat die Kampagne noch keinen klaren Aufruf zum Handeln im Jahr 2023 gemacht und ist nicht klar, was das Ziel ist. Socialist Alternative hat eine Petition bezüglich Enough is Enough gestartet mit damit ein Tag für koordinierte Streiks und Proteste im Februar festgelegt wird. In den Regionalgruppen, in denen unsere Mitglieder eine führende Rolle spielen, kämpfen wir dafür, Aktionen rund um die Streiks am 1. Februar zu initiieren und zu unterstützen, an denen sich Öffentlich Beschäftigte, Lehrer*innen und möglicherweise viele andere Beschäftigte beteiligen.

Die aktuelle Streikwelle, hat „Klassenkampf“ zum festen Bestandteil der Politik gemacht. Täglich werden Vorsitzende von Gewerkschaften in Fernsehen und Radio interviewt. Das ist eine große Veränderung in Britannien, wo betriebliche und gewerkschaftliche Fragen seit 20-30 Jahren kaum in der Presse behandelt wurden. Wie nicht anders zu erwarten, zielt der Großteil dieser Berichterstattung darauf ab, die Aktionen der Arbeiter*innen zu untergraben. Doch trotz einer Flut von gewerkschaftsfeindlicher Propaganda in den Mainstream-Medien finden die wirklichen Probleme, die die Beschäftigten aufwerfen, nicht nur bei der Mehrheit der Arbeiter*innen Anklang sondern werden auch die Streiks weiter unterstützt.

Trotzdem hat sich die neue rechte Führung der "oppositionellen" Labour-Partei standhaft geweigert, auch nur einen Hauch von Unterstützung für die Streiks zu zeigen. Darüber hinaus hat sich geweigert, auch nur die minimalste Zusage zu machen, die Löhne und Gehälter entsprechend der Inflation zu erhöhen. Da bei den nächsten Wahlen ein Regierungswechsel ansteht, unterstreicht dies, wie wichtig es ist, Basisstrukturen und eine breite Linke innerhalb der Gewerkschaften auf zu bauen - dieser Kampf wird weitergehen müssen. Auch wird der Kampf um die politische Vertretung der Arbeiter*innen noch wichtiger.

Das Ergebnis dieser Streikwelle ist noch nicht abzusehen. Die Arbeiter*innenklasse spürt zum ersten Mal seit vielen Jahren ihre eigene kollektive Stärke. Ein (wenn auch nur knapper) Sieg einer der wichtigsten beteiligten Teilen von Beschäftigten könnte die Situation elektrisieren und den Weg für eine weitere Eskalation ebnen. Ebenso könnte eine Niederlage oder ein Ausverkauf durch eine rechte Gewerkschaftsführung einen Rückschlag bedeuten. Aber wie auch immer die Konturen des Kampfes in den nächsten Wochen aussehen werden, die Dinge können nicht einfach so weitergehen wie bisher. Die allgemeine globale Krise des Kapitalismus in Verbindung mit dem "besonderen Niedergang" des Systems in Britannien wird die Arbeiter*innen weiterhin zu den Ketten der Streikposten und auf die Straße treiben. Dies ist die Musik einer neuen und stürmischen Zukunft.