Bosnien: Privatisierung als Mittel zur Kolonialisierung

Sonja Grusch

Im Frühjahr 2014 wurde Bosnien-Herzegowina (BiH) von einer Welle von Protesten erschüttert. Im Zentrum stand die Wut über die „kriminellen Privatisierungen“. Tatsächlich ist Korruption ein zentrales Problem in BiH. Doch das ganze System kapitalistischer Privatisierungen hat in BiH gezeigt, wie kriminell Kapitalismus an sich ist!

Denn die Folgen sind für die (ehemaligen) Beschäftigten und die ArbeiterInnenklasse in BiH dramatisch: Massenarbeitslosigkeit und Armut sind die „Segnungen“ der Wiedereinführung des Kapitalismus. Und gerade der Privatiserungsprozess hat die Abhängigkeit vom Ausland erhöht. BiH hat heute eher den Status einer Kolonie, als eines unabhängigen kapitalistischen Staates.

In BiH begann der Privatisierungsprozess 1989 unter Ministerpräsident Ante Markovic. Noch unter dem jugoslawischen „Sozialismus“ (der zwar in Opposition zur stalinistischen Sowjetunion stand aber ebenso von der Herrschaft einer bürokratischen Kaste geprägt war) begannen Schritte zur Restauration des Kapitalismus, u.a. eben durch das Unternehmensgesetz von 1989. Doch durch den Bosnien-Krieg wurde dieser Prozess aufgehalten und setzte dann erst in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre wieder voll ein.

Das internationale Kapital war mehr als ein Zaungast

Der Prozess fand niemals unabhängig durch den bosnischen Staat statt, sondern stand immer unter der Kontrolle und Verwaltung internationaler kapitalistischer Institutionen. Deren Einfluss war durch den Krieg und den Dayton-Prozess massiv verstärkt worden. Die Weltbank hatte bereits im Dayton-Prozess Beobachterstatus und ist auch der größte Gläubiger BiHs, was ihren Einfluss erhöht. Seit 1995 hat außerdem der Hohe Repräsentant für BiH (als Vertreter der UNO bzw. teilweise auch der EU) weitreichende Befugnisse und damit Einflussmöglichkeiten auf politische, juristische, strukturelle aber auch ökonomische Entwicklungen und Abläufe. Eine Reihe von internationalen Strukturen und Organisation wie auch diverse Geberländer stellten Mittel zur Verfügung mit dem erklärten Ziel, funktionierende kapitalistische Strukturen aufzubauen. Die OECD hatte einen Privatisierungsplan in Phasen erarbeitet, bei dem es ein eigenes Prozedere für die Schlüsselbereiche der Wirtschaft und die Banken gab. Die Privatisierungsziele von OECD und Weltbank waren weitreichend und beinhalteten neben der Industrie auch Telekommunikation, Elektrizität, Energieversorgung, Wasser und Wälder. Erklärtes Ziel war auch die Schließung jener großen staatlichen Unternehmen, die nicht profitabel waren. Angesichts der Tatsache, dass vor 1991 die 12 größten staatlichen Unternehmen für 35% des BIP verantwortlich zeichneten, mussten solche Schließungen große Auswirkungen auf Wirtschaft und Beschäftigung haben. Der gesamte Privatisierungsprozess wurde unter Aufsicht und Mitarbeit internationaler Organisationen durchgeführt. Den staatlichen Strukturen von BiH kam auch angesichts des starken Einflusses des Hohen Repräsentanten und internationaler Organisationen eine im Gegensatz zu anderen Staaten verhältnismäßig schwache Rolle zu. Der Privatisierungsprozess in BiH kann als kriminell bezeichnet werden, allerdings weniger in einem juristischen Sinn, als in einem politischen und sozialen und in Bezug auf Privatisierungen an sich.

Der ganze Prozess macht deutlich, dass es – auch wenn das gerne in der Propaganda behauptet wird – niemals um die bosnische Bevölkerung ging. Wie es ihr geht war und ist den VertreterInnen des Privatisierungskurses gänzlich egal. Sie setzten eine Ideologie um. Die gesamtgesellschaftliche Positionierung zur Frage von Privatisierungen bzw. staatlichem Eigentum hat sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verschoben. Mit dem Ende des Nachkriegsbooms, der Suche nach neuen Antworten und dem Aufkommen des „Monetarismus“ (heute: „Neoliberalismus“) in den 1980er Jahren unter Reagen und Thatcher in der Politik und den „Chicago Boys“ in den Wirtschaftswissenschaften wurde Privatisierung fast zu einem Dogma erhoben. Seither fanden in den kapitalistischen Staaten Privatisierungsprozesse in Industrie, Infrastruktur sowie Sozialwesen statt. Mit dem Zusammenbruch der stalinistischen Staaten Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahren kam es zu einer neuen Art von Privatisierungen die allerdings derselben ideologischen Basis folgten. War es vorher staatlicher Besitz von Staaten kapitalistischer Prägung gewesen der veräußert wurde so ging es nun um den staatlichen, bzw. im Fall von Jugoslawien, zumindest formal ArbeiterInnen-Besitz in einem bis dahin nicht-kapitalistischen Umfeld. Große Teile der Wirtschaft wurden in einem sehr kurzen Zeitraum privatisiert („Schock-Therapie) und nicht nur einzelne Unternehmen und der Privatisierungsprozess war Teil einer grundlegenden Umstrukturierung der Wirtschaft weg von einer bürokratischen Planwirtschaft mit im Fall von Jugoslawien Selbstverwaltungselementen und Privatwirtschaft nur in beschränktem Umfang hin zu einer kapitalistischen Wirtschaft mit dem privaten Sektor als zentraler und treibender Kraft der Wirtschaft.

Mit voller Absicht an die Wand gefahren

Auch wenn es keinen kapitalistischen Masterplan gab so zeigt sich doch am Beispiel von BiH deutlich, das auch kapitalistische PolitikerInnen politische Konsequenzen in wirtschaftliche Pläne mit ein beziehen. Als nach dem Krieg die Privatisierungen erst richtig los gingen, lagen die Erfahrungen darüber, wie das ganze in anderen Ländern abgelaufen war schon vor. Die sozialen Konsequenzen waren bekannt. Und trotz der negativen tschechischen Erfahrungen mit der „Voucher“-Privatisierung wurde das Modell in BiH wiederholt. Als angebliche „Volksprivatisierung“ wurden 1997-2002 Anteile an Unternehmen an die Bevölkerung ausgegeben. Auch in BiH scheiterte das Modell kläglich. Von einem kapitalistischen Standpunkt aus logisch: Woher hätte bei dieser Form der Privatisierung auch das Kapital herkommen sollen, um die Betriebe zu modernisieren? Die neuen „BesitzerInnen“ hatten es jedenfalls nicht. Aber andere Ziele wurden erreicht:

  1. Entledigte sich der Staat seiner Schulden bei der Bevölkerung, da nämlich solche „Anteile“ auch verwendet wurden, um ausstehende Löhne, Pensionen etc. zu begleichen. Dass die Anteile binnen kürzester Zeit ihren Wert verloren (teilweise sank er bis auf 3% ab) störte die Herrschenden wenig, die Menschen aber, die so ausbezahlt worden waren, um so mehr.
  2. Bereicherte sich eine neue Schicht daran. Im Zuge der kapitalistischen Restauration und des Krieges war eine neue (teilweise aus der alten Parteibürokratie kommende) Schicht von Reichen gebildet. Sie profitierten von dieser Form der Privatisierung, da sie sich Unternehmen so zu Schleuderpreisen unter den Nagel reißen konnten.
  3. Verhinderte man durch diese Form der „Volksprivatisierung“ politischen Widerstand. Gerade im ehemaligen Jugoslawien und seiner „ArbeiterInnenselbstverwaltung“ (die allerdings in der Praxis nicht sehr weitreichend war, aber im Bewusstsein stark vorhanden war) konnten Betriebe nicht direkt an wenige Reiche und ausländische Geldgeber verkauft worden. Das hätte Widerstand provoziert. Daher wurde zuerst mit der Voucher-Privatisierung ein Weg gewählt, der vermeintlich den gesellschaftlichen Reichtum an alle verteilte – und scheiterte. Damit wurde in großen Teilen der Bevölkerung die Hoffnung erzeugt, dass eine „richtige“ Privatisierung wenigstens besser wäre.
Wichtiges wurde für die "echte" Privatisierung aufgehoben

Die Tatsache, dass in BiH in der ersten Phase der Privatisierungen nur Klein- und Mittelbetriebe privatisiert wurden belegt diese These. Denn die „systemrelevanten“ Unternehmen hatte man sich für eine zweite Phase aufgehoben, die ganz anders ablief. Nämlich durch direkte Verkäufe an – im wesentlichen ausländische – Investoren.

Und die griffen zu. Heute ist der Banken- und Versicherungssektor fast vollständig privatisiert und in ausländischer (mehrheitlich österreichischer) Hand. Auch viele der großen Unternehmen sind verkauft worden. Eine florierende Wirtschaft sehen wir dennoch nicht in BiH. Dafür gibt es mehrere Gründe:

  1. Die Privatisierungen fanden vor dem Hintergrund einer schwachen Weltwirtschaft, teilweise sogar der Wirtschaftskrise statt. Eines der Hauptprobleme dabei ist die weltweite Überproduktion (nicht im Verhältnis zu den Bedürfnissen, aber zu dem, was Menschen sich leisten können). Was wir in vielen anderen osteuropäischen Ländern schon sahen, hat sich in BiH wiederholt. Es wurden keine blühenden Landschaften geschaffen, nicht investiert, sondern es waren eher typische Beispiele für „Asset-Stripping“ (Ausschlachten von Unternehmen). Auch Konkurrenz wurde auf diesem Weg beseitigt. Der starke Bankensektor ist ebenfalls kein Indikator für eine starke wirtschaftliche Basis. Das Hauptfeld der Banken lag und liegt in der Vergabe von Konsumkredite, nicht von Investitionskrediten.
  2. Die ausländischen Unternehmen agierten nicht „besser“ als die heimischen, sie waren keineswegs Träger von besseren westeuropäischer Standards. In den meisten privatisierten bzw. ausländischen Betrieben werden gewerkschaftliche Rechte und grundlegende Rechte der Beschäftigen nicht respektiert, was auch die häufigsten Gründe für Streiks sind.
Kollateralschäden

Die sozialen Konsequenzen der Restauration des Kapitalismus und damit einhergehend der Privatisierungen sind enorm. Die Arbeitslosigkeit ist ein massives Problem in BiH und liegt je nach Quellen bei über 40%. Die Gewerkschaften in der Republika Srpska z.B. gehen davon aus, dass 67% der privatisierten Unternehmen inzwischen nicht mehr produzieren. Die soziale Situation insgesamt ist dramatisch: Rund 60% leben um oder unter der Armutsgrenze von rund 250.- Euro, wobei es große Gruppen gibt, die weniger als 50.- Euro pro Monat verdienen. Für diese wirken sich Privatisierungen im Sozial- und Gesundheitswesen besonders dramatisch aus. Nur rund 60% haben eine Krankenversicherung was bedeutet, dass die Privatisierung des Gesundheitssystems und in Folge der beschränkte Zugang zu ebendieser ärmere Bevölkerungsschichten besonders negativ trifft. Viele die offiziell einen Job haben, bekommen ihre Löhne/Gehälter nur verzögert oder gar nicht ausbezahlt, ihre Kranken- und Pensionsversicherungen werden von den Firmen einfach nicht eingezahlt.

Und genau hier liegen die Ursachen für die Proteste von 2013 und 2014. Der Kapitalismus hat seine Versprechen nicht gehalten. Die Privatisierungen sind ein Beispiel dafür. Sie haben nicht nur die soziale Situation dramatisch verschlechtert, sondern auch die Abhängigkeit BiHs vom Ausland dramatisch erhöht und das Land in eine Halbkolonie verwandelt.

Die Forderung nach einem Ende der „kriminellen Privatisierung“ greift zu kurz, wenn sie die Illusion schafft, dass es eine für die ArbeiterInnenklasse in BiH funktionierende Privatisierung geben könnte. Sie geht in die richtige Richtung, wenn sie meint,dass Privatisierungen an sich kriminell sind. Und sie kann zu einem echten Schlachtruf für Verbesserungen werden, wenn sie den Kapitalismus, der kriminell ist und der Hintergrund der Privatisierungen, frontal angreift.