Bolivien: Morales nimmt Kurs aufs Präsidentenamt

Bolivianische Präsidentschaftswahlen bringen Ablehnung über neoliberale Politik und Hass auf den Imperialismus in Südamerika zum Ausdruck
Tanja Niemeier, CWI

Am 18. Dezember 2005 konnte Evo Morales, Führer der Kokabauern/-bäuerinnen und Vorsitzender der MAS (Bewegung zum Sozialismus), mit 51,1% der abgegebenen Stimmen die Präsidentschaftswahlen in Bolivien für sich entscheiden. Er wird damit der erste indigene Präsident des Andenstaats. Diese Wahlen sind nicht nur ein weiteres Signal für die zunehmende Radikalisierung und den Linksschwenk in Lateinamerika (verwiesen sei an dieser Stelle beispielsweise auf die Entwicklungen in Venezuela; Anm. d. Übers.), sondern sie bilden auch den Beginn einer Reihe von elf wichtigen Wahlen, die 2006 in verschiedenen Staaten des Kontinents abgehalten werden.    

Bolivien ist eines der ärmsten Länder Lateinamerikas, wo 85% der Bevölkerung den indigenen Volksgruppen Quechua (30%), Mestizos (30%) und Aymara (25%) angehören und die große Mehrheit der Armen ausmachen. Morales beschreibt sich selbst als „Alptraum der USA“ und steht unter großem Druck der bolivianischen Bevölkerung, die nationalen Gasreserven zu verstaatlichen.   

Eine Niederlage für den Neoliberalismus

Aus den Armenvierteln der Landeshauptstadt La Paz, der Großstadt El Alto und aus weiteren Städten wurde von langen Schlangen vor den Wahllokalen berichtet. Das Wahlergebnis zeigt aber, dass Morales auch in den Stadtteilen gut abgeschnitten hat, die als Hochburgen seines ernsthaftesten Konkurrenten um das Präsidentenamt, den offen neoliberalen Jorge Quiroga, galten. Quiroga musste seine Niederlage schon vor Schließung der Wahllokale eingestehen. Bei Entstehung dieses Artikels sah alles danach aus, dass niemand mehr Morales den Sieg streitig machen könnte und er zum neuen Präsident gewählt sein würde. Nach bolivianischem Wahlgesetz ist der Kandidat direkt gewählt, der mehr als 50% der abgegebenen Stimmen auf sich vereinen kann. Trifft dies für keinen Kandidaten zu, bestimmt der Kongress (Parlament), wem das Präsidentenamt zuteil wird.

Große Hoffnungen richten sich auf Morales, entschlossene Maßnahmen gegen die Dominanz von Imperialismus und Neoliberalismus im von Armut gezeichneten Bolivien durchzuführen. Schließlich haben die Massen in der jüngeren Vergangenheit mehr als ein Mal ihre Entschlossenheit für gemeinsamen Widerstand gezeigt, wenn Präsidenten gestürzt wurden, die sich zu sehr den imperialistischen Interessen gebeugt haben. Bevor Interimspräsident Rodriguez im April 2005 ins Amt kam, äußerte dessen Vorgänger Carlos Mesa, er habe mehr Proteste als Tage im Präsidentenbüro erlebt. Mesa musste zurücktreten, weil er sich gegen die Verstaatlichung der bolivianischen Gasreserven, den zweitgrößten des ganzen Kontinents, stellte. Er fand sich permanent in der Zwickmühle wieder, den multinationalen Konzerninteressen genüge zu tun und gleichzeitig die Massen in Zaum zu halten. 

Auch während Morales´ Präsidentschaft wird die Frage der Verstaatlichung der Gasvorkommen eine Schlüsselrolle einnehmen. Die Arbeiterklasse, die Armen, die Indigenen wollen den Wechsel und sie werden nicht geduldig warten bis er kommt. Vielmehr werden sie abermals gerüstet sein, wenn Morales nicht entsprechend vorgeht.

Die Stimmung unter den Streitbarsten und Kämpferischsten der Arbeiterklasse wurde von einem bekannten bolivianischen Minenarbeiter eindringlich zusammengefasst, der, mit an seinem Helm befestigten Dynamitstangen, von der britischen Zeitung The Observer zitiert wurde: „Am 18. Dezember werden wir die Verräter zerreiben, die unsere Ressourcen verscherbelt und das Volk belogen haben. Morales ist unser Bruder und wir vertrauen ihm. Er sollte sich aber hüten, seine Versprechen nicht einzulösen“.

Welch massiver Druck Morales von der Bevölkerung entgegengebracht wird, zeigte sich bereits wenige Stunden nach der Wahl, als der einflussreiche bolivianische Gewerkschaftsbund COB der Regierung ein Ultimatum von drei Monaten stellte. Binnen dieses Zeitraums solle das Wahlprogramm einschließlich der Verstaatlichung der Energievorkommen umgesetzt werden. Andernfalls komme es abermals zu massivem Protest auf den Straßen. Die Lehrergewerkschaft drohte bereits mit Streiks, sollte die Regierung nicht innerhalb der nächsten zwei Monate 20%ige Lohnerhöhungen und einen Mindestlohn von 700$ durchsetzen. Und noch kurz vor den Wahlen warnte der Vorsitzende des Bauernverbands: „Wenn die neue Regierung nichts ändert, muss sie ebenfalls gehen – und das gilt auch für Evo“.

Während der Wahlen kursierte der Witz, dass die Angaben auf den Wahlscheinen über den jeweiligen Listenplatz der Kandidaten Auskunft über deren Amtszeit gäben. Evo Morales war an sechster Stelle aufgeführt.

Zwar ist nur wenig so eindeutig vorhersehbar in der Politik, allerdings kann als sicher angesehen werden, dass Morales vom ersten Tag an unter enormem Druck von mehreren Seiten steht: Da wären einerseits die bolivianischen Massen und andererseits die Institutionen des Kapitals wie IWF und Weltbank sowie der US-Imperialismus.

Wer ist Evo Morales?

Während Morales sich selbst als Alptraum der USA bezeichnet, werfen diese ihm vor, ein Drogen-Terrorist zu sein (dieser Vorwurf bezieht sich auf seine Rolle als Führer der Koka-Bauern). Auf ähnliche Art und Weise gab ihm die rechts-konservative Presse den Beinamen „Osama bin Laden der Anden“. Er wurde Zweiter bei den Präsidentschaftswahlen 2002 und hat seine politischen Wurzeln in den Kämpfen der Koka-Bauern. Seine Hauptaussagen in den diesjährigen Wahlen stellten die Verstaatlichung der Gasreserven und die Legalisierung des Kokaanbaus in Aussicht. Zwar werden Kokablätter für eine ganze Reihe von Konsumgütern verwendet (alternativ zum hinlänglich bekannten Kokain sei an dieser Stelle nur die Herstellung des traditionell in Bolivien weit verbreiteten Koka-Tees genannt). Doch wenn es ihnen in den Kram passt, werden der US-Imperialismus und andere zweifellos die Legalisierung des Kokaanbaus benutzen, um Morales zu diskreditieren und zu „enthüllen“, dass er nur den Kokainhandel fördert.

Zweifelsohne hat Morales eine radikale Rhetorik übernommen. Er sprach bereits davon, dass „die Bevölkerung [...] letztendlich die Macht inne“ hat. Auch machte er deutlich, dass die „MAS [..] die Macht mittels der Wahlurne übernehmen wird. Wenn sie (die korrupten Eliten) die Wahlen jedoch nicht garantieren können, wird es einen bewaffneten Aufstand geben, eine Erhebung, die das Volk befreien wird.“ Bezug nehmend auf IWF und Weltbank bemerkte er: „Wenn sie (uns) unterstützen wollen, müssen sie dies ohne Vorbedingungen tun. Lasst sie zuerst die Auslandsschulden streichen. Die Armen haben keinen Bedarf, die Schulden der korrupten Eliten zu begleichen.“

Am Tag seines Sieges sandte er eine Warnung Richtung Washington, wonach er Verbindungen mit den USA zwar wünsche, jedoch keine „Beziehung durch Unterwürfigkeit“. Seine radikale Wortwahl hat bei der Arbeiterklasse, den Bauern und Armen Gehör gefunden. Massenhaft sind sie für Morales auf die Straße gegangen und haben auch seinen Sieg gefeiert. Nichtsdestotrotz sind Morales´ Äußerungen allzu oft unklar und suggerieren, dass eine Übereinkunft aller Teile der Gesellschaft innerhalb der kapitalistischen Ordnung möglich ist. So sprach er kürzlich z.B. von einem faireren Handel, den die multinationalen Konzerne mit den BolivianerInnen treiben sollten.

In der Vergangenheit nutzte Morales seine Stellung und Autorität als Führer der Kokabauern und -bäuerinnen, um die Wut der bewaffneten Armen-Aufstände in für den Imperialismus sichere Bahnen zu leiten. Während des „Gas-Kriegs“ 2003 kam es zu einer Revolte durch die Arbeiterklasse in El Alto (mit rund 775.000 EinwohnerInnen drittgrößte Stadt des Landes; Anm. d. Übers.). Morales unterstützte hierbei den Vorschlag des folgenden Präsidenten Mesa, eine konstitutionelle Versammlung einzuberufen, die klären sollte, ob die Verfassung in puncto Eigentumsrechte über die Gasvorkommen des Landes neu geschrieben werden müsste. Dies war der eindeutige Versuch Mesas, Zeit zu gewinnen und den revolutionären Gehalt des Aufstands nieder zu halten. Im Endeffekt wurden nur die Interessen der multinationalen Konzerne bedient.

Der Aufstand vom Mai/Juni 2005, während dem die Arbeiterklasse in El Alto zeitweise die Macht übernommen hatte und die Stadt regierte, war bezeichnend: Hätte sich diese Entwicklung über das ganze Land ausgebreitet, wäre die Basis dafür geschaffen worden, die Rohstoffe zu verstaatlichen. Mit einer korrekten Führung wäre dies der Beginn gewesen, die Ketten des Imperialismus, mit denen Bolivien gefesselt ist, zu sprengen. Dieser Aufstand hatte einen elektrisierenden und radikalisierenden Effekt auf die Massen, Mitglieder und Anhänger der MAS eingeschlossen. In Worten war Morales auch diesmal für Verstaatlichung. Tatsächlich unterstützte er aber das Referendum, das über die Zukunft der Rohstoffausbeutung Klarheit schaffen sollte. Am Ende gab es bei besagtem Referendum gar nicht erst die Möglichkeit für Verstaatlichung zu stimmen und der Kampf war wieder einmal gebrochen.

Kämpferische Gewerkschaftstraditionen in Bolivien

Seit dem Fall der Berliner Mauer ist Bolivien eine Versuchsanstalt für neoliberale Politik und Privatisierung. Zehntausende Arbeitsplätze wurden bereits durch die Schließung zahlreicher Zinnminen im Jahre 1985 vernichtet. Breite Auseinandersetzungen brachen dann los, als die Privatisierung der Wasserversorgung und der Gasreserven anstand. 2000 wurde der „Wasser-Krieg“ ein Begriff, der mit einem Sieg für die Bevölkerungsmehrheit endete und 2003 entwickelte sich der bereits erwähnte sogenannte „Gas-Krieg“.

Bolivien ist ein Land großer Gegensätze. Seine Entwicklung steht beispielhaft für Länder, die förmlich an der  Kette liegen und durch Kapitalismus und Imperialismus ausgebeutet werden. Reich an natürlichen Ressourcen, die sich in der Hand ausländischer multinationaler Konzerne befinden, während gleichzeitig die Mehrheit der Bevölkerung in verheerender Armut leben muss. Die krasse Ungerechtigkeit in Bolivien wird noch dadurch verstärkt, dass die alt eingesessene Bevölkerung, die sogenannten indigenas, die die Bevölkerungsmehrheit ausmachen, am stärksten von der Armut betroffen ist.

Diese Ungleichheit in der Vermögensverteilung sowie die rohe Dominanz des US-Imperialismus sind so fest verankert, dass die bolivianischen Massen bereits eine Tradition von Kämpfen entwickelt haben. Die Zinn verarbeitende Industrie hat den Grundstock für eine radikale und kämpferische Gewerkschaftsbewegung und eine organisierte Arbeiterklasse gelegt. Im Gegensatz zu anderen südamerikanischen Ländern hat Bolivien keine Tradition starker Guerilla-Bewegungen, sondern blickt vielmehr auf Gewerkschafts- und Arbeiterbewegungen zurück. Sozialistische Ansätze sind schon lange im Bewusstsein der Arbeiterklasse verankert. Trotz der Schließung der Mehrzahl der Zinnminen ist die COB, der bolivianische Gewerschaftsbund, immer noch die mächtigste Organisation der Arbeiterklasse, die eine wichtige Rolle in den Kämpfen der letzten Jahre spielte.

Diese reichhaltigen Kampferfahrungen sind ein großer Vorteil. Die Arbeiterklasse und die verarmten Massen sind sich darüber im Klaren, für das kämpfen zu müssen, was sie benötigen.

Soziale Konflikte stehen auf der Tagesordnung

Die Wahl Evo Morales´ ist nicht der Beginn von Stabilität, sondern zeigt vielmehr eine zunehmende Radikalisierung auf dem lateinamerikanischen Kontinent. Unglücklicherweise hat Morales kein klares Programm, um mit dem Kapitalismus und Imperialismus zu brechen. Ohne Zweifel lässt diese Tatsache Raum für mögliche Versuche seitens des US-Imperialismus, speziell die Person Morales zu korrumpieren und ihn einzubinden, wenn es darum geht die Kämpfe von Arbeiterklasse und verarmter Bevölkerung zu verraten. Es ist nicht unmöglich, dass Morales den „brasilianischen Weg“ einschlägt und wie der dortige Präsident Lula zu einem verlässlichen Partner des US-Imperialismus in Lateinamerika wird. Sollte dies geschehen, wird dies massive soziale Proteste hervorrufen.

Ebensowenig ist jedoch auszuschließen, dass Morales unter dem Druck von unten und angesichts der sozialen Krise weiter nach links geht. Insbesondere zu Chavez in Venezuela und Castro in Cuba könnte er seine Verbindungen verstärken.

Bisher kann es keine Garantie für die eine oder andere Variante geben. Der US-Imperialismus ist auf jeden Fall beunruhigt über die Entwicklungen in Lateinamerika. Man ist sich der Tatsache bewusst, dass die bolivianische Arbeiterklasse und die Armen kampferprobt sind und würde bis zum Äußersten gehen, um die Bewegung zu kontrollieren. Zuerst wird versucht werden Morales direkt zu bestechen, indem der wirtschaftliche und der Einfluss auf andere lateinamerikanische Politiker geltend gemacht wird, um Druck auf ihn auszuüben. Die US-Administration sieht sich der Bedrohung gegenüber, den Halt in Bolivien, möglicherweise in ganz Südamerika zu verlieren. Dadurch kommt auch die Gefahr auf, dass versucht wird, zwischen dem rohstoffreichen Osten und dem armen Westen Boliviens Spannungen zu entfachen. Schon jetzt drängt die Region um Santa Cruz verstärkt nach größerer Autonomie, um den 30%igen Anteil an der gesamten Landesproduktion in größerer Eigenständigkeit ausnutzen zu können. Ein Bürgerkrieg war schon in den Nachwehen der Revolte von El Alto im Jahr 2003 nicht ausgeschlossen und die Gefahr ist bis heute nicht gänzlich gebannt.

Notwendigkeit einer revolutionär-sozialistischen Massenpartei

Um die Hoffnungen der Arbeiterklasse und Armen zu erfüllen und um die Massen zu vereinen und so einen weiteren Ausverkauf des Landes oder gar einen Bürgerkrieg zu vermeiden, ist eine revolutionär-sozialistische Massenpartei in Bolivien nötig, die am Arbeitsplatz und in den Communities verankert ist. Diese Partei muss die Herrschaft des Imperialismus und des Kapitalismus herausfordern, sie angreifen und mit ihr brechen. Sie müsste eine Kampagne für die augenblickliche Verstaatlichung der Gasvorkommen und weiterer Schlüsselindustrien in Gang setzen.

Dies könnte der Anfang sein, in Bolivien die Dominanz nicht nur des Neoliberalismus, sondern des Imperialismus und Kapitalismus insgesamt zu brechen. Und das wäre wiederum der beispielgebende Auslöser für den ganzen Kontinent auf dem Weg zu einer sozialistischen Föderation Lateinamerikas.

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