Bericht vom 4. Weltsozialforum

Das 4. Weltsozialforum - in diesem Jahr vom 26. bis zum 31. Januar - fand diesmal vor dem Hintergrund einer sich immer schneller verschärfenden Krise des kapitalistischen Systems weltweit statt.
Conny Dahmen, Kevin Simpson

Unter dem Eindruck der weiter andauernden blutigen Besetzung des Irak durch die US-Armee, der verheerenden Flutkatastrophe in Asien und der verschärften Ausbeutung der neokolonialen Welt haben 150.000 AktivistInnen aus allen Teilen der Erde, aber vor allem aus Lateinamerika, am Weltsozialforum teilgenommen, um in hunderten von Diskussionsforen, Workshops und anderen Aktivitäten über Alternativen zum derzeitigen Gesellschaftssystem zu diskutieren.

Bewegungen in Lateinamerika

Die Radikalisierung der Massen des ganzen lateinamerikanischen Kontinents war beim WSF massiv zu spüren. Gerade hier haben sich über die letzten Jahre hinweg Massenbewegungen von ArbeiterInnen, Jugendlichen und Bauern entwickelt, um sich gegen das Elend von Armut, Arbeitslosigkeit und kapitalistischer Ausbeutung zu wehren. In Bolivien, Ecuador, Argentinien gab es seit Beginn des neuen Jahrhunderts Massendemos, Streiks und Aufstände. Selbst im vergleichsweise ruhigen Chile demonstrierten im Herbst 50.000 gegen den APEC-Wirtschaftsgipfel und den Besuch Bushs. In Venezuela hat die Masse der Bevölkerung es wiederholt geschafft, den Versuchen des US-Imperialismus und seinen kolumbianischen Verbündeten den populistischen Präsidenten Chávez zu stürzen, zu widerstehen. Einige der rechten Regierungen konnten abgesetzt werden, zum Beispiel in Uruguay, wo die "linke" Frente Amplio zum ersten Mal die Regierung übernahm. Auch beim Amtsantritt des ehemaligen Arbeiterführer Luiz Inacio "Lula" da Silva in Brasilien hofften viele, ihre Interessen würden nun endlich vertreten und ihr Leben würde sich entscheidend verbessern.

Verrat der Lula - Regierung

Aber alle diese Regierungen haben sich entschieden, innerhalb des Rahmens der kapitalistischen Gesellschaft zu bleiben. Lula hat in seiner Amtszeit bereits bewiesen, dass dies in Konsequenz bedeutet, "Reformen" gegen die ArbeiterInnen und Armen durchzuführen. Er hat schon jetzt sämtliche Forderungen der kapitalistischen Institutionen wie IWF und Weltbank und des US-Imperialismus erfüllt und massive Kürzungen unter anderem bei Renten und Bildung durchgeführt. Weiter hat er Privatisierungsmaßnahmen vorangetrieben. Das hat in November 2004 unter anderem Massendemos und einen landesweiten Streik der Bankbeschäftigten ausgelöst. Außerdem wurde Lulas Partei PT ( "Partei der Arbeiter") in den letzten Kommunalwahlen abgestraft, wo sie unter anderem ihre Hochburg Porto Alegre verloren hatte.
Die Wut über die neoliberalen Reformen von Lula, der noch bei WSF vor zwei Jahren mit dem überwältigendem Jubel von den TeilnehmerInnen begrüßt und gefeiert worden war, kam immer wieder zum Ausdruck. Der ehemalige Enthusiasmus des vorherigen WSF ist einer sehr polarisierten Stimmung gewichen: Viele haben immer noch die Hoffnung, die PT könne sich wieder nach links wenden und unterstützen Lula weiterhin. Andere wiederum haben bereits komplett mit ihm gebrochen.
Dies war auch den Veranstaltern des WSF klar gewesen und es wurde versucht, die Radikalisierung des WSF direkt am ersten Tag abzuschwächen. Schon bei der Auftaktdemo, wo der Einsatz von Lautsprechern untersagt worden war, stellte sich aber heraus, dass niemand verhindern konnte, dass sich die Wut und der Widerstandswille der TeilnehmerInnen Bahn brach. Unter den rund 150.000 DemonstrationsteilnehmerInnnen gab es sehr lebendige und laute Blöcke, unter anderem von der P-SOL, deren Slogan war: "Lula, dein Platz ist in Davos"

Die P-SOL

Die P-SOL (Partei für Sozialismus und Freiheit) ist eine neue Partei mit sozialistischem Programm, die den Anspruch hat, eine wirkliche Alternative zur PT aufzubauen. Die Initiative dafür war aus dem massiven Rechtsruck der PT und dem Ausschluss von PT-Parlamentariern entstanden. Diese neue Formation, in der unter anderem auch die brasilianische Schwesterorganisation des CWI, Socialismo Revolucionario (SR), eine große Rolle spielt, hat während des Forums ihren zweiten landesweiten Kongress mit 1800 TeilnehmerInnen durchgeführt. Mit der wachsenden Ablehnung der PT und Lulas kann sich die P-SOL zu einem großen Anziehungspunkt für ArbeiterInnen und Jugendliche entwickeln, wenn sie sich nicht nur als Wahlalternative präsentiert, sondern auch aktiv Kämpfe der arbeitenden und armen Bevölkerung führt.

Proteste gegen neoliberale Regierungspolitik

Direkt die erste Veranstaltung des WSF, einer Podiumsdiskussion verschiedener Nichtregierungsorganisationen zum Thema "Global Campaign against Poverty" wurde für Lula nicht gerade zum Erfolgserlebnis, trotz der Busladungen von Lula-Anhängern in T-Shirts mit dem Aufdruck "100% Lula", die in das Stadion Gigantinho gekarrt worden waren, um Stimmung zu machen.
Denn vor dem Gigantinho, wo 10.000 Besucher Lulas Rede lauschten, machten sich 3000 DemostrantInnen ihrem Ärger Luft. Besonders die letzte Bildungsreform, die unter anderem Studiengebühren beinhaltete, brachte viele Jugendliche auf die Straße. Im Stadium selbst riefen DemonstrantInnen Lula auf, das Geld für Bildung und nicht für neue Flugzeuge auszugeben (Lula flog nach dem Besuch beim WSF mit einem hübschen neuen Regierungsflieger, der 57 Millionen Dollar gekostet hatte, weiter nach Davos zum Weltwirtschaftsgipfel), woraufhin Lula sie als privilegierte Elite bezeichnete, die dagegen sei, dass arme Menschen Universitäten besuchen!
Statt Lulas Rede über seine Absichten, den Hunger in der Welt zu bekämpfen, wobei er den Hunger und das Elend im eigenen Land außen vor ließ, stand dieser Protest auch in den Medien im Mittelpunkt. Unter anderem schrieb die englische Zeitung "The Independent" vor allem über die Demonstration und zitierte das P-SOL-Vorstandmitglied und CWI-Mitglied André Ferrari mit dem Satz."Natürlich können sich Menschen während ihres Lebens verändern, aber stell Dir vor - ein Flugzeug wie dieses zu haben und von Porto Alegre nach Davos abzuheben!"

Chávez-Besuch

Auch beim Besuch des venezolanischen Präsidenten Chávez beim WSF - der größten Veranstaltung des WSF - herrschte eine sehr radikalisierte Stimmung. So wurde zu Beispiel der Führer des Gewerkschaftsverbandes CUT von einem großen Teil des Publikums ausgebuht, da der CUT mit der Lula- Regierung zusammenarbeitet. "o paro as reformas o paramos o Brasil - Stopp die Reformen oder wir bringen Brasilien zum Stillstand!" und "Chávez ja, Lula nein!" waren die Sprechchöre, die die Stimmung des vor allem jungen Publikums deutlich machten und großer Teile der WSF-TeilnehmerInnen insgesamt wiederspiegelten.
Das Potential des Widerstandes gegen Globalisierung und Kapitalismus, das in Brasilien und ganz Lateinamerika existiert, wurde deutlich wiedergespiegelt. Die Tatsache, dass 25.000 Menschen teilweise sieben Stunden Schlange standen beziehungsweise saßen, um Chávez zu hören, den Präsidenten des einzigen Landes, das sich seit Jahren erfolgreich dem Imperialismus widersetzt und ein stückweit die Forderungen der antikapitalstischen Bewegung umsetzen konnte, zeigt, wie viele Menschen einen Weg und Antworten suchen, wie wir mit diesem ausbeuterischen System schluss machen und ein anderes System aufbauen können. Mit "Nieder mit dem Imperialismus, es lebe der Sozialismus!" und frenetischen Beifall wurde Chávez empfangen.
Chávez hatte vor kurzem einen großes Papierunternehmen - Venepal - nationalisiert und eine Beschleunigung der Landreform in Aussicht gestellt und wird in ganz Lateinamerika als Personifizierung für den Widerstand gegen Imperialismus und .für die venezolanische Revolution gesehen.
Chávez ist ohne Zweifel eine charismatische Figur. Er genießt Massenunterstützung in großen Teilen der venezolanischen Arbeiterklasse und unter den Armen in den Städten und auf dem Land. Die ZuhörerInnen reagierten begeistert auf seine Aussage: „Ich bin hier nicht als der Präsident von Venezuela. Ich fühle mich nicht als Präsident. Ich bin nur aus besonderen Umständen heraus Präsident geworden. Ich bin Hugo Chávez und ich bin ein Aktivist und ein Revolutionär. Denn der einzige Weg die Hegemonie des Kapitalismus und der Oligarchen zu brechen, ist die Revolution.“ Chávez versteht es die Sprache der Arbeiterklasse zu sprechen und scheut nicht davor zurück den US-Imperialismus anzugreifen.
Doch er verkörpert auch die typischen Eigenschaften eines populistischen Politikers, der sich gut an die Stimmung seines Publikums anpassen kann und eine Mischung verschiedener Ideologien präsentiert, um allen Teilen der Bevölkerung etwas anzubieten.
Während er im ersten Teil seiner Rede einen starken Bezug zu den anti-imperialistischen Bewegungen auf dem lateinamerikanischen Kontinent vom 16. Jahrhundert bis heute nahm, stellte er diesen Kampf nicht als einen Klassenkampf dar und bezog sich positiv auf die Bewegung blockfreier Staaten der 60er und 70er Jahre als ein Modell für das heutige Lateinamerika.
Der zweite Teil seiner Rede beinhaltete möglicherweise die radikalsten Äußerungen, die er bisher gemacht hat. Allerdings scheinen die radikalen Äußerungen auch dazu gedient haben, weniger radikale Positionen zu verdecken.
Seine Bemerkungen zum Zusammenbruch des Stalinismus wiederspiegelten die grundsätzliche Haltung, die MarxistInnen eingenommen haben. Chávez sagte, dass der Putschversuch gegen ihn Trotzkis Satz, dass „jede Revolution den Peitschenhieb der Konterrevolution“ brauche, bestätige. Dies beantwortet aber nicht die Fragen, die sich der venezolanischen Revolution stellen. Die Versuche Chávez zu stürzen sind durch Massenmobilisierungen zurückgeschlagen worden. Wenn die Revolution jedoch nicht weiter voran getrieben wird und der Kapitalismus durch revolutionär-sozialistische Maßnahmen gestürzt wird, wird die Konterrevolution früher oder später zu weiteren Schlägen ausholen und erfolgreich sein können.
Chávez sagte ebenfalls: „Es gibt nur zwei Alternativen: Kapitalismus oder Sozialismus. Kapitalismus kann nur durch wirklichen Sozialismus transformiert werden – durch eine gerechte und gleiche Gesellschaft. Aber das kann nur durch Demokratie erreicht werden. Wir müssen jedoch klar machen, was wir unter Demokratie verstehen und dass wir nicht die Art von Demokratie meinen, die Bush praktiziert.“
Neben solchen radikalen Äußerungen stehen dann jedoch seine positiven Kommentare über sein Verhältnis zur chinesischen Regierung, Gaddaffi und Putin. Und schließlich versuchte er Lula zu verteidigen. Er sagte: „Es gibt Leute in meinem Land, gute Leute, die sagen, dass ich nicht radikal genug bin. Aber diese Genossen müssen verstehen, dass wir es mit einem Prozess zu tun haben, der seinen eigenen Rhythmus hat und durch Phasen sich entwickelt. Vergesst nicht, dass wir es mit einem Weltsystem aufnehmen und das ist eine große Aufgabe. Ich weiß, dass ich nun Gefahr laufe ausgebuht zu werden, aber Lula ist ein guter Mann und ein Freund von uns.“ Und für diese Aussage wurde Chávez ausgebuht, was allerdings im Applaus für zum Ende seiner Rede unterging.
Diese Rede von Hugo Chávez war radialer als andere, aber trotzdem gab sie keine klare revolutionär-sozialistische Erklärung, wie Kapitalismus und Imperialismus in Venezuela und ganz Lateinamerika geschlagen werden können.

Das "Komitee für eine Arbeiterinternationale" beim WSF

Solche Ideen zu verbreiten, Perspektiven aufzuzeigen, wie eine sozialistische Gesellschaft erkämpft werden kann, war das Ziel des CWI ("Komitee für eine Arbeiterinternationale", die internationale Dachorganisation, der die SAV angeschlossen ist). Rund 70 Mitglieder und SymphatisantInnen von Socialismo Revolucionario, aber auch Vertreter von Sektionen aus England, Irland, Belgien, Frankreich, den USA und Deutschland nahmen am WSF teil, um dort in die Debatten der Bewegung beizutragen und möglichst viele Leute für sozialistische Ideen zu gewinnen.
Mit geballter Energie, enormem Enthusiasmus und Durchhaltevermögen verteilten wir 30.000 Flugblätter in drei Sprachen, verkauften 1491 zweisprachige Zeitungen und lernten 173 InteressentInnen fur unsere Organisation aus ganz Lateinamerika kennen. 80 beziehungsweise 60 Menschen kamen zu Veranstaltungen von CWI /SR um zu diskutieren, wie Imperialismus und Krieg zu stoppen sind und wie eine sozialistische Gesellschaft aufgebaut werden kann. Die SprecherInnen gaben lebendige Berichte über die Arbeit der einzelnen Sektionen des CWI . Ein Beispiel dafür ist eine Kampagne zur Verteidigung der Kaiowá-Indianer in Cerro Marangatu, die von Räumung ihrer Behausungen und Vertreibung von ihrem Land bedroht sind. Vor seiner Reise zum WSF hatte der Parlamentsabgeordnete der irischen Sektion des CWI, Joe Higgins diese Menschen besucht und durch eine Kampagne vor Ort und internationale Solidarität bereits enormen Druck auf die Lula-Regierung ausgeübt, das Anrecht der Kaiowá auf das Land anzuerkennen.

Eine sozialistische Welt ist möglich!

Insgesamt war der Besuch des diesjährigen WSF eine einzigartige Erfahrung, um einen Eindruck vom enorm hohen politischen Bewusstsein der lateinamerikanischen AktivistInnen zu bekommen. Um aber auch wirklich etwas zu erreichen, muss auch das Programm der globalisierungskritischen Bewegung über die vage Forderung nach einer anderen Welt und den utopischen Vorstellungen eines Kapitalismus mit "menschlichem Antlitz" hinausgehen. Das letzterer utopisch ist, hat die Masse der brasilianischen Bevölkerung mit der Politik der Lula-Regierung bereits schmerzlich erfahren müssen. Die Zeit ist überreif, um dem Kampf für eine sozialistische Welt aufzunehmen, in der wirklich menschenwürdiges Leben möglich ist.