2.Lockdown: Wir sollen für ihre Unfähigkeit büßen

Die Schulfrage ist symptomatisch für das Agieren der Regierung
Sonja Grusch

Seit Monaten war jedem klar, dass spätestens mit Herbst die Fallzahlen stark ansteigen werden. Dass nun ein zweiter Lockdown verhängt wurde war allerdings alles andere als notwendig. Es ist vielmehr Ausdruck einer Regierung, die wenig überraschend die Interessen weniger über jene der Gesamtheit stellt. 

Keine Teststrategie

Dass die Regierungen - Bund wie Länder - in den letzten Monaten ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben, ist inzwischen keine besonders originelle Analyse mehr. Anfang des Jahres war Überforderung mit der Situation ja noch irgendwie verständlich, war sie doch tatsächlich neu. Doch anstatt daraus zu lernen, wurden in schlimmster Vogel Strauss Manier nötige Vorbereitungen versäumt. Massiver Ausbau der Testmöglichkeiten - ganz nach dem Motto “der Markt wird's schon richten” vertraute man weitgehend auf private Labore, was nicht nur wesentlich teurer ist, sondern auch völlig unzureichend. Massiver Ausbau der Ressourcen bei Hotlines und Tracing - da hat man den Eindruck, dass kaum etwas geschehen ist. Im September gab es z.B. in Wien immer noch keine entsprechende technische Lösung, um Testergebnisse rasch zu übermitteln. Die Hotlines waren und sind völlig überlastet, stundenlange Wartezeiten am Telefon, wochenlange Wartezeiten auf Testergebnisse sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Bei knapp 250.000 Schüler*innen und über 27.000 Lehrer*innen in Wien ist es mehr der berühmte “Tropfen auf dem heißen Stein”, wenn die mobilen Testtrups des Bildungsministeriums bis zu 300 Test pro Tag durchführen können. Mathematik für Anfänger*innen: Allein für Wien würde dieses Verfahren fast 3 Jahre (!) brauchen, um alle Schüler*innen und Lehrer*innen einmal durchzutesten. Im Frühjahr war die Ausrede, dass es für Testung und Tracing geschultes Personal braucht - was ist diesmal die Ausrede? 

Gesundheitssystem am Boden

Die Kolleg*innen im Gesundheitswesen arbeiten seit Jahren über dem Limit. Personalmangel und Dauerstress sind Schuld an hohen Burnout Quoten. Hinter dem Begriff “Triage” versteckt sich die Selektion von Kranken. Indirekt gab es das natürlich immer: Wer es sich leisten kann geht zum Privatarzt, diejenigen ohne das nötige Kleingeld warten monatelang auf wichtige Operationen oder auch nur Krebsabklärungen! Mit der drohenden Überlastung des Gesundheitswesens aber wird diese - real soziale - Selektion nun aber auf eine neue menschenverachtende Stufe gehoben: Wer kommt ins Spital, wer an die Sauerstoffzufuhr, wer bleibt zuhause. Was sind die Auswahlkritieren? Bei wem rechnet es sich, eine teure Behandlung zu intensivieren? Wenn bei der Diskussion der Zahlen häufig erwähnt wird, dass v.a. alte Menschen und Menschen mit Vorerkrankung sterben, dann schwingt immer mit: Die wären ohnehin bald tot gewesen, wozu also viel investieren. Dass diese Menschen aber mit einem voll funktionsfähigen Gesundheitswesen (mal ganz abgesehen von einer nötigen Vorsorgemedizin) noch Monate oder sogar Jahre hätten leben können, ist wohl nur ihren Freund*innen und Angehörigen und ihnen selbst wichtig. Im April ging die Geschichte einer 90 jährigen Belgierin durch die Medien, die das Beatmungsgerät abgelehnt hatte damit es Jüngeren gegeben werden kann. Was für ein menschenverachtendes System, das in einem der reichsten Länder der Welt alte bzw. kranke Menschen so eingeschüchtert hat, dass sie selbst diesen Druck umsetzen!

Seit Jahren prangern die Kolleg*innen im Gesundheits- und Sozialbereich die chronische Unterfinanzierung an und zeigen wieder und wieder und wieder auf, dass es zu wenig Personal gibt. Nicht einmal Corona hat die Herrschenden zur Trendumkehr gebracht. Warum wurden nicht die Bedingungen in der Pflege verbessert - als ersten Schritt mehr Gehalt und Mitbestimmung - um die vielen Kolleg*innen, die aus Selbstschutz aus dem Job ausgestiegen sind zurück zu gewinnen? Warum wurde nicht massiv in die Ausbildung investiert und zehntausende neue Ausbildungsstellen geschaffen? Schon VOR Corona war klar, dass in den nächsten Jahren mindestens 75.000 zusätzliche Pflegekräfte nötig sein werden. Warum müssen nach wie vor teilweise Ehrenamtliche beim Roten Kreuz und anderen unzählige unbezahlte Arbeitsstunden leisten - ihnen könnten doch sofort bei ordentlicher Bezahlung und Verträgen Jobs angeboten werden. Warum werden zwar Milliarden an Mc Donalds & Co. ausbezahlt, aber vielen Pflegenden nicht einmal der großmundig versprochene Corona-Bonus ausbezahlt? Klar ist auch hier: Die aktuelle Notlage ist hausgemacht. Sie ist das Ergebnis von Jahrzehnten, in denen das Gesundheitswesen kaputtgespart wurde und von Monaten, in denen die Regierungen ihre Prioritäten woanders hatten. Z.B. beim Tourismus, dem die Sommersession gerettet werden musste - und auch jetzt ist das Timing mit dem für den Handel wichtigen 8. Dezember und dem Wintertourismus wohl kein Zufall!

Scheinheiligkeit Schule

Seit Wochen tobt ein argumentativer Krieg über die Frage Schulen offenhalten oder nicht. Wenn der Wiener Bildungsdirektor Himmer verkündet, dass die Schule “wahrscheinlich der sicherste Ort” ist, dann ist das nur möglich, weil ja nicht die Schule krank meldet, sondern die Kinder Zuhause krank gemeldet werden. Hier werden keine Statistiken gefälscht, sondern nur trickreich manipuliert. Im Dschungel der Studien und Untersuchungen ist man natürlich verleitet jenen zu glauben, die die eigene Sichtweise unterstützen. Darum wird gerne darauf hingewiesen, dass Kinder seltener erkranken und noch seltener sterben - auch wenn jüngste Untersuchungen zeigen, dass die Schule keineswegs sicher ist. Andererseits wird betont, wie problematisch Schulschließungen für die Psyche und die Zukunft der Kinder sind. Die Argumentationen haben verschiedene Quellen, die zu teils absurden Koalitionen führen: Ehrliche Besorgnis, reale Überforderung durch Job und Kind und natürlich dominant die Notwendigkeit der Wirtschaft, weiterhin uneingeschränkt über die Arbeitskraft der Beschäftigten verfügen zu können. 

Besonders ekelhaft ist, wenn versucht wird Lehrer*innen unter Druck zu setzen, die eigene Gesundheit (bzw. die von Angehörigen) zu riskieren für das “Kindeswohl” (bzw. das Wohl der Wirtschaft). Wir kennen ähnlichen Druck, wenn Beschäftigte im Gesundheitswesen für ihre Rechte streiken. Ganz schnell ist da die  Argumentation des “Egoismus” zur Hand. Ähnlich nun bei den Lehrenden. Das Risiko dem sich die Lehrenden aussetzen sollen wird in der Debatte - leider auch von der Gewerkschaft - völlig ignoriert.

Hier muss in aller Deutlichkeit gesagt werden: Die Schule war niemals ein Ort, der das Kindeswohl im Zentrum hatte! VOR Corona gab es massive Probleme mit Mobbing, mit Essstörungen, mit Kindern die Beruhigungsmitteln vor Prüfungen brauchen - und kaum Schulpsycholog*innen. 2019 entsprach die gesamte schulpsychologische Betreuung 158 Vollzeitstellen - für über 1,1 Millionen Schüler*innen und der Schätzung, dass mindestens 10% aller Schüler*innen psychische Probleme haben (vor Corona)! 

Ein weiteres Argument ist, dass insbesondere “bildungsferne Familien” oder anders gesagt ärmere Familien beim Homeschooling und Distance Learning noch stärker abgehängt werden. Das Argument ist nicht falsch - aber scheinheilig. Kurz & Co. haben von jeher nur die Interessen ihrer Klientel - des sogenannten Mittelstandes - interessiert. Unser ganzes Schulsystem benachteiligt “bildungsferne” Schichten. Dem könnte in Normalzeiten mit einer verschränkten Ganztagsschule bis 19 mit gleichzeitiger Berufsausbildung entgegengewirkt werden. Stattdessen wird wieder stärker zwischen Gymnasium und Mittelschule unterschieden. 

Ob die Regierung Schulen offen hält oder schließt hat nur einen Grund: Was schätzt man für das möglichst gute Funktionieren der Wirtschaft als relevanter ein. Eine Verschnaufpause um die Fallzahlen zu senken oder ein durchgängiges Funktionieren. Eine aus Kapitalsicht taktische Frage, keine grundsätzliche. Beim Grundsätzlichen aber, nämlich die beste Ausbildung für die herrschende Klasse, nur das Nötigste für die (proletarische) Masse, ist man sich einig.

Natürlich ist verständlich, dass viele Eltern hin- und hergerissen sind zwischer der Angst, Kinder und Angehörige durch das Virus zu gefährden und der Überlastung durch ein Zusperren der Schulen. Das Problem ist aber, dass ein schlichtes “Offenhalten” keines der Probleme lösen wird. Millionen Kinder, die sich in überfüllten öffentlichen Verkehrsmitteln zusammenpferchen. Kinder, die in “gelüfteten” Klassen frieren. Kinder, deren Unterricht auf das (angeblich) Wesentliche reduziert wird und all das was Schule für viele überhaupt erst erträglich macht (die sogenannten “Nebenfächer”) fällt weg. Wie sieht es mit den psychischen Folgen aus, wenn ein Kind als Virusträger Verwandte ansteckt und dann “Schuld” ist am Tod der Oma oder den bleibenden Lungenschäden beim Onkel? Was, wenn eine geschätzte Lehrer*in erkrankt oder gar stirbt? Alle Schwächen des Bildungssystems, das mit zu wenig Mitteln ein elitäres Bildungskonzept verfolgt, werden in dieser Krise noch deutlicher. Ein schlichtes “Offenhalten” löst nichts!

Eltern, Lehrer*innen und Schüler*innen müssen gemeinsam für ein besseres Bildungswesen kämpfen - und für eine sichere Schule. Auch hier gilt: Die politisch Verantwortlichen haben monatelang Zeit gehabt, sich auf die 2. Welle vorzubereiten. Die Tatenlosigkeit macht sprachlos - oder besser unglaublich wütend! So viel hätte in den letzten Monaten getan werden können, doch zuerst wurde ewig behauptet, es wäre alles kein Problem und dann - ohne Übergänge - von 100 auf 0 zurückgefahren: 

Wenn leerstehende Büro- und Hotelräume zu Klassen umfunktioniert  und alle zur Verfügung stehenden Lehrer*innen aufgenommen worden wären, dann wäre ein sofortige Reduzierung der Klassengröße möglich gewesen. 

Statt einer pseudo Schulautonomie, die ohnehin v.a. eine Verwaltung des Mangels darstellt, hätte über den Sommer ein bundesweiter Schulbeginns-Plan zwischen Bildungsministerium und Öffi-Betreiber*innen erstellt werden können. Ein großer Teil davon ist ohnehin öffentlich und private Betreiber, die dazu nicht bereit sind oder sogar noch Profit daraus schlagen wollen, gehören im Sinne des Gemeinwohls enteignet und in öffentlichen Besitz überführt.  

Die öffentliche Hand hätte Massentestkapazitäten aufbauen können - finanziert u.a. aus den Extraprofiten von Onlinehändlern und Pharmaindustrie. So könnten z.B. alle Schüler*innen und Lehrer*innen wöchentlich getestet werden, um so Cluster und Superspreader zu verhindern.

Anstatt abgehobener pseudo-Expert*innen hätten motivierte und dafür auch entsprechend bezahlte Lehrer*innen und Lehramtsstudierende zentral Unterrichtsformen ausarbeiten können, die mit Distance-Learning, Outdoor-Unterricht und in Kleinstgruppen sinnvolles Lernen möglich machen. Das wäre dann vielleicht ein bisschen weniger abprüfbarer Stoff und ein bisschen mehr wirklich über gesellschaftliche Fragen, Solidarität, das Gesundheitswesen etc. lernen als der Regelunterricht. Unzählige Lehrer*innen sind bereit und fähig, ihr Wissen hier einzubringen - doch sie werden von den Mühlen der Bürokratie überrollt, demotiviert und zu oft sinnloser und sogar gefährlicher Arbeit genötigt.

Eine Krise wie die jetzige zeigt, dass das herrschende System nicht in der Lage ist, sie zu lösen oder auch nur halbwegs damit umzugehen. Es ist nicht die individuelle Unfähigkeit eines Kurz, Anschobers oder Hackers. Es ist die Unfähigkeit eines Systems, das sich an den Bedürfnissen einer reichen Elite orientiert und nicht am Wohle aller. Es ist die Unfähigkeit eines Systems, in dem wenige über viele entscheiden. Anstatt vorhandene Ressourcen sinnvoll einzusetzen wird alles getan, damit die Hüttengaudi und die Waffenproduktion bei Glock weiterläuft wie bisher. Auch in der Bildung ist die Frage nicht “Schulen offen halten oder nicht” , sondern “wie können Schüler*innen und Lehrer*innen gemeinsam für eine demokratische, sichere und menschenwürdige Schule kämpfen”. Ganz sicher nicht, indem man das Teile-und-Herrsche Spiel der Herrschenden mitspielt, sondern indem man einen Blick hinter die Kulissen der Regierungspropaganda wirft und aufzeigt, wo die Verantwortung liegt. Nicht bei den Eltern, nicht bei den Lehrer*innen und auch nicht bei den Jugendlichen - sondern bei einem kranken System! Ein System, in dem die Betriebe weitgehend uneingeschränkt weiterlaufen sollen, in dem über die An- und Abfahrt zur Arbeit in nach wie vor dicht belegten Öffis nicht einmal geredet wird. In dem zwar viel über Homeoffice gesprochen, aber dabei “vergessen” wird dass ca. 700.000 teilweise dicht an dicht in der Industrie arbeiten wo die Firmenvertreter*innen schon klargemacht haben, dass sie nicht bereit sind für die zusätzlich nötigen Sicherheitsvorkehrungen zu zahlen. Aber “die Wirtschaft” ist die heilige Kuh, um die alle Parlamentsparteien ehrfürchtig tanzen. Wie schon im Frühjahr gilt auch diesmal für die Regierung die individuellen Freiheiten maximal zu beschränken, um die Freiheit der Wirtschaft maximal zu erhalten. All das ist zutiefst logisch aus Sicht des Kapitalismus und seiner Vertreter*innen - und zutiefst abzulehnen für alle, die auf der anderen Seite stehen. Notwendig wäre, dass die Beschäftigten entscheiden ob bzw. unter welchen Bedingungen weiter gearbeitet wird. Dass die Spitzen von ÖGB und AK zum nationalen Schulterschluss mit den Unternehmen bereit sind lässt die Beschäftigten, Arbeitslosen und ihre Familien im Kampf um ihre Gesundheit und Zukunft alleine dastehen. Dass diese Kämpfe stattfinden werden ist zu erwarten - ein sozialistisches Programm dafür zu entwickeln und zu verbreiten die Aufgabe von allen die sehen, dass Corona nicht die Krankheit ist, sondern nur das Symptom der Systemkrankheit Kapitalismus.