Zum Ausgang der Bundestagswahl 2017

Neue Phase der Instabilität eingeleitet – Widerstand gegen AfD und die neue Regierung nötig
Von Sascha Staničić

Nach einem langweiligen und wenig polarisierten Wahlkampf kommt das Ergebnis der Bundestagswahlen einem politischen Erdbeben gleich. Mit der AfD ist eine offen rassistische, rechtspopulistische Partei in den Bundestag eingezogen. Das ist ein Schock für viele und eine Warnung für die Zukunft.

Die Tatsache, dass eine Fortsetzung von Merkels Kanzlerinnenschaft nicht in Frage gestellt war und ihre Einschläferungstaktik im Wahlkampf, ließen tieferliegende gesellschaftliche Prozesse weniger deutlich erscheinen: die Abwendung von den Parteien der Großen Koalition, die generelle Loslösung traditioneller Bindungen an Parteien, das starke Gefühl bei Vielen, dass es im Land ungerecht zugeht, wachsende Verunsicherung zu den medial hochgepeitschten Themen Geflüchtete, Islam und Innere Sicherheit und eine weiterhin zunehmende gesellschaftliche Polarisierung.

Die Bundestagswahl markiert eine parlamentarische Rechtsverschiebung, für die die Masse der Bevölkerung – Lohnabhängige, Erwerbslose, MigrantInnen, Frauen, GewerkschafterInnen – in den nächsten vier Jahren einen bitteren Preis zahlen wird. Der Wiedereinzug der FDP ins Parlament und – wahrscheinlich – in die Regierung wird die Wünsche der ArbeitgeberInnen deutlich weiter nach oben auf die Agenda setzen – ob bei den Themen weitere Erhöhung des Renteneinstiegsalters, weitere Flexibilisierung von Arbeitszeiten, Angriffen auf das Streikrecht etc. Gleichzeitig wird die AfD die nächste Bundesregierung von rechts unter Druck setzen und vor sich her treiben. CSU-Vorsitzender Horst Seehofer hat am Wahlabend schon deutlich gemacht, dass er diesem Druck nachgeben wird, um die „rechte Flanke zu schließen“. Dabei zeigt gerade das Ergebnis in Bayern, dass eine möglichst rechte Politik der etablierten Parteien der AfD nicht das Wasser abgräbt. Hier hatte sich die CSU oft selbst rechtspopulistisch-polternd gegen Geflüchtete und Migration ausgesprochen und das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte eingefahren – und die AfD im Freistaat stark gemacht.

Für Gewerkschaften und Linke muss das heißen, sich auf härtere Auseinandersetzungen auf der Straße und in den Betrieben vorzubereiten – und sich nicht in die Defensive drängen zu lassen, sondern vom ersten Tag der neuen Regierung deutlich die eigenen Forderungen zu formulieren und für diese zu mobilisieren.

Es kann kein Zweifel darin bestehen, dass es für Forderungen nach Mietpreissenkungen, Einschränkungen von Leiharbeit, Ausbau von Gesundheits- und Bildungswesen, ein Ende von Niedriglöhnen und Prekarisierung breite Mehrheiten in der arbeitenden Bevölkerung gibt, die aber durch Gewerkschaftsführungen und LINKE nicht mobilisiert werden. Tom Strohschneider hat in einem Kommentar in der Tageszeitung „Neues Deutschland“ darauf hingewiesen, dass sich deutlich mehr Menschen selbst links verorten, als es das so genannte Mitte-Links-Lager im Parlament auf einen Stimmenanteil gebracht hat. Das zeigt zweierlei: wir sehen weiterhin einen Prozess der gesellschaftlichen Polarisierung (und nicht eines einseitigen Rechtsrucks), der sich aber bei den Wahlen nicht nieder schlägt und das Potenzial für soziale Bewegungen und Widerstand von links ist weiterhin vorhanden.

Legitimationskrise der Bürgerlichen

Das Wahlergebnis ist eine schallende Ohrfeige für die Große Koalition. CDU, CSU und SPD haben historische Tiefpunkte erreicht. Das ist auf den ersten Blick ein Widerspruch zu den Umfragewerten, die in der Bevölkerung eine vergleichsweise hohe Zufriedenheit mit der eigenen wirtschaftlichen Situation und ebenfalls relativ hohe Zustimmungswerte für Merkel zum Ausdruck brachten. Aber an Merkel scheiden sich die Geister und die Zufriedenheit mit der eigenen Lage ist nur relativ angesichts der dramatischen Zunahme ungesicherter Arbeitsverhältnisse und der Tatsache, dass vierzig Prozent der Menschen heute ein niedrigeres Einkommen haben als vor zwanzig Jahren.

Aber vor allem die SPD wurde einmal mehr dafür abgestraft, dass sie aufgehört hat, auch nur in Ansätzen sozialdemokratische Politik im klassischen Sinne zu betreiben. Die FDP profitierte von ihrer Abwesenheit im Bundestag über die letzten vier Jahre, was in Vergessenheit gerieten ließ, dass sie an vorderster Front mitverantwortlich ist für die gesellschaftlichen Zustände. Ihr Neuinszenierung hat bei ihrem klassischen Klientel von KleinunternehmerInnen, höheren Angestellten und BeamtInnen funktioniert und nicht Wenige haben FDP statt CDU/CSU gewählt, um die Große Koalition zu beenden. Der Einzug dieser „kleinen Partei des großen Kapitals“ treibt den EigentümerInnen großer Aktienpakete und der Unternehmerschaft die Freudentränen ins Gesicht, haben sie doch nun wieder eine konsequente Interessenvertretung im Parlament, die keine Rücksicht auf die Arbeitnehmerbasis nehmen muss, wie dies CDU/CSU und SPD in Grenzen tun müssen.

Dieses Wahlergebnis zeigt, dass die sich seit vielen Jahren vollziehende Legitimationskrise der Institutionen der kapitalistischen Gesellschaft sich unter der Oberfläche weiter verstärkt hat und nun zu einer politischen Zäsur geführt hat: Erstmals seit Jahrzehnten sind sechs (bzw. sieben, wenn man die CSU als eigenständige Partei betrachtet) Parteien im Bundestag vertreten und gehört dazu eine Partei rechts von CDU/CSU.

Auch die Wahlbeteiligung drückt aus, dass ein Viertel der Wahlbeteiligten dem Parlamentsbetrieb komplett den Rücken zugekehrt haben. Darüber kann der Anstieg von 71 auf 75 Prozent nicht hinwegtäuschen. Die NichtwählerInnen sind auch diesmal stärkste „Partei“.

Das läutet eine neue Phase der politischen Instabilität ein, die sich schon am Tag nach der Wahl darin ausdrückt, dass Neuwahlen nicht ausgeschlossen werden, sollte eine Jamaika-Koalition aus CDU/CSU, FDP und Grünen nicht zustande kommen und Horst Seehofer laut darüber nachdenkt, die CSU von der CDU unabhängiger aufzustellen und möglicherweise keine Fraktionsgemeinschaft zu bilden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Frage einer bundesweiten Ausdehnung der CSU erstmals seit vielen Jahren wieder auf die Tagesordnung kommt.

AfD

Die AfD konnte besser abschneiden, als in den letzten Wochen und Monaten erwartet worden war. Insbesondere in Ostdeutschland konnte sie einen Großteil der ProtestwählerInnen mobilisieren. Dabei ist die Geflüchteten- und Migrationsfrage nur ein Faktor für das gute Abschneiden der Rechtspopulisten. Migrantenfeindlichkeit bzw. Sorgen vor den sozialen Folgen von Zuwanderung sind zweifellos für die meisten AfD-WählerInnen entscheidend. Gleichzeitig erklärt sich der Erfolg der AfD nicht nur daraus. 60 Prozent der AfD-WählerInnen haben der Partei nicht aus Überzeugung ihre Stimme gegeben. Sie wollten ein Zeichen setzen gegen eine herrschende Politik, die immer abgehobener ist und die sozialen Interessen der Bevölkerung ignoriert.

Deutschland hat mit dem Einzug der AfD in den Bundestag an die vielen Länder in Europa aufgeschlossen, in denen rechtspopulistische Parteien schon lange in den Parlamenten vertreten sind. Der Rechtspopulismus ist ein Symptom der Krise der kapitalistischen Gesellschaft mit all ihren sozialen Folgen und der Verunsicherung für breite Teile der Arbeiterklasse und der Mittelschichten. Er konnte stark werden, weil die Sozialdemokratie gänzlich aufgehört hat, eine politische Stimme für Arbeitnehmerinteressen (selbst im Rahmen der bestehenden kapitalistischen Verhältnisse) zu sein und weil Gewerkschaften und linke Parteien keine überzeugende und kämpferische Alternative gegen das bürgerliche Establishment aufzeigen.

Dabei hatte die AfD nicht zuletzt in den Medien einen Wahlhelfer, der das Thema Migration und Abschiebungen von Geflüchteten in einer Talkshow nach der anderen zum Thema Nummer Eins machte und damit der AfD Rückenwind verlieh.

Es stimmt, dass 87 Prozent nicht die AfD gewählt haben. Das ist umso wichtiger, da davon auszugehen ist, dass die Sympathien mit der AfD in der Breite der Bevölkerung gesunken sind, sie aber in der Lage ist, ihre potenzielle Wählerbasis zu mobilisieren. Die AfD im Bundestag wird aber nicht nur das Parlament, sondern die politischen Debatten und das politische Klima im Land verändern. Die Nähe wesentlicher Teile der AfD zu völkischen und extrem nationalistischen Positionen wird auch den militanten Faschisten Auftrieb geben und diese selbstbewusster machen. Eine neue Regierung wird – in humanistischen Worten – die Daumenschrauben für Geflüchtete anziehen und dem Druck der AfD nachgeben, die Asylgesetze weiter zu verschärfen, rabiater abzuschieben etc.

Die AfD ist jedoch alles andere als ein stabiles Phänomen. Frauke Petrys Entscheidung am Tag nach der Wahl, sich nicht der AfD-Bundestagsfraktion anzuschließen, zeigt das Potenzial für weitere Zerwürfnisse und Spaltungen in der Partei auf. Mit dem Einzug in den Bundestag werden auch Erwartungen bei ihren WählerInnen entstehen, denen die Partei kaum gerecht werden wird. Deshalb ist nicht davon auszugehen, dass sie den Einzug in den Bundestag als Sprungbrett für eine weitere qualitative Stärkung wird nutzen können, jedoch auch nicht, dass sie schnell wieder verschwindet, wie rechtspopulistische Phänomene auf Länderebene in der Vergangenheit.

Der Kampf gegen die AfD muss deshalb ein zentraler Bestandteil der Strategien von Linkspartei und Gewerkschaften sein. Dabei müssen aber die Ursachen für den Erfolg der Rechtspopulisten ins Visier genommen werden: das bedeutet Kampf dem kapitalistischen Establishment und Mobilisierung für die gemeinsamen sozialen Interessen der arbeitenden Bevölkerung. Ein erster Schritt könnte ein bundesweiter Aktionstag mit lokalen Demonstrationen und einer Belagerung des Reichstagsgebäudes am Tag der Konstituierung des neuen Bundestags sein.

DIE LINKE

Die Linkspartei konnte ihr Ergebnis leicht verbessern, eine halbe Million Stimmen dazugewinnen, aber nicht verhindern, dass die AfD zur neuen Protestpartei Nummer Eins und zur stärksten der kleineren Parteien geworden ist. Faktisch gibt es zwei Ergebnisse der LINKEN: Zuwächse im Westen und Verluste im Osten.

Es muss ihr eine Warnung sein, dass sie in Ostdeutschland massive Stimmeneinbußen zu verzeichnen hatte, während sie in Westdeutschland (mit Ausnahme des Saarlands) Zugewinne zu verzeichnen hat, die sie in den allen Bundesländern über die Fünf-Prozent-Hürde brachte.

Es gibt zahlreiche westdeutsche Wahlkreise, in der DIE LINKE weit über zehn und bis zu 18 Prozent holte und zum Teil deutlich hinzu legen konnte (so zum Beispiel in Kassel 13,6 Prozent, in Bremen I 14,2 Prozent, Hamburg Altona 15,7 Prozent, Berlin-Neukölln 18,3 Prozent). Im Osten ging es bei dieser Wahl hingegen bergab. Diese Ost-West-Teilung gilt auch für Berlin, wo es die West- und Mischstimmbezirke sind, in denen DIE LINKE zulegte, während in den traditionell starken Ostberliner Stammbezirken Stimmen verloren gingen, auch wenn dort die Direktmandate von Gregor Gysi und anderen verteidigt werden konnten. Im Westen sticht unter anderem Münster hervor, wo die AfD die Fünf-Prozent-Hürde nicht erreichte, was sicher auch Folge der vielen Mobilisierungen und Kampagnen gegen die AfD in der Stadt war.

Das ist eine Bestätigung derjenigen KritikerInnen in der Partei, die die Orientierung auf Regierungsbeteiligungen mit SPD und Grünen als gefährliche Anpassung der Partei an das Establishment sehen. Anders ist nicht zu erklären, weshalb gerade im Osten die Verluste so hoch sind. Hier wirkt, dass sich viele Menschen 25 Jahre nach dem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik abgehängt und immer noch als Menschen zweiter Klasse fühlen und DIE LINKE diesen Zustand mittlerweile auf höchster Ebene mitverwaltet statt dagegen vor allem zu opponieren. Hinzu kommen zweifellos das niedrige Niveau an sozialen und gewerkschaftlichen Kämpfen und Erfahrungen konkreter Solidarität (auch über nationale und religiöse Grenzen hinweg) und über viele Jahre gewachsene rechte Strukturen, die oftmals stärker sind als in der Fläche Westdeutschlands. Dass diesem Gefühl des Abgehängtseins nun vor allem die AfD Ausdruck verleiht und gegen Geflüchtete und MigrantInnen richtet, ist ein Armutszeignis für die in den ostdeutschen Landesverbänden dominierenden Kräfte in der Linkspartei.

DIE LINKE legt gleichzeitig in Städten und unter jungen Menschen, oftmals mit höherem Bildungsstand, zu, weil sie als einzige Alternative zu AfD und internationalem Trumpismus gesehen wird. Sie läuft Gefahr, diese von diesen Schichten in sie gesetzten Hoffnungen zu enttäuschen, wenn sie nun auf eine Wandlung der SPD in der Opposition (mit Blick auf R2G bei den nächsten Wahlen) setzt, statt sich klar von der nun zu erwartenden sozialdemokratischen Verbalopposition abzusetzen und den Widerstand gegen die vielen SPD-geführten Landes- und Kommunalregierungen zu betonen.

Sahra Wagenknecht liegt mit ihrer Äußerung vom Wahlabend besonders daneben. Sie hatte „mit Blick auf das Flüchtlingsthema [gesagt], man habe »dort auch vielleicht bestimmte Probleme ausgeklammert, in der Sorge, dass man damit Ressentiments schürt«. Damit habe man es »am Ende« der AfD überlassen, »bestimmte Dinge anzusprechen, von denen die Menschen einfach erleben, dass sie so sind«“. (Zitat aus Neues Deutschland)

Diese verschwurbelte Äußerung erinnert an ihre falschen Aussagen in den Jahren 2015 und 2016, wo sie das Asylrecht als „Gastrecht“ bezeichnete, Abschiebungen forderte und Terroranschläge in einen Kausalzusammenhang zu Einwanderung brachte. Es muss verhindert werden, dass DIE LINKE diesen von Sahra Wagenknecht immer wieder ins Spiel gebrachten Weg geht, auf den Erfolg der AfD mit einer Abkehr ihrer migrationspolitischen Prinzipien zu reagieren. Stattdessen ist es nötig, dass die Partei das Thema Geflüchtete und Migration offensiv und von einem Klassenstandpunkt aus aufgreift. Das würde bedeuten, viel offensiver zu formulieren, dass die Geflüchteten-Debatte dazu genutzt wird, von den eigentlichen sozialen Problemen und ihren VerursacherInnen abzulenken, die gemeinsamen sozialen Interessen von MigrantInnen und hier Geborenen in den Mittelpunkt zu rücken und gleichzeitig den Fokus auf eine zugespitzte Propaganda gegen die Macht und den Reichtum des „einen Prozents“ zu legen – und vor allem aufhört in Landesregierungen Autobahnprivatisierungen, Braunkohleabbau und Abschiebungen mitzutragen.

Aussichten

Eigentlich gibt es keine Alternative zu einer Jamaika-Koalition, nachdem sich die SPD aus Gründen der Selbsterhaltung auf die Opposition festgelegt hat. Trotzdem werden die Koalitionsverhandlungen nicht einfach werden. CDU/CSU sind geschwächt, FDP und Grüne werden möglichst viel durchsetzen wollen und in einigen Fragen wird es nicht einfach zu Kompromissen zu kommen. Neuwahlen sind deshalb theoretisch nicht auszuschließen oder auch eine staatstragende Wende der SPD nach einem Scheitern von Jamaika-Koalitionsverhandlungen, aber Neuwahlen würden unter den gegebenen Umständen eher die AfD stärken und die SPD kann sich vier weitere Jahre Große Koalition nicht leisten, wenn sie nicht zur Zehn-Prozent-Partei werden will.

In jedem Fall läuten diese Wahlen das Ende ruhigen Jahre der Merkel-Regentschaft ein. Kommen ökonomische Krisenprozesse hinzu, kann die soziale Frage auch schnell wieder in den Mittelpunkt rücken, was neue Chancen für DIE LINKE eröffnen würde.