Vietnam: Der amerikanische Krieg

Vor 30 Jahren endete einer der blutigsten Feldzüge der Geschichte: Der Vietnamkrieg
Sonja Grusch

Bis heute heißt der Vietnamkrieg in Südostasien “amerikanischer Krieg”.  Für die herrschende Klasse in den USA bedeutete die Niederlage in Vietnam ein tiefes Trauma, aus dem sie sich erst konsequent mit dem Irak-Krieg zu befreien versuchte. Für den Vietnam war es der wichtigste Sieg in einem langen Kampf um Befreiung.

Bourgeoisie kämpft(e) nicht für Unabhängigkeit

1859 wurde “Indochina” (das auch Laos und Kambodscha umfasste) französische Kolonie. Der Kampf gegen die  Kolonialherren wurde von Anfang an in erster Linie von den “armen Leuten” – den ArbeiterInnen und BäuerInnen – getragen, während die einheimischen Eliten sich mit den Besatzern arrangierten. Zur zentralen Organisation in der Unabhängigkeitsbewegung entwickelte sich schließlich die erst 1930 gegründete Kommunistische Partei Vietnams (KPV). Der russische Revolutionär Leo Trotzki hat diese – für (ehemalige) Kolonien typische – Entwicklung in seiner “Theorie der permanenten Revolution” beschrieben. Die nationale herrschende Klasse ist aufgrund ihrer Abhängigkeit vom Kolonialherren nicht in der Lage, die Aufgaben der bürgerlichen Revolution – bürgerliche Demokratie, nationale Unabhängigkeit, Landreform – zu erfüllen. Nur die unterdrückten Massen, die BäuerInnen und v.a. die ArbeiterInnenklasse, sind dazu in der Lage. Trotzki erklärt weiters, dass die Sicherung dieser Errungenschaften nur möglich ist, wenn der Kapitalismus gestürzt und durch eine sozialistische Gesellschaft ersetzt wird.

Stalinistische Irrwege

Der Sieg der stalinistischen Bürokratie in der Sowjetunion Ende der 20er Jahre bedeutete sowohl innen- als auch außenpolitisch die Beseitigung aller zentralen Elemente marxistischer Theorie und sozialistischer Programmatik. Alle kommunistischen Parteien wurden “gesäubert” und auf einen Kurs gleichgeschalten, der lediglich den Machtinteressen Moskaus entsprach. Klassenkämpfe und unabhängige Bewegungen hatten in der Politik der in der UdSSR herrschenden Bürokratie zunehmend keinen Raum mehr: In den Kolonien erklärte sie die ArbeiterInnenklasse nun zu einem Anhängsel der Bourgeoisie. Die ArbeiterInnenorganisationen hatten ihrer Theorie nach die Aufgabe, die nationale Bourgeoisie in ihrem – oft nur vermeintlichen – Kampf für nationale Unabhängigkeit zu unterstützen. Die Erfahrungen der Oktoberrevolution, in welcher die ArbeiterInnenklasse unabhängig von der Bourgeoisie in einem rück-ständigen Land die Macht erkämpfen konnte, wurden so auf den Kopf gestellt. Während des 2. Weltkriegs gingen die StalinistInnen noch einen Schritt weiter: Ihrem Bündnis mit den Alliierten in Europa entsprechend, zwangen sie die kommunistischen Parteien in den britischen und französischen Kolonien bzw. in jenen in Lateinamerika, jeden antiimperialistischen Widerstand aufzugeben und ausschließlich den Kampf gegen Japan (bzw. Deutschland und Italien) zu unterstützen. Konkret endeten diese Bündnisversuche in vielen Fällen in Gemetzeln an den örtlichen KommunistInnen.

KP gegen starke ArbeiterInnenbewegung

In westlichen Geschichtsbüchern werden (Ex-)Kolonien meist als rein bäuerliche, völlig rück-ständige Gesellschaften dargestellt. Ignoriert wird, dass es in all diesen Ländern eine junge und meist kämpferische ArbeiterInnenklasse gab. Auch in Vietnam entstand mit Ende des 19. Jahrhunderts eine ArbeiterInnenbewegung. In den 20er und 30er Jahren kam es zu einer Reihe von Streiks, 1930 zu einer Streikwelle mit Aufständen und sogar der Bildung von Volksräten, in denen ArbeiterInnen eine wichtige Rolle spielten, 1938 zum Generalstreik. Am Ende des 2. Weltkriegs lag die Macht auf der Straße; die französischen Kolonialherren waren durch den Krieg stark geschwächt und die zeitweilige Besatzungsmacht Japan vernichtend geschlagen worden. In der Augustrevolution 1945 kam es zu Massendemonstrationen und wieder entstanden revolutionäre Volks- und ArbeiterInnenräte. Die KP unter Ho Chi Minh verfolgte ein anderes Konzept. Sie war de facto im Viet Minh, einer breiten nationalen Widerstandsfront, aufgegangen und erklärte zwar die Unabhängigkeit zum Ziel, nicht aber den Sturz der von Frankreich komplett dominierten kapitalistischen Strukturen des Landes. Dieses halbherzige Vorgehen gab den französischen Kolonialherren die Möglichkeit, gemeinsam mit den vietnamesischen Eliten gegen die am 2.9.1945 ausgerufene Republik zu putschen.

Vermeidbare Opfer

Die Opferbereitschaft der vietnamesischen KämpferInnen in den Unabhängigkeitskriegen gegen Frankreich (1945-54) und gegen die USA (1964-75) war enorm. Nach vietnamesischen Schätzungen starben allein im “amerikanischen Krieg” eine Million SoldatInnen und vier Millionen ZivilistInnen. Hinzu kommt noch die Zerstörungen von Menschen und Natur durch den Einsatz moderner chemischer Waffen (“Agent Orange”). Mit teilweise improvisierten und technologisch völlig veralteten Mitteln zwangen die VietnamesInnen zuerst Frankreich und dann die Supermacht USA in die Knie. Die Politik der KP – Zusammenarbeit mit Teilen des Imperialismus, die Rettung des Kapitalismus und das Vorgehen gegen ArbeiterInnen und BäuerInnen – hatte die Grundlage für einen langen und blutigen Unabhängigkeitskrieg gelegt. Ein alternativer Weg wäre möglich gewesen: In Sri Lanka war die führende Organisation der ArbeiterInnenbewegung und der Unabhängigkeitsbewegung die LSSP, eine damals trotzkistische Partei. Sie verband den Kampf für Unabhängigkeit mit jenem gegen Kapitalismus. Sri Lanka, das strategisch durchaus bedeutend für den Imperialismus war, erreichte seine Unabhängigkeit unter verhältnismäßig weniger Schmerzen als z.B. Indien oder Vietnam, in denen das stalinistische Konzept in der Praxis durchgeführt wurde.

Guerillataktik als Basis des Stalinismus

Der Viet Minh (im Krieg gegen die französischen Truppen) und später der Viet Cong bzw. die FNL (süd- und nordvietnamesischen Truppen gegen die USA) waren Guerillatruppen. Sie bestanden v.a. aus BäuerInnen, hatten stark hierarchische Strukturen und als Ziel einzig die Unabhängigkeit. Nach der Augustrevolution 1945 hatte die KP die Städte verlassen und ihre Arbeit aufs Land konzentriert. China und Vietnam, aber auch Kuba, haben gezeigt, dass ein Unabhängigkeitskrieg mit einer Guerillaarmee gewonnen werden kann. Sie haben aber auch gezeigt, dass der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft auf dieser Grundlage nicht möglich ist. Sozialismus – im Gegensatz zu einer stalinistischen Diktatur – braucht die aktive Teilnahme der ArbeiterInnenklasse und der Bauernschaft. Sie müssen in Räten auf allen Ebenen der Gesellschaft entscheiden. Eine Guerillaarmee, die die ArbeiterInnenklasse de facto ausschließt, kann eine solche demokratische Grundlage nicht schaffen. In Vietnam wurde daher im Norden ab Mitte der 50er Jahre und im Gesamtstaat nach dem Abzug der US-Army bzw. nach der Vereinigung 1976 eine stalinistische Diktatur errichtet. Die Partei- und Staatsbürokratie orientierte sich nach dem Bruch zwischen der Sowjetunion und China an ersterer und beteiligte sich mit dem Krieg gegen Kambodscha und China auch an bewaffneten inner-stalinistischen Auseinandersetzungen.

Der Kapitalismus wird wieder eingeführt

Jahrzehntelange Kriege, massive Zerstörung durch die US-Bombardements und der bürokratische Stalinismus führten dazu, dass Vietnam in den 80er Jahren eines der ärmsten Länder der Welt war. Mitte der 80er Jahre entschied sich die stalinistische Bürokratie für einen Kurswechsel, genannt “Doi Moi”. Die Wirtschaft wurde, ähnlich wie in China, für ausländisches Kapital geöffnet. Bis Ende dieses Jahres will Vietnam der WTO beitreten. Die Landwirtschaft wurde privatisiert, ebenso Teile der Industrie. Obwohl noch rund 6000 Betriebe offiziell verstaatlicht sind, haben sie große Autonomie und werden von den jeweiligen VertreterInnen der Bürokratie (das gilt auch für die staatliche Gewerkschaft) wie private Unternehmen geführt. Gabriel Kolko, keineswegs ein Gegner der  vietnamesischen Führung, hatte bereits 1986 angemerkt: “Die meisten kommunistischen Anführer waren im wesentlichen administrative Problemlöser … und hatten erstaunlich oberflächliche theoretische und analytische Fähigkeiten … Von den hunderten vietnamesischen Anführern, die ich nach 1967 getroffen habe, auf allen Ebenen von der Basis bis zu Mitgliedern des Politbüros, hat keiner marxistische oder leninistische Doktrinen in sein Denken in irgendeiner Art einbezogen, und, noch wichtiger, nur sehr wenige haben überhaupt versucht, es zu tun.” Die stalinistische Bürokratie änderte ihre Taktik ohne ideologische Probleme – weil Sozialismus bzw. Kommunismus in ihrem Denken bestenfalls Mittel zum Zweck war. Sie führte in den letzten 20 Jahren den Kapitalismus wieder ein.

Zwei Seiten der Medaille

Heute hat Vietnam hohe Wachstumszahlen, Reis wird exportiert, Öl gefördert und ausländische Unternehmen eröffnen Niederlassungen. Hat der Kapitalismus also Verbesserungen gebracht? Auf den ersten Blick mag es so scheinen, der Lebensstandard ist heute besser als vor 20 Jahren. Auf den zweiten Blick muss aber berück-sichtigt werden, dass nach den Kriegen zuerst einmal die banalsten Grundlagen der Wirtschaft wieder aufgebaut werden mussten. Der Kapitalismus kam, sah und siegte erst, als diese Grundlagen wieder geschaffen waren. Der Kapitalismus schafft außerdem nicht nur Gewinner-Innen. In den Sonderwirtschaftszonen gelten die Arbeitsgesetze de facto nicht, Gewerkschaften sind verboten, rund 90% arbeiten mit kurzzeitigen Arbeitsverträgen (falls sie überhaupt Verträge haben). Arbeitslosigkeit ist ein Massenphänomen - Schätzungen sprechen von ein bis zwei Drittel des Arbeitskräftepotenziales, das keinen Job hat. Auf Druck von WTO, IWF und Weltbank werden die Märkte und auch der Dienstleistungsbereich geöffnet, was in den kommenden Jahren v.a. in der Landwirtschaft wohl zum Verlust des Landes durch die Kleinbauern führen wird. Der freie Zugang zum Bildungs- und Gesundheitswesen wurde abgeschafft, seither steigt der Analphabetismus (vor allem unter Frauen und der Landbevölkerung) wieder.

Gibt es eine sozialistische Zukunft für Vietnam?

Obwohl es zweifellos noch Elemente eines stalinistischen Staates gibt, ist das dominierende Element bereits der Kapitalismus. Gegen die zunehmende Ausbeutung regt sich Widerstand. Es gibt Streiks von ArbeiterInnen und regionale Unruhen und Aufstände. Natürlich gibt es auch Illusionen in den Kapitalismus. Aber der momentane Aufschwung ist abhängig von den Entwicklungen der Weltwirtschaft und insbesondere Chinas. Eine Krise in dieser Region wird harte Rückschläge für die Menschen in Vietnam bedeuten. Die mangelnde Demokratie – Vietnam ist ein bürokratischer Ein-Parteien-Staat – kann Thema in künftigen Konflikten sein. Hier wird es nötig sein, die Forderungen nach demokratischen Rechten zu unterstützen, aber auch zu erklären, dass eine bürgerliche Demokratie nach westlichem Vorbild an den wachsenden sozialen Unterschieden und an Armut und Ausbeutung nichts ändern wird. Heute ist der Aufbau von unabhängigen Organisationen der ArbeiterInnenklasse eine schwere, aber notwendige Aufgabe. Sie muss mit den Illusionen in den Kapitalismus und den Erfahrungen mit einer stalinistischen Diktatur umgehen und ein eigenständiges, sozialistisches Programm entwickeln. Ein solches Programm muss beim täglichen Kampf ums Überleben in einer zunehmend chaotischen Wirtschaft, in der Menschen nur billige Arbeitskräfte sind, ansetzen. Es muss die Grenzen der Fähigkeit des Kapitalismus aufzeigen, für alle Menschen ein menschenwürdiges Leben zu gewährleisten. Ein solches Programm muss eine sozialistische Alternative aufzeigen – eine Gesellschaft, die nach den Bedürfnissen der Menschen geplant wird und in der nicht die Profite nationaler oder internationaler Kapita-listInnen im Mittelpunkt stehen. Eine Gesellschaft, in der die ArbeiterInnen und BäuerInnen entscheiden und nicht Parteibonzen und Unternehmen.

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