Ungarn: Vor Bankrott und Diktatur?

Tilman M. Ruster

In den letzten Wochen macht Ungarn in den bürgerlichem Medien verstärkt von sich reden. Grund dafür ist die wirtschaftliche Krise des Landes, die auch die Stabilität des Euro bedroht. Obwohl das Land den Euro selbst nicht eingeführt hatte verlor der Euro bereits nach Berichten über die wirtschaftliche Lage des Landes an den Börsen. Die Gefahr für den Euro-Raum besteht in den großen Investitionen und hohen Krediten, die europäische, besonders österreichische, deutsche und schweizer Banken in die ungarische Krise verwickeln. Besonders problematisch ist, dass es sich bei den Krediten um Fremdwährungskredite handelt. Der in der Krise ständig abgewertete ungarische Forint macht die Rückzahlung der Kredite in Euro und Schweizer Franken praktisch unmöglich. Aus eben diesem Grund warnen bürgerliche Ökonomen auch vor einem Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone. Es geht aber nicht nur um Kredite für den Staat oder die Wirtschaft, sondern besonders hart trifft es viele Privathaushalte. Banken vermittelten zu Zeiten eines stärkeren Forint Euro- oder Franken-Kredite, die jetzt nicht mehr zurückgezahlt werden können. Viele Haushalte stehen vor der privaten Insolvenz. Ab 11.01. verhandeln ungarische Regierung, IWF und EU nun über ein Rettungspaket nach griechischem Vorbild.

Die rechtskonservative bis rechtsextreme Regierung unter Victor Orbán hatte alles versucht das abzuwenden. Die Auszahlung eines Rettungspakets, das schon im Oktober 2008 beschlossen wurde, wurde 2010 gestoppt. Die damals frisch gewählte Orbán-Regierung weigerte sich weiter Spar-Anweisungen von EU und IWF entgegenzunehmen. Stattdessen führte sie eine schwache Bankensteuer sowie „Krisensteuer“ ein, die besonders ausländische Unternehmen traf. Das zeigt die bonapartistischen Züge der Regierung: Obwohl sie in der Praxis für den unbedingten Machterhalt der Bourgoisie und des Kapitalismus steht, kann sie sich nicht auf ein starkes BürgerInnentum als soziale Basis stützen. Stattdessen ist sie mehr als gewöhnliche bürgerliche Regierungen auf die Zustimmung von ArbeiterInnen angewiesen. Ein gelegentlicher Schlag gegen die Reichen hilft dabei. Diese Steuermaßnahme macht Orbàn also nicht zu einem Linken, sondern zeigt die Schwäche der ungarischen Bourgoisie. So wurde die Bankensteuer später durch Steuergeschenke an Reiche „wieder gut gemacht“; das Bündnis zwischen Orbàn und nationaler Bourgoisie ist ungebrochen.

In der Folge versuchte Orbàn mit seiner 2/3 Mehrheit im Parlament den brutalen Sparkurs, der in Griechenland durch die „Troika“ aus EU-Kommission, EZB und IWF bestimmt wird auf rein nationaler Ebene durchzuziehen. Extreme Angriffe auf das Arbeitsrecht, Pensionen, das Gesundheits- und Sozialwesen, Arbeitslose und diverse andere Bereiche wurden dabei von massiver rassistischer Hetze begleitet: Z.B. wurde die faktische Aufhebung des Kündigungsschutzes mit angeblich „faulen Roma“ begründet, die die Wirtschaft lähmen würden. Auch die eingeführte Möglichkeit Arbeitslose in Containerparks praktisch zu isolieren und sogar extra bewachen zu lassen wurde als „Sicherheits-Maßnahme“ gegen Roma dargestellt.

Natürlich regte sich Widerstand gegen die Maßnahmen. Allerdings blieb dieser ohne politische Vertretung: Die parlamentarische Opposition besteht auf der einen Seite aus der sozialdemokratischen, ehemals stalinistischen MSzP und der grün-liberalen LMP. Die MSzP hatte sich in Vorgängerregierung bereits unglaubwürdig als soziale Alternative gemacht und die LMP hat einen völlig verkopften Zugang. Beide stellen keinen Anziehungspunkt für wütende Menschen mehr da. Auf der anderen Seite des Parlaments steht die neofaschistische Jobbik. Als es im September 2006 zu sozialen Unruhen in Budapest kam konnte sie eine starke Rolle in der Bewegung spielen. Zehntausende demonstrierten dann für ein „nationaleres Ungarn“ und lieferten sich heftige Straßenschlachten mit der Polizei. Dabei setzten sie sogar einen gekaperten Panzer ein und besetzten die nationale Fernsehstation. Linke, Homosexuelle, JüdInnen/Juden und andere Minderheiten mussten sich damals verstecken oder aus Budapest fliehen. Manche sprachen damals sogar von einem Jobbik-Putschversuch.

Für viele in Ungarn gilt Jobbik heute als glaubwürdigste Opposition und das obwohl sie mit der regierenden Fidesz-Partei in den wesentlichen Punkten übereinstimmt. Sie gibt sich „antikapitalistisch“, macht aber „das internationale Judentum“ für das Kapitalismus und Krise verantwortlich. Eine Gefahr für den Regierungskurs ist Jobbik also auch nicht. Dafür bleibt sie eine Gefahr für echte Oppositionelle und Minderheiten im Land: mit der verbotenen und rasch widergegründeten „Gardà“ und anderen Schlägerformationen terrorisiert sie ihre GegnerInnen. In einigen Regionen spielen die Schlägergruppen sogar die Rolle einer „Hilfspolizei“. Auf Anforderung rechter Bürgermeister vollziehen sie ihren Terror in offizieller Mission. Aus einigen Dörfern wurde die Roma Bevölkerung bereits völlig vertrieben.

Auch die meisten Gewerkschaften leisteten bislang kaum merkbaren Widerstand gegen die brutalen Angriffe. Die Mehrheit von ihnen ist eng mit der sozialdemokratischen MSzP verbunden.

Eine löbliche Ausnahme bildeten Gewerkschaften im öffentlichen Dienst: Nach Angriffen auf Löhne und Arbeitsplätze gab es Proteste und auch Streiks durch Polizei und Feuerwehr. Später kam es auch zu Warnstreiks bei Bus und Bahn gegen die Kürzung der Pensionen und Abschaffung der Frühpensionsregelung. Die Jobbik-Polizei Gewerkschaft „Tatbereit“, die mindestens 10% der PolizistInnen organisiert, beteiligte sich nicht an dem Arbeitskampf und wurde auch bewusst draußen gehalten.

Ereignisse wie diese versucht die Regierung mit dem Abbau erkämpfter, demokratischer Rechte zu verhindern. So wurden Gewerkschaften inzwischen aus dem öffentlichen Dienst weitgehend entfernt.

Das neue Mediengesetz machte auch außerhalb Ungarns Schlagzeilen und rief international zahlreichen Protest hervor. Es gab einer neuen Kommission die Möglichkeit kritische Berichte zu verhindern und oppositionelle Medien mit hohen Strafen zu belegen. Die strittigen Passagen wurden allerdings kürzlich durch das Verfassungsgericht aufgehoben. Das zeigt, dass trotz allem Ungarn noch keine Diktatur ist.

Gegen die „widerständigen“ Verfassungsrichter wurden aber Maßnahmen gesetzt. Zunächst schuf die Regierung abseits von der eigentlichen Verfassung die Möglichkeit von „Kardinalgesetzen“. Diese sind bindend, werden aber nicht mehr durch das parlamentarisch, auf Lebenszeit gewählte Verfassungsgericht überwacht, sondern von einer neuen „Kurie“, quasi einem Wächterrat. In dieser sind die Verfassungsrichter lediglich auch vertreten.

Auch wurde der MSzP-nahe Präsident des Verfassungsgerichts unter Vorwänden abgesetzt und wird bald vermutlich durch einen Regierungstreuen ersetzt.

Sehr viel tiefer greifen die Möglichkeiten der seit 1.1.2012 gültigen, ganz neuen Verfassung. Ein Rat aus Zentralbankern erhält die Möglichkeit das Parlament aufzulösen, falls dies „Budgetgefärdene Maßnahmen“ beschließt. Der Rat wurde selbstverständlich mit Fidesz-Anhängern besetzt. Zusammen mit der aggressiven Besetzung öffentlicher Ämter durch Fidesz-, zum Teil sogar Jobbik-,Anhängern besteht für Orbàn damit die Möglichkeit sich auch abseits von Wahlen an der Macht zu halten und diktatorische Elemente in der Regierung zu verankern. Ob er sie nutzt hängt von vielen Faktoren ab, besonders aber dem Verlauf der Wirtschaftskrise und dem Widerstand der ArbeiterInnenklasse in Ungarn. Das Wort „Republik“, kommt seit der Einführung der neuen Verfassung jedenfalls nicht mehr im Namen Ungarns vor.

Widerstand regt sich aber seit einiger Zeit doch. Schon 2011 gab es eine Reihe von Demonstrationen und auch Streiks. Am 2.1.2012 gingen in einem neuen Höhepunkt über 50.000 Menschen gegen die neue Verfassung auf die Straße! Die hohe Beteiligung liegt aber sicher auch an der Wut über das soziale Elend, das die Reformen Orbàns hervorgerufen hat. Das zeigte sich schon auf anderen Demonstrationen in der Vergangenheit, zum Beispiel für Pressefreiheit, wo hinter dem eigentlichen Thema des Protestes immer soziale Fragen aufflackerten. Deutlich wird die Wut auch an Wahlumfragen, in denen Fidesz um bis zu 20% abgesunken ist. Gleichzeitig geben nur noch 40% an überhaupt wählen gehen zu wollen. Wozu auch? Wichtige parlamentarische Aufgaben wurden längst an nicht-gewählte Gremien abgetreten. Auch zeigen die etablierten Parteien keine greifbare Alternative zu Orbàns Spar- und Belastungskurs. Eine Abspaltung von der MSzP unter einem Ex-Ministerpräsidenten vom Juni 2011 konnte diese Lücke bislang auch nicht füllen. Die Grenzen zur MSzP sind nicht sichtbar genug. Aber gleichzeitig hält sich in Umfragen Jobbik stabil, zum Teil bei bis zu 20%! Als auf der Demo am 2.1. allerdings einige Faschisten auftauchten wurden sie mit „Nazis Raus“ Rufen vertrieben.

Die neue Protestbewegung aber bringt Ansätze für neue, linke Parteien mit sich. Gingen Anfangs vor allem Studierende und wenige, empörte BürgerInnen auf die Straße, beteiligt sich seit 2011 auch die ArbeiterInnenklasse an den Protesten und beginnt, ihnen ihren Stempel aufzudrücken. Auch Gewerkschaften beteiligten sich an der Demo vom 2.1.. Das zeigt den Druck der Mitgliedschaft auf die Führung und ist ein gutes Zeichen!

CWI-AktivistInnen aus Ungarn berichten, dass neben vielen anderen Strukturen besonders zwei Initiativen inzwischen damit beginnen, aus der losen Bewegung heraus Parteien zu bilden. Die eine Formation nennt sich Szolidaritás, in Anlehnung an die polnische Gewerkschaft Solidarność.

Dieses Vorbild zeigt einerseits die gewerkschaftliche Herkunft der Partei und ist andererseits ein Versprechen die Orbàn Regierung zu stürzen. Gleichzeitig zeigt es aber die Verhaftung von Szolidaritás im Kapitalismus.

Die zweite Formation nennt sich 4K! (steht für „Bewegung 4. Republik“). Bislang war sie eine kleine, lose oppositionelle Gruppe, die sich stark über das Internet formierte. Mit den großen Protesten wurde sie zu einem Anziehungspunkt vieler Linker in Ungarn. Ihr politisches Profil ist noch unklar, aber auch sie beschäftigt sich vor allem mit demokratiepolitischen Fragen.

Es ist der richtige Zeitpunkt in Ungarn endlich eine linke, kämpferische Partei für ArbeiterInnen, Arbeitslose und Jugendliche zu gründen. Sie könnte sicherstellen, dass die jetzige Protestbewegung nicht im Sande verläuft. Wichtig ist dabei gleich doppelt das Programm der neuen Partei: Einerseits braucht es konkrete Vorschläge, wie sich die Bewegung weiterentwickeln könnte. Streiks sind ein Mittel, dass die Regierung an einem besonders wunden Punkt treffen würde. Sie wäre gezwungen sich offen auf die Seite der Wirtschaft zu schlagen und sich so zu offenbaren. Auch würden sie das Selbstbewusstsein in den Gewerkschaften und der ArbeiterInnenklasse stärken. So vorbereitet könnte es sich an den Sturz der Regierung machen und hätte auch eine echte Alternative anzubieten! Bedeutend ist auch die gezielte Einbindung von Roma-Organisationen in die neue Partei und die Proteste. Auch die Überwindung der rassistischen Spaltung ist ein Schlüssel im Kampf gegen Fidesz und Jobbik. Noch wichtiger sind aber die Forderungen, die eine neue Partei in die Bewegung einbringen müsste: Der Abbau der demokratischen Rechte und die Hetze gegen Roma sind nur Symptome der radikalen Angriffe auf Löhne, Soziales und den erkämpften Lebensstandart im Allgemeinen. Es braucht ein Programm gegen die Krise und nicht nur gegen Orbàn. Kurz: es braucht ein klar antikapitalistisches Programm! Viele Menschen in Ungarn haben bereits jede Hoffnung auf den Kapitalismus aufgegeben. Einige erinnern sich nostalgisch an den „Gulasch-Kommunismus“ von vor 1989, wo es um den Preis von Unterdrückung wenigstens soziale Sicherheit gab. Besonders junge Leute können damit aber nichts mehr anfangen und auch Ältere wünschen ihn nicht wirklich zurück. Viele suchen aber nach anderen Alternativen zum Kapitalismus. Eine neue Partei könnte mit der Idee eines echten, demokratischen Sozialismus sehr erfolgreich sein!