Politisches Antidepressivum nötig

Zum Zusammenhang von Depressionen und Kapitalismus
Arthur Gubar

Dieser Artikel entstand aus einem Referat und Workshop zu „Psychologie und Marxismus“ bei den Sozialismustagen 2019 und ist ein Beitrag, sich dem Thema politisch zu nähern.

 

Psychische Erkrankungen sind immer weiter auf dem Vormarsch und nehmen besonders bei jungen Menschen zu. Allein zwischen 2005 und 2016 ist laut Barmer-Report der Anteil der 18- bis 25-Jährigen mit der Diagnose Depression um 76 Prozent gestiegen. Jeder Vierte der rund sieben Millionen jungen Erwachsenen in Deutschland ist offiziell von einer psychischen Erkrankung betroffen.

Hauptgrund für die Entwicklung ist das stetige Anwachsen an Stress durch Zeit- und Leistungsdruck infolge der neoliberalen Reformen, wie sie in Deutschland vor allem unter der rot-grünen Schröder-Regierung umgesetzt wurden. Diese zielten auf die Flexibilisierung und Deregulierung der Wirtschaft und dem verstärkten Einsatz von Marktmechanismen in allen Lebensbereichen, um beste Bedingungen für das Kapital zu schaffen und die Errungenschaften der Arbeiter*innenklasse einzustampfen. In der Wirtschaft bedeutete dies einerseits die Deregulierung von Kündigungsschutzregelungen, damit Arbeiter*innen flexibler eingesetzt werden können mit der direkten Folge eines Anstiegs prekärer Arbeitsverhältnisse wie Zeit-, Frist- oder Minijobs mit oftmals schlechtem Lohn und kaum sozialer Absicherung. Flankiert wurde dies durch den Abbau vom staatlichen Sicherheitsnetz durch Kürzung der Sozialgelder mit Hartz IV und Schikane und Strafe beim Jobcenter statt wirklicher Hilfe, was zusätzliche Ängste bei Arbeiter*innen auslöst, selbst in Hartz IV zu landen und die Disziplinierung der Arbeiter*innen zum Ziel hat.

Lernfabriken

Auch der Bildungsbereich blieb nicht von den neoliberalen Reformen verschont. Mit G8 und Bologna-Reform sind Bildungseinrichtungen zu Kaderschmieden für die Wirtschaft umgewandelt worden. Die Leistungsanforderungen wurden enorm verdichtet und junge Menschen dazu gezwungen, möglichst früh als Arbeitskräfte in den Arbeitsmarkt zu strömen. Gleichzeitig sind in vielen Regionen Deutschlands Ausbildungsplätze so schlecht entlohnt, dass sie kaum zum Leben reichen, noch dazu die Übernahme unsicher ist und befristete Arbeitsverhältnisse gang und gäbe sind. Auch Hochschulabgänger*innen sind von unbezahlten Praktika, Kettenbefristungen und hoher Konkurrenz betroffen.

Prägende Erfahrung für viele Arbeiter*innen und Jugendliche ist angesichts des zunehmenden Konkurrenzkampfs eine starke Existenz- und Zukunftsunsicherheit. Man muss auf unvorhergesehene Ereignisse reagieren und in einer permanenten Instabilität leben, wo sich Perioden der Lohnarbeit mit Perioden der Arbeitslosigkeit abwechseln können. Viele Konzerne nutzen diesen Umstand aus. Beschäftigte werden gegeneinander ausgespielt und unter Druck gesetzt, immer mehr Überstunden zu leisten und flexibel hinsichtlich Arbeitszeit und -ort zur Verfügung zu stehen. Folgen sind fehlende Freizeit zur Regeneration und das Gefühl des Gehetzt-seins durch den Zeitdruck und Arbeitsüberlastung, welches die Menschen überfordert und krank macht.

Mangelnde Intimität und Nähe

Diese Entwicklungen haben auch direkte Effekte auf menschliche Beziehungen, insbesondere die verstärkte Vereinzelung des Menschen. Durch immer höheren Leistungsdruck und Anforderungen ist weniger Zeit da für die Pflege intimer menschlicher Kontakte und Beziehungen. Technologische Innovationen haben die Entwicklung verstärkt, insbesondere die Einführung von Smartphones, die als marktkonforme Kompensation fehlender sozialer Bindungen genutzt werden und die Entfremdung des Menschen von sich selbst und seinen Mitmenschen weiter verstärken. Egal ob Podcasts, Pornhub oder als neuester Trend ASMR-Videos als Geschäftsmodell von Youtubern, bei der Gefühle erzeugt werden sollen – die Erosion menschlicher Gemeinschaft und der Mangel an Intimität und menschlicher Nähe wird zur Grundlage, um Profite zu erwirtschaften.

Die herrschende Meinung in der bürgerlichen Psychotherapie ignoriert jedoch die gesellschaftlichen Ursachen und behandelt Depressionen, als würden sie lediglich durch ein Ungleichgewicht im neuronalen System verursacht und auf Probleme des vereinzelten Individuums zurückzuführen sein. Das hat Auswirkungen auf die Behandlungsweise und führt zur Behandlung der biologischen Symptome durch Medikamente, welche einen sehr lukrativen Markt bedienen und die Profite der Pharmaindustrie in die Höhe treiben. Ziel bürgerlicher Therapie ist in dem Falle nicht die Heilung, sondern durch Anpassung an die kapitalistische Gesellschaft wieder „gesellschaftsfähig“, das heißt arbeitsfähig zu sein.

Ursachen bekämpfen

Anstelle der Pathologisierung von Menschen, die auf die asozialen Verhältnisse des Kapitalismus eine angemessene Reaktion zeigen, brauchen wir ein politisches Antidepressivum. Die Dynamik der Überlastung muss gekontert werden, nicht durch eine nach innen gerichtete Selbstoptimierung, sondern indem nach außen gegen die wahren Ursachen des psychischen Elends vorgegangen wird: Das kapitalistische System mit den einhergehenden Ausbeutungs- und Klassenverhältnissen. Dafür müssen wir uns kollektiv gegen den Konkurrenz- und Leistungsdruck in Betrieb, Schule und Uni organisieren und den Kampf aufnehmen gegen die neoliberalen Angriffe. Das beinhaltet den Kampf für eine Verringerung der Arbeitszeit bei vollem Lohn- und Personalausgleich, um der Arbeitsüberlastung entgegenzuwirken, durchgesetzt durch Kämpfe und Streiks der Gewerkschaften.

Aber es muss auch verbunden werden mit dem Kampf für eine sozialistische Demokratie, in der die gesamte Gesellschaft einschließlich der Wirtschaft demokratisch verwaltet und nach den Bedürfnissen von Menschen und Natur und nicht nach Profitinteresse produziert wird. Denn erst wenn die Entfremdung und Ausbeutung überwunden ist, wird einer der wichtigsten Faktoren für die Entstehung psychischer Leiden der Vergangenheit angehören.