Kshama Sawant, sozialistische Stadträtin in Seattle (USA): Warum ich nicht wieder für den Stadtrat kandidiere

"Workers Strike Back" wird Anfang März in Städten im ganzen Land gestartet - von Seattle über New York, Chicago, Minneapolis, Oakland bis Houston und darüber hinaus.
Kshama Sawant

Dies ist nun das zehnte Jahr, in dem ich die Ehre habe, als gewählte Vertreterin der arbeitenden Menschen in Seattle zu dienen. Die Arbeiter*innen in Seattle haben durch ihre Organisierung an der Seite meines sozialistischen Stadtratsbüros und meiner Organisation Socialist Alternative historische Siege errungen, vom Mindestlohn von 15 Dollar pro Stunde über die Amazon-Steuer bis hin zu bahnbrechenden Rechten für Mieter*innen.

Diese Siege waren starke Signale, die nationale und sogar internationale Auswirkungen hatten. Bei unseren vier Wahlsiegen und in jedem Kampf mussten wir die geballte Macht des Großkapitals, der Konzernmedien und des politischen Establishments überwinden. Jedes Mal haben sich die arbeitenden Menschen geweigert, klein beizugeben, und wir haben wieder und wieder gesiegt.

Das ist die wichtigste Lehre aus unserem Beispiel sozialistischer Politik in Seattle. Wenn sich Arbeiter*innen und junge Menschen organisieren und kämpfen, können wir gewinnen. Dass im Kapitalismus keine bedeutenden Verbesserungen erreicht werden können ohne den erbitterten Widerstand der Reichen und ihrer politischen Diener*innen. Und dass wir nicht zurückweichen dürfen, sondern die Einheit der Arbeiter*innenklasse stärken und uns mit Stolz und Leidenschaft wehren müssen.

Eine räuberische und schmarotzende kapitalistische Klasse hat mit der Arbeit von Milliarden von Beschäftigten ein unermessliches Vermögen angehäuft. Doch ihr System befindet sich in einer tiefen Krise und kann sich nicht selbst erhalten. In der Zwischenzeit wird der Lebensstandard der einfachen Leute durch eine Inflation historischen Ausmaßes ausgehöhlt, und über 800 Millionen Menschen gehen jede Nacht hungrig zu Bett. Die Rechten gehen gegen Abtreibungsrechte und LGBTQ+ Personen vor. Die Zukunft der menschlichen Zivilisation steht angesichts der existenziellen Bedrohung durch die Klimakatastrophe auf Messers Schneide. Die arbeitenden und jungen Menschen können sich den Status quo der Unternehmenspolitik nicht leisten.

Bei meiner Amtseinführung im Jahr 2014 sagte ich: "Lassen Sie mich eines ganz klar sagen: Es wird keine Hinterzimmerdeals mit Konzernen oder ihren politischen Diener*innen geben. Es wird keinen miesen Ausverkauf der Menschen geben, die ich vertrete." Unser sozialistisches Stadtratsbüro hat sich daran gehalten. Es ist äußerst bedauerlich, dass nur sehr wenige andere gewählte Amtsträger*innen in diesem Land dasselbe sagen können. Seit meiner Wahl im Jahr 2013 wurden landesweit mehr als zweihundert selbsternannte "demokratisch-sozialistische" Kandidat*innen gewählt. Doch leider hat die überwältigende Mehrheit von ihnen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, ihre Wahlversprechen nicht eingehalten und es versäumt, dem politischen Establishment die Stirn zu bieten. Erst letzten Monat erlebten wir den historischen und beschämenden Verrat an den Eisenbahner*innen durch Mitglieder des „Congressional Progressive Caucus“, darunter die Caucus-Vorsitzende Pramila Jayapal und selbsternannte demokratisch-sozialistische "Squad"-Mitglieder wie AOC (der „Squad“ ist eine Gruppe von Abgeordneten der Demokraten die sich als sozialistisch sehen, Anm.). Das Brechen des Eisenbahnstreiks durch die Progressiven im Kongress schadet nicht nur den Eisenbahner*innen, sondern ist ein Verrat an der gesamten Arbeiter*innenklasse.

Ein solcher Ausverkauf hat noch viel schlimmere Folgen. Er gibt den Rechten die Möglichkeit so zu tun, als stünden sie auf der Seite der Eisenbahner*innen (wie wir bei fünf republikanischen Senatoren gesehen haben, die scheinheilig gegen das streikbrechende Gesetz gestimmt haben). Diese Republikaner, die in Wirklichkeit unverhohlen den Interessen der Reichen dienen, dürfen so tun, als sei ihre Partei die Partei der Arbeiter*innen. Wie ist das möglich? Nur weil die Demokratische Partei in ihrer loyalen Unterstützung der Unternehmenselite immer weiter nach rechts rückt. Es ist sehr bedauerlich, dass es der rechte „Freedom Caucus“ war, der gezeigt hat, wie man Druckmittel einsetzt, um Zugeständnisse des Establishments zu erzwingen, und nicht der "Squad". Angesichts des anhaltenden Versagens einer echten Führung auf der Linken hat der Kampf um den Vorsitz im Repräsentantenhaus gezeigt, wie schnell und gefährlich die Rechten die Lücke füllen können. Es ist ein erschreckender Rückblick darauf, wie Trump seine Wahl überhaupt erst gewonnen hat.

Die arbeitenden Menschen und die Linke können nicht tatenlos zusehen und auf „fortschrittliche“ Abgeordnete warten. Wir können unser Vertrauen nicht in die AOCs oder die Pramila Jayapals setzen, auch wenn ich verstehe, dass viele hohe Erwartungen in sie gesetzt haben. AOC hat kürzlich behauptet, sie könne nicht gegen die führenden Politiker*innen der Demokraten im Namen der Arbeiter*innen kämpfen, weil ihre "Beziehung" zu diesen „schädigen“ würde. Was ist mit dem enormen und sehr realen Schaden, der durch das Fehlen eines solchen Kampfes für unsere aller Bedürfnisse entsteht?

In der Zwischenzeit scheint die Organisation, die AOC und den „Squad“ zur Rechenschaft ziehen sollte, die „Democratic Socialists of America“ (DSA), nicht bereit zu sein, dies zu tun. Es macht mir keine Freude, dies zu sagen, denn ich bin aktuell Mitglied der DSA. Aber die DSA-Führung hat die Irreführung durch den „Squad“ größtenteils gedeckt.

Es gibt ein Vakuum an echter linker Führung, auf lokaler und nationaler Ebene. Wir brauchen eine neue Partei für die Arbeiter*innenklasse - eine, die gewählte Vertreter*innen zur Verantwortung zieht, die sich auf soziale Bewegungen stützt, die sich an der Seite der Arbeiter*innen auf der Straße und in den Betrieben organisiert. Wahlen sind nicht der einzige, geschweige denn der wichtigste Weg zu politischen Veränderungen, denn das politische System ist im Kapitalismus von oben bis unten verrottet. Nun, da sich die globale Krise verschlimmert, breitet sich die Fäulnis immer weiter aus, und die Gefahr einer weiteren Korruption durch die extreme Rechte schwebt über uns allen. In Indien, dem Land, in dem ich geboren wurde, ist die extreme Rechte an der Macht und baut sie rasch aus. In den USA waren die Zwischenwahlen nur eine vorübergehende Galgenfrist, wenn wir uns nicht organisieren.

Der Kapitalismus muss gestürzt werden. Wir brauchen eine sozialistische Welt. Und das ist nur möglich, wenn wir viele Millionen Werktätige für echte sozialistische Ideen mobilisieren und unerbittlich für unsere Interessen als Klasse kämpfen. Aber die Aufgabe, den Klassenkampf in Amerika wieder aufzubauen, wird nicht gelingen, wenn Jugendliche und die Basis der Arbeiterbewegung sich nicht über die Rolle der Demokratischen Partei und die Notwendigkeit einer neuen Partei im Klaren sind, die uns dient und nicht den Reichen. Die arbeitenden Menschen müssen erkennen, dass wir unabhängig von den beiden Parteien des Großkapitals und von jenen Anführer*inne, die sie entschuldigen, kämpfen müssen.

Im vergangenen Jahr kämpften Hunderttausende Beschäftigte für die gewerkschaftliche Organisierung ihrer Arbeitsplätze oder streikten für einen guten Vertrag, sei es bei Amazon, bei Starbucks oder an der Universität von Kalifornien. Wir erlebten den historischen Sieg der Amazon-Beschäftigten am JFK8 in New York durch die neu gegründete Amazon-Gewerkschaft. Im Jahr zuvor erlebten wir den Striketober (Oktober 2021 mit zahlreichen Streiks, Strike & October = Striketober, Anm.), der historische Kämpfe wie den Streik bei John Deere und hier in Seattle den Streik der Pacific Northwest Carpenters umfasste. Und vor weniger als drei Jahren fand die größte Protestbewegung auf den Straßen der USA in der Geschichte statt - der Kampf von Black Lives Matter nach der Ermordung von George Floyd durch die Polizei.

Die arbeitenden Menschen wollen zurückschlagen, aber wir müssen uns besser organisieren. Wir brauchen eine landesweite Bewegung - eine unabhängige, von der Basis getragene Kampagne, die sich in den Betrieben und auf den Straßen organisiert. Es sollten fortschrittliche Gewerkschaften sein, die ihre Ressourcen nutzen, um eine solche Bewegung ins Leben zu rufen, wie es die Gewerkschaften in Britannien mit der Kampagne "Enough Is Enough" getan haben. Aber das ist nicht geschehen. Leider ist ein Großteil der Gewerkschaftsführung in diesem Land eng mit dem demokratischen Establishment verbunden und hat Angst, die Demokraten herauszufordern, unabhängige Kandidat*innen aufzustellen und starke Streikaktionen auf der Grundlage mutiger Forderungen zu entwickeln – sie haben Angst für Unruhe zu sorgen.

Deshalb kündige ich zusammen mit der Sozialistischen Alternative und anderen die Gründung einer solchen nationalen Bewegung, „Workers Strike Back“, an, anstatt selbst wieder für die Wiederwahl im Bezirk 3 von Seattle zu kandidieren. Wir machen uns keine Illusionen, dass eine Massenbewegung über Nacht aufgebaut werden kann, aber wir müssen dringend damit anfangen. Die arbeitenden Menschen haben in dieser Stadt ein starkes Beispiel gesetzt. Es ist an der Zeit, darauf auf nationaler Ebene aufzubauen, den Klassenkampf auszuweiten und zu stärken.

„Workers Strike Back“ wird Anfang März in Städten im ganzen Land - von Seattle bis New York, von Chicago bis Minneapolis, von Oakland bis Houston und darüber hinaus - gestartet. Hier in Seattle werden wir am 4. März eine Auftaktkundgebung abhalten. Schließen Sie sich uns an. Die Hauptforderungen von „Workers Strike Back“ sind:

  • Für echte Reallohnerhöhungen
  • Gute gewerkschaftlich organisierte Arbeitsplätze für alle
  • Kampf gegen Rassismus, Sexismus und jegliche Unterdrückung
  • Erschwingliche Wohnungen und kostenlose Gesundheitsversorgung für alle
  • Keine Ausverkäufe mehr - wir brauchen eine neue Partei

Sie können unser komplettes Programm auf unserer Website lesen (https://www.workersstrikeback.org/), und jeder, der dem zustimmt, sollte die Petition unterzeichnen und sie weit verbreiten. Zusammen mit „Workers Strike Back“ werden wir einen Video-Broadcast starten, um den arbeitenden Menschen auf nationaler und internationaler Ebene sozialistische Politik und Strategie nahe zu bringen. Dieses Programm, das ich mit moderieren werde, trägt den Titel „On Strike“ und wird ab diesem Sommer ausgestrahlt. Immer mehr Medien, die sich selbst als unabhängig und links bezeichnen, schauen weg oder decken aktiv jene Politiker*innen, die die arbeitenden Menschen verraten. Das hat einen hohen Preis - denn es schafft Verwirrung und Demoralisierung und verrät die arbeitenden Menschen effektiv ein zweites Mal.

Ein letzter Punkt: Ich bin mir zwar sicher, dass das Establishment in Seattle über die Nachricht, dass ich nicht wieder kandidiere, sehr glücklich sein wird, aber sie sollten sich noch nicht beeilen, ihre Martinis zu mixen, denn wir sind hier noch nicht fertig. Mein Büro im Stadtrat wird bis zu den letzten Tagen meiner Amtszeit unermüdlich für die arbeitenden Menschen kämpfen. Wir werden über die Mietpreiskontrolle abstimmen lassen, und zusammen mit unserer neuen Organisation „Workers Strike Back“ werden wir unsere Bewegung für die Rechte von Mieter*innen und Arbeiter*innen ausbauen. Und wenn diese Amtszeit vorbei ist, werden wir weiterhin den politischen Frieden in Seattle und auf nationaler Ebene stören, sei es innerhalb oder außerhalb des Rathauses. Ich fordere Jugendliche, Arbeiter*innen und Gewerkschaftsmitglieder auf, sich „Workers Strike Back“ anzuschließen!

Dieser Artikel wurde zuerst in der Zeitung „The Stranger“ veröffentlicht.

 

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