Internationalismus gegen Imperialismus: Die Arbeit der Vierten Internationale während des Zweiten Weltkriegs

Wolfram Klein, SAV-Stuttgart

Während des Zweiten Weltkrieges arbeiteten die kleinen trotzkistischen Truppen unter den schwierigsten Bedingungen. Selbst in bürgerlichen Demokratien wurden führende ihrer Mitglieder für die Verbreitung ihrer Ansichten (USA, Schweiz) oder für die Unterstützung streikender ArbeiterInnen (Großbritannien) ins Gefängnis geworfen. In Deutschland und den besetzten Gebieten mussten sie natürlich im Untergrund arbeiten, waren von Verhaftung, Folter, Gefängnis, Konzentrationslager und Ermordung bedroht. Oft bekämpften nicht nur die Nazis sondern auch andere Widerstandsgruppen sie. Stalinistische Organisationen verleumdeten sie nicht nur als Nazis, sondern behandelten sie auch so, wenn sie konnten. Pietro Tresso alias Blasco, Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens und seit 1930 Trotzkist, wurde bei einem Partisanenangriff auf das französische Gefängnis von Puy 1943 befreit. Die stalinistisch geführten Partisanen sonderten ihn und vier weitere Trotzkisten von den übrigen Befreiten ab, einer durfte nach Paris abreisen, die vier anderen wurden nie mehr gesehen.
Diesen kleinen, von mehreren Seiten verfolgten Gruppen gab die Überzeugung Kraft, dass der Krieg wie schon der Erste Weltkrieg mit einer revolutionären Welle enden werde. Für den Erfolg dieser Revolution maßen sie Deutschland eine Schlüsselstellung zu: Wegen der zahlenmäßigen Stärke der deutschen Arbeiterklasse, ihrer revolutionären Traditionen (nach dem Ersten Weltkrieg) und der Tradition von Arbeiter-Massenorganisationen. Gleichzeitig sahen sie aber mehr oder weniger deutlich die Gefahren, die der Revolution drohten: Nach dem Ersten Weltkrieg hatte die Sozialdemokratie international den Kapitalismus gerettet. Jetzt standen gleich zwei internationale Strömungen, Sozialdemokratie und Stalinismus, dazu bereit. Gleichzeitig versuchten die westlichen Imperialisten und die Sowjetunion durch Bombardierung der Arbeiterviertel und das Schüren von antideutschem Chauvinismus einer deutschen Revolution entgegenzuarbeiten. Deshalb setzten es sich die Organisationen der trotzkistischen Vierten Internationale sowohl in den von Deutschland besetzten Gebieten als auch in Britannien und den USA (unabhängig von einander, weil keine Kontakte mehr zwischen ihnen möglich waren) zur Aufgabe, dieser Propaganda entgegen zu wirken

Während des Krieges

Im Archiv des Internationalen Sekretariats der Vierten Internationale in Paris befindet sich ein Brief vom 24. Januar 1948 an die "Falken" in Köln, in dem es unter anderem heisst: "In mehreren Ländern - besonders in Frankreich, Belgien, Holland und Dänemark - organisierten wir aktive Propaganda unter den proletarischen Soldaten der Wehrmacht, gaben verschiedene deutsche Schriften heraus, und bekämpften hartnäckig den chauvinistischen "Deutschenfresser"-Fanatismus, während wir uns gleichzeitig in der ersten Reihe des antifaschistischen Kampfes gegen den Nazi-Imperialismus befanden. Wir sind stolz, dass wir während der ganzen Zeit der deutschen Besatzung Europas die einzige Arbeiterorganisation waren, die in der Propaganda und in der Tat für internationale Verbrüderung gekämpft hat. Während der Prozesse, die die Gestapo gegen unsere Genossen in Holland und Belgien unternommen hat, betonten die Nazis immer, dass von allen Kämpfen gegen das Dritte Reich der unsrige, internationalistische, am gefährlichsten sei."
In den Niederlanden machten die TrotzkistInnen an die deutschen Soldaten gerichtete Propaganda. In den Haag klebten sie Gummipapier mit Parolen an Kasernenmauern (die Parolen hatten sie mit Stempeln auf das Papier gemacht). In Rotterdam wurden Flugblätter auf deutsch verfasst und an geeigneten Stellen platziert. Die niederländischen TrotzkistInnen waren der Ansicht, dass sie, wenn sie zur Zwangsarbeit nach Deutschland befohlen werden, hingehen und dort politische Arbeit versuchen sollen. Auf diese Weise konnte ihre im Untergrund erscheinende Zeitung immer wieder Stimmungsberichte aus Deutschland bringen. Nach einer Aussage nach dem Krieg, gab es Kontakte zu illegalen Gruppen in Deutschland. Ein Trotzkist aus Groningen nahm in Bremerhaven an einem kurzen Streik teil. In Dänemark verbreiteten die TrotzkistInnen Flugblätter mit dem Titel "Die Wahrheit" unter den deutschen Soldaten.
In Frankreich organisierten die trotzkistische POI (Parti Ouvrièr Internationaliste) verschiedene Aktivitäten, um Besatzungssoldaten zu erreichen. Sie gaben Flugblätter heraus, die dann an Kasernenmauern oder bei Kinos, die für deutsche Soldaten reserviert waren, platziert wurden. Der Höhepunkt ihrer Arbeit war die Zeitung "Arbeiter und Soldat". Sie wurde herausgegeben von einem jungen deutschen trotzkistischen Emigranten, Victor oder Paul Widelin oder Martin Monat. Er war Mitglied im provisorischen Europäischen Sekretariat der Vierten Internationale geworden und ging deshalb 1943 von Belgien nach Paris, um an der Arbeit des Sekretariats teilzunehmen. Im Juli, August und September 1943 erschien je eine Nummer. Französische TrotzkistInnen verbreiteten die Zeitung, besonders erfolgreich in Brest, wo es gelang, etwa 15 deutsche Soldaten für den Trotzkismus zu gewinnen, die dann das Material weiter verbreiteten. Sie beschafften auch Ausweise für die Franzosen, organisierten die Desertion von Soldaten und Waffen für den Widerstand, gaben eigenes Material heraus und organisierten gemeinsame Treffen. Leider waren sie manchmal etwas unvorsichtig. Einmal sollen sie sogar auf der Straße die "Internationale" gesungen haben. Die Gruppe wurde von der Gestapo unterwandert, am 6. Oktober schlug sie bei einem Verbrüderungstreffen zu. 17 deutsche Soldaten wurden noch am selben Tag erschossen. 18 Franzosen wurden in der Bretagne verhaftet, einer wurde ebenfalls erschossen, 11 von ihnen deportiert, mehrere überlebten nicht. Auch in Paris gab es am selben Tag Verhaftungen, von denen die Führung der POI schwer getroffen wurde.
Ihr Generalsekretär Marcel Hic, der für die POI die Verbrüderungsarbeit geleitet hatte, und die weiteren führenden Mitglieder Rousset, Filliatre, Fournié, Baufrère wurden verhaftet, brutal gefoltert und ins KZ Buchenwald gebracht. Laut einer unmittelbar nach dem Krieg erschienenen Broschüre wurden insgesamt 65 Trotzkisten verhaftet, unter ihnen 30 deutsche Soldaten und Marineangehörige. Widelin konnte entkommen und kehrte vorübergehend nach Belgien zurück. Die Zeitung konnte erst im April und Juni 1944 wieder erscheinen. Widelin fiel dann durch Zufall im Sommer 1944 der Gestapo in die Hände und wurde so schwer gefoltert, dass die Gestapo ihn für tot hielt. Er wurde in ein Krankenhaus gebracht, dort aber der Gestapo verraten, abgeholt und am selben Tag ermordet. Marcel Hic überlebte ebenfalls nicht.
Die politische Linie von "Arbeiter und Soldat" war, dass Deutschland zu Beginn des Krieges Erfolge hatte wegen seinem Vorsprung bei der Rüstung. Das ist vorbei, die Niederlage ist unvermeidlich, die Frage ist nur, ob sie durch einen militärischen Sieg der anglo-amerikanischen Imperialisten oder durch eine Arbeiterrevolution in Deutschland herbeigeführt wird. Natürlich musste man auf eine Revolution hinarbeiten, weil sie erstens den Krieg und das mit ihm verbundene Leiden schneller beenden kann, und zweitens verhindern kann, dass die Unterdrückungs- und Ausbeutungspläne der westlichen Imperialisten durchgeführt werden. Die Zeitung warnte vor einer Wiederholung der SPD-Politik von 1918, die jetzt auch von den StalinistInnen vertreten wurde, und berichtete von den Klassenkämpfen in den alliierten Ländern, zum Beispiel in England.
Die StalinistInnen gaben auch an die deutschen Soldaten gerichtetes Material heraus. Aber für sie waren es Soldaten einer feindlichen Armee, die man demoralisieren wollte, nicht potenzielle Verbündete für die Revolution, die man gewinnen wollte. Deshalb war diese Arbeit für die StalinistInnen kein Widerspruch zu chauvinistischer Hetze, bis hin zu der Parole "chacun son boche", also jeder soll einen Deutschen umbringen.
Die TrotzkistInnen argumentierten, dass tote deutsche Soldaten zwar nicht mehr für Hitler kämpfen können, aber auch nicht mehr gegen ihn. Schimpfworte wie "boche" (französisch) oder "Moffen" (niederländisch) lehnten sie natürlich ab.
Aber nicht nur durch ihre Arbeit unter den Beatzungssoldaten versuchten die TrotzkistInnen, eine internationalistische Linie durchzusetzen. In ihrem illegalen Material in den besetzten Gebieten und ebenso in den USA und Großbritannien forderten sie die ArbeiterInnen zum gemeinsamen Klassenkampf auf. Sie protestierten gegen Kampfformen, die dem im Wege standen, zum Beispiel Attentate auf einfache Wehrmachtsangehörige. Ende 1943 beschloss das in Paris im Untergrund tätige Provisorische Europäische Sekretariat eine Resolution, die gegen die Bombardierung der deutschen Städte und ihrer Arbeiterviertel protestierte und die ArbeiterInnen zum gemeinsamen Kampf aufrief (siehe Anhang).
Sie erinnerten an die revolutionären Traditionen der deutschen Arbeiterklasse, von 1918ff, an die Gründe, warum Hitler an die Macht kommen konnte und protestierten gegen den antideutschen Chauvinismus, wie er besonders von vielen Bürgerlichen und den Stalinisten verbreitet wurde, bis hin zu der Parole "nur ein toter Deutscher ist ein guter Deutscher".

Nach Kriegsende

Nach Kriegsende ging diese Propagandaarbeit weiter und wurde ergänzt mit Protesten gegen die Beschlüsse der Potsdamer Konferenz, die Unterdrückung durch die Besatzungsmächte, die wirtschaftliche Ausplünderung durch Reparationen. Verbunden wurde das mit praktischer materieller Hilfe für GenossInnen und InteressentInnen in Deutschland.
Dazu kam die Arbeit unter den deutschen Kriegsgefangenen. Die britischen TrotzkistInnen gaben mit Hilfe junger deutscher EmigrantInnen in London von 1946 bis 1948 zweimal monatlich eine Zeitschrift für die deutschen Kriegsgefangenen heraus, die auf viel Zuspruch stieß und sich auch (durch entlassene Kriegsgefangene etc.) in Deutschland verbreitete. Die Zeitung hieß übrigens auch "Solidarität", so wie die heutige Zeitung der SAV.
Im Winter 1946/47 gab es einen Prozess gegen den britischen Trotzkisten William Clemison in Sheffield, weil er die "Solidarität", die Zeitung der österreichischen Trotzkisten und weiteres deutschsprachiges Material an Kriegsgefangene verteilt hatte. Vor Gericht verteidigte er seine Tätigkeit und prangerte an, dass unter einer sogenannten sozialistischen Labour-Regierung Kirche und alte Nazi-Offiziere Kriegsgefangene ihre Ideen unter Kriegsgefangenen verbreiten dürfen, aber Arbeiterorganisationen nicht. Er forderte das Recht der Kriegsgefangenen, an Veranstaltungen der Arbeiterbewegung teilzunehmen. Auf den Vorhalt, dass er kein deutsch verstehe, also nicht wisse, was in dem Material gestanden habe, erwiderte er, dass die Vierte Internationale in allen Ländern für die gleichen Ziele eintritt. Er wurde zu einer Geldstrafe verurteilt, aber nicht nur in der britischen trotzkistischen Presse und der Solidarität wurde den Prozess berichtet, sondern auch international.
Auch die belgischen Trotzkisten gaben eine Zeitung für die Kriegsgefangenen heraus und berichteten in ihrer sonstigen Presse über die Lage der Kriegsgefangenen und auch zum Beispiel über Streiks belgischer Bergarbeiter gegen die unmenschlichen Arbeitsbedingungen von Zwangsarbeit leistenden Kriegsgefangenen. Solidaritätsarbeit mit den Kriegsgefangenen gab es auch in Frankreich.
Natürlich versuchte die Vierte Internationale auch, in Deutschland selber eine Sektion aufzubauen, was durch die schwierigen materiellen Lebensverhältnisse und das Besatzungsregime sehr schwierig war. Dazu kam, dass die wenigen überlebenden AktivistInnen zunächst einmal einen sehr großen theoretischen Diskussions- und Klärungsbedarf hatten. Die objektiven Bedingungen waren sehr gut, weil die Massen mit den imperialistischen und stalinistischen Besatzungsmächten und den mit ihnen zusammenarbeitenden Parteien sehr direkte Erfahrungen machte. Bei jungen Menschen gab es einen riesigen Hunger nach Ideen, aber große Hemmungen, sich zu organisieren. Als Folge erinnerte die Tätigkeit der Vierten Internationale zu Deutschland teilweise mehr an einen revolutionären Buchversand als an eine revolutionäre Organisation. Dazu kamen Spannungen zwischen deutschen GenossInnen und den verschiedenen Emigrantengruppen. Das führte dazu, dass nach Kriegsende mehrere Jahre vergingen, bis überhaupt eine trotzkistische Gruppe in Deutschland gegründet wurde.

Anhang:

Provisorisches Europäisches Sekretariat der Vierten Internationale: Hilfe für das deutsche Proletariat
veröffentlicht in: Quatrième Internationale, nouvelle série, no 2, Décembre, 1943, Nachdruck in: Les congrès de la IVe Internationale (manifestes, thèses, résolutions). 2. L?Internationale dans la guerre. 1940-1946. Paris 1982, S. 181f., eigene Übersetzung

Die Bombardements der deutschen Städte folgen in schnellerer Folge und mit wachsender Intensität aufeinander. Den ganzen Winter machen Tausende und Abertausendes deutsche und ausländische Arbeiter die grausamen Folgen des Luftkriegs der Imperialisten durch. Ganze Städte werden binnen ein paar Stunden ausgelöscht. Unzählige Menschen sterben jeden Tag und jede Nacht unter den qualmenden Ruinen, die diese modernen "Ritter der Lüfte" und des Todes, die Piloten im Dienst des Imperialismus, wahllos und ohne Erbarmen anhäufen. Quer durch Deutschland verbergen sich immer größere Mengen der verwirrten Opfer, die ihren Herd, ihre Möbel, ihre notwendigsten Dinge verloren haben.
Mit der Verstärkung des Luftbombardements von Deutschland, ebenso wie im Rest des besetzten Europa, verfolgt der angelsächsische Imperialismus einen vorgefertigten Plan der systematischen Zerstörung der europäischen Wirtschaft. Gleichzeitig entfesselt er, der gegen den Hitler-"Rassismus" kämpft, eine bestialische Propaganda gegen das deutsche Volk. Er versucht, die wahren Gründe des gegenwärtigen imperialistischen Konflikts, der aus inneren Widersprüchen der kapitalistischen Regime kommt und aus unversöhnlichen Gegensätzen, die die Imperialisten gegen einander stellen, zu verstecken hinter dem Mythos vom "ewigen deutschen" Aggressor, militaristischen Krieger und Eroberungsgierigen. Er vermengt auch bewusst die arbeitenden Klassen Deutschlands mit der deutschen imperialistischen Bourgeoisie und ihrem politischen Werkzeug, dem gegenwärtigen Hitler-Regime. Aber die Hauptbeschäftigung des angelsächsischen Imperialismus im gegenwärtigen Stadium des Krieges ist das Ersticken der europäischen Revolution, die sich seit der italienischen Krise vom Juli 1943 mit Riesenschritten nähert und deren Hauptrahmen morgen gerade Deutschland sein wird. Der angelsächsische Imperialismus versucht durch seine Luftterror-Aktion gegen die deutsche Bevölkerung und seine rassistische "Antiboche"-Propaganda das deutsche Proletariat zu demoralisieren, den Glauben an den Internationalismus der Arbeiterklasse zu brechen und das ausländische Proletariat gegen ihre Brüder Deutschlands in Stellung zu bringen, die revolutionäre Welle zu zerbrechen, um sie schließlich endgültig zu erdrosseln.
Die stalinistischen Parteien auf der anderen Seite, die den Kampf für die Verteidigung der UdSSR nach Art der sowjetischen Bürokratie als Kampf für die Auslöschung des deutschen Volkes ohne Klassenunterschiede interpretieren, marschieren in ihrer rassistischen antideutschen Kampagne im gleichen Schritt mit dem angelsächsischen Imperialismus.
Jetzt, wo eine neue Terrorwelle auf die deutsche Bevölkerung einschlägt und wo nach der jüngsten Konferenz in Teheran neue Drohungen des angelsächsischen Imperialismus mit der stalinistischen Bürokratie als Komplizen eine Verstärkung des Ausrottungskampfes gegen das große Volk von Europa voraussehen lassen, das Opfer des eigenen und des ausländischen Imperialismus ist, brandmarkt die Vierte Internationale diese verbrecherische Politik und sympathisiert ganz mit den grausam geprüften deutschen arbeitenden Klassen. Sie appelliert an die moralische und materielle Solidarität der Proletarier aller Länder ihren Klassenbrüdern Deutschlands gegenüber. Sie lädt die Arbeiter Deutschlands ein ihren Kampf für den Sturz des Hitlerregimes zu verstärken und erneut den Weg der deutschen, europäischen und Weltrevolution zu beschreiten. Sie erbittet von allen ihren Sektionen nachdrücklich eine systematische Kampagne gegen die verheerende und barbarische Aktion des angelsächsischen Imperialismus, gegen seine chauvinistische Propaganda, für die Verbrüderung in den besetzten Gebieten mit den deutschen Arbeitern in Uniform, gegen die imperialistischen Projekte eines neuen Versailler Friedens, für die Vereinigten Sozialistischen Staaten Europas und der Welt.