Impfverweigerung ist rückschrittlich

Was treibt Impfgegner*innen an, ihre und andere Kinder auf dem Altar der Pseudo-Rebellion zu opfern?
Franz Neuhold

Die Welt ist kompliziert. Ein Meer von angehäuftem Wissen und Technik einerseits, der Wahnsinn und die Brutalität des Kapitalismus mit all seinen Widersprüchen andererseits. Da kann einem schon mal "das Geimpfte aufgehen", wie man im Osten Österreichs zum "Kragenplatzen" sagt. Das aktuelle Phänomen der Impfverweigerung ist hierfür ein Beispiel, wenngleich ein erbärmliches. Klartext: Der profitgetriebenen Pharmaindustrie kann und muss man - übrigens genauso wie der Autoindustrie - tatsächlich viel vorwerfen.

Aber Impfungen abzulehnen, die nachweislich Leben retten, hat mit „gesunder Skepsis“ nichts zu tun. Es sind gesicherte Erkenntnisse, dass Impfschäden um Größenordnungen seltener auftreten als die (Folge-)Schäden bei Erkrankungen wie FSME, Masern oder Diphtherie. Im letzteren Fall beträgt die Todesrate 10-20%. Das Robert-Koch-Institut (D) rechnet vor: "Von den knapp 194 Mrd. €, die die gesetzliche Krankenversicherung im Jahr 2014 ausgegeben hat, entfielen 33 Mrd. € (17%) auf Arzneimittel und lediglich etwas mehr als 1 Mrd. € (0,65%) auf Impfstoffe." Aus Sicht der Pharmaindustrie ist das Impfstoff-Geschäft wenig lohnend, wodurch es immer weniger Hersteller gibt. Kümmert das die Impfgegner*innen? Offensichtlich nicht.

Es verwundert bei näherem Hinsehen auch nicht, dass sich die einschlägigen Foren mitunter um „Weltverschwörung“ sowie verdeckten oder gar offenen Antisemitismus (Bsp. "Neue Germanische Medizin") drehen. Wer führt eigentlich diesen Scheinkampf „gegen das System“ an? Wie es der Sozialwissenschafter Christian Kreil treffend formuliert, besteht die "Aristokratie der Seuchenfreunde ... überdurchschnittlich oft (aus) Akademiker(n) und wohlbestallte(n) Bürger(n)". Genau genommen ist die Impfverweigerung auch ein Abfallprodukt der neoliberalen Offensive. Diese ist geprägt von Entsolidarisierung und Vereinzelung vor dem Hintergrund einer unfassbaren Arm-Reich-Kluft. Trotz aller "Optimierungen" (Sozialkürzungen, steigender Arbeitsdruck) und dem Potential moderner Technik schlittert dieses Wirtschaftssystem dennoch in schwere Krisen. Anstatt das Problem an der Wurzel (Eigentumsverhältnisse & Produktionsweise) zu fassen, verfällt ein Teil einer relativ privilegierten Schicht im gesellschaftlichen Gefüge in jenes anti-soziale Verhalten, das genau dem Geist des Kapitalismus entspricht. Man immunisiert sich gegen diese (unbewusste?) Erkenntnis, in dem man einem einzelnen Element den Stempel des Bösen aufdrückt, real Schaden anrichtet und sich sodann moralisch überlegen fühlt.

Wir meinen: Die Pharmaindustrie (und nicht nur diese) gehört vergesellschaftet und unter demokratische Kontrolle gestellt, um medizinische Versorgung sowie Forschung geplant und gerecht lenken zu können. Das ist jedoch nicht durch rückschrittliche Verweigerungshaltung zu erreichen, sondern durch eine Massenbewegung „von unten“, die auch ein alternatives Gesellschaftsmodell präsentieren kann.

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