Mo 24.02.2014
„Die Stellung der Frau ist der anschaulichste und wirkungsvollste Indikator, um die Entwicklung eines sozialistischen Regimes und einer staatlichen Politik einzuschätzen“ schrieb der russische Revolutionär Leo Trotzki 1938. In Russland spiegelte sich das in den Errungenschaften auch und gerade für Frauen nach der Oktoberrevolution 1917 – und dann in den Rückschlägen in Folge der stalinistischen Konterrevolution wieder.
Russland war 1917, vor der Revolution, eines der rückständigsten Länder. 1887 wurde im Rahmen einer konservativen Welle Frauen der Zugang zu allen Hochschulstudien untersagt. Sie hatten bis 1917 de facto den Status unmündiger Sklavinnen. So stand z.B. in den zaristischen Gesetzen: „Die Frau ist gehalten, ihrem Mann als dem Haupt der Familie zu gehorchen, bei ihm in Liebe, Respekt, unbegrenzter Gehorsamkeit zu bleiben, ihm jeden Gefallen zu tun und ihm jede Zuneigung als eine Hausfrau zu erweisen.“ Gleichzeitig waren Frauen aber ein wichtiger Teil der aufstrebenden, sich organisierenden und oft kämpferisch auftretenden ArbeiterInnenklasse. Frauen spielten in der Revolution von 1905 eine wichtige Rolle und ein großer Teil der IndustriearbeiterInnenschaft war weiblich. Dieser stieg im Zuge des 1. Weltkrieges je nach Branche um 70-400% an, als die Männer an der Front waren und die Frauen in Russland wie auch im Rest der kriegsführenden Welt diese Jobs übernehmen mussten. Zu Zeitpunkt der Oktoberrevolution waren rund 40% der ArbeiterInnen weiblich - und es waren Frauen, die den Anstoß zur Februarrevolution 1917 gaben.
Die Bolschewiki führten 1917 eine revolutionäre Massenbewegung von ArbeiterInnen und BäuerInnen an. Diese Bewegung stürzte Kapitalismus und Großgrundbesitz und begann in Russland, einen ArbeiterInnenstaat zu errichten.
Dieses Ereignis von welthistorischer Bedeutung inspirierte ArbeiterInnen in der ganzen Welt und machte ihnen bewusst, dass es eine Alternative zum kapitalistischen Horror gab und eine sozialistische Veränderung der Gesellschaft möglich war.
Die Themen Frauenunterdrückung/Frauenbefreiung waren in der ArbeiterInnenbewegung schon länger präsent (wenn auch nicht unumstritten, da sich der in der Gesellschaft vorhandene Sexismus auch in Teilen der ArbeiterInnenbewegung widerspiegelte): Friedrich Engels („Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“) und August Bebel („Die Frau und der Sozialismus“) hatten sich damit beschäftigt, doch darüber hinaus gab es wenig grundsätzliches Material. Doch seit 1900 gab es eigene Treffen und Konferenzen sozialistischer Frauen im Rahmen der 2. Internationale.
Auch für die Bolschewiki war die Frauenbefreiung ein Kernpunkt des Programms. Nadeshda Krupskaja – führendes Mitglied der Bolschewiki und weit mehr als „nur“ Lenins Frau - hatte im Jahr 1900 die Broschüre „Die Frau und Arbeiterin“ verfasst und mit Alexandra Kollontai, Inessa Armand und Clara Zetkin gab es einige Frauen an der Spitze der Bewegung. Seit 1913 hatte das Zentralkomitee beschlossen, spezielle Schritte zur Organisierung von Arbeiterinnen zu setzen und im Jahr 1914 erschienen einige Ausgaben einer speziellen Zeitung für Frauen durch die Partei, Rabotnitsa. Die Oktoberrevolution und der Sturz des Kapitalismus machten radikale Reformen möglich. Diese Errungenschaften übertrafen bei weitem die Fortschritte, die Frauen in wirtschaftlich weiter entwickelten kapitalistischen Ländern erreicht hatten.
Zum Beispiel wurde die Ehe zu einem einfachen Verwaltungsakt, beide Partner hatten das Recht, sich scheiden zu lassen. Alle Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch brauchten, konnten diesen legal und kostenlos vornehmen lassen. Homosexualität wurde legalisiert. Vergewaltigung in der Ehe wurde strafbar – in Österreich dauerte das bis 2004! Das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit” wurde eingeführt. Neue Arbeitsschutzgesetze verbesserten die Situation der Arbeiterinnen. Sie hatten jetzt Anspruch auf 16 Wochen bezahlten Mutterschutz; stillende Mütter mussten nur noch vier Tage in der Woche arbeiten und hatten ein Recht auf regelmäßige Stillpausen.
Wie sich in den vorliegenden Texten von Trotzki zeigt war ihm, und anderen Bolschewiki, klar, dass die sozialistische Revolution nur eine notwendige Voraussetzung für die Befreiung der Frau war und ist. Weitere wichtige Faktoren sind die materiellen Voraussetzungen einer Gesellschaft und der Entwicklungsstand der Produktivkräfte.
Neben den wichtigen Fortschritten auf der rechtlichen Ebene und im Arbeitsleben erkannten die Bolschewiki auch, dass die Belastung der Frauen durch Hausarbeit in der Familie überwunden werden musste. Dies würde ihnen ökonomische Unabhängigkeit, Entscheidungsfreiheit in den persönlichen Beziehungen und eine vollständig gleichberechtigte Teilhabe in der Gesellschaft ermöglichen.
In ihrem 1919 beschlossenen Programm erklärte die Kommunistische Partei (wie die Bolschewiki sich seit 1918 nannten): „Die Partei, die sich nicht auf die formale Gleichberechtigung der Frauen beschränkt, ist bestrebt, die Frauen von den materiellen Lasten der veralteten Hauswirtschaft zu befreien, indem sie an deren Stelle kommunale Häuser, öffentliche Speisehäuser, zentrale Wäschereien und Kinderkrippen setzt.” Hausarbeit und Kinderbetreuung sollten keine individuelle, private Aufgabe der Frauen in der Familie sein, sondern vergesellschaftet und öffentlich vom Staat bereit gestellt werden.
Kinderkrippen und -gärten, öffentliche Wäschereien und Restaurants wurden eröffnet und das kostenlose Schulessen eingeführt. Die Sicht auf Familie und Kinder war eine gänzlich Neue. Das Zusammenleben von Menschen sollte ein freiwilliges sein. Kinder wurden, ebenso wie Frauen, nicht mehr als Besitz „ihrer“ Eltern gesehen, sondern als Teil der Gesellschaft, die auch die Aufgabe hatte, sich um sie zu kümmern. Wie auch heute noch gab es auch damals Vorurteile gegen eine öffentliche Kinderbetreuung, der A. Kalinina 1918, auf dem Kongress der Arbeiterinnen und Bäuerinnen entgegenhielt: „So vollkommen eine Mutter (wir würden heute wohl „die Eltern“ sagen, Anm. SG) sein mag, sie kann gar nicht soviel bieten wie die gesellschaftlich organisierte Erziehung, die auf den neuesten Errungenschaften der Wissenschaft, auf der Erfahrung des Volkes und auf Fonds und Hilfsquellen beruht.“ Manche der Maßnahmen die die Bolschewiki setzten kennen wir auch aus dem „Roten Wien“ der 1920er Jahre (öffentliche Kinderbetreuung, Gemeinschaftsküchen und -Waschküchen). Doch in der Sowjetunion ging die Übernahme der Hausarbeit viel weiter. In Petrograd, damals die am stärksten industrialisierte russische Stadt, entschieden sich 1920 neunzig Prozent der Bevölkerung in öffentlichen Restaurants zu essen, in Moskau waren es bis zu achtzig Prozent.
Aber die ArbeiterInnenregierung musste auch das bestehende Bewusstsein von Männern und Frauen berücksichtigen. Leo Trotzki, einer der Anführer der Russischen Revolution und ganz in der marxistischen Tradition von Engels stehend beschäftigte sich intensiv mit der Frage des Bewusstseins und seiner Veränderung. In den „Fragen des Alltagslebens“ schrieb er 1924: „Um die Lebensbedingungen zu ändern, müssen wir lernen, sie mit den Augen der Frauen zu sehen.“
Frauen waren ein bedeutender Teil der Lohnabhängigen (40 Prozent während und nach dem 1. Weltkrieg). Sie wurden aufgrund dessen wirtschaftlich unabhängiger und schätzten ihre Rolle in der Gesellschaft anders ein. Trotzdem lebten die meisten Frauen – und Männer – auf dem Lande, wo in der bäuerlichen Familie noch patriarchale Strukturen und rückständige Auffassungen vorherrschten – das männliche Familienoberhaupt übte Macht und Kontrolle über „seine“ Frau aus. Viele Bäuerinnen lehnten die öffentliche Kinderbetreuung ab; sie glaubten, die Regierung wolle ihnen die Kinder wegnehmen. Sie misstrauten allem, was sie als Gefahr für die Familie oder ihrer Rolle darin sahen. Im Programm von 1919 ist daher auch zu lesen: „Aufgabe der Partei ist gegenwärtig vorwiegend die ideologische und erzieherische Arbeit, um alle Spuren der früheren Ungleichheit beziehungsweise der Voreingenommenheit, besonders unter den zurückgebliebenen Schichten des Proletariats und der Bauernschaft, konsequent zu tilgen.” Eine bewusste Kampagne war notwendig, um die in der Gesellschaft tief verwurzelten rückständigen und reaktionären Einstellungen gegenüber Frauen zu überwinden.
Zu diesem Zweck gab es koordinierte Maßnahmen, um Frauen, die weniger als zehn Prozent der Parteimitgliedschaft ausmachten, aktiv am Aufbau der neuen Gesellschaft zu beteiligen. Schon bei der Durchführung der Revolution hatten Frauen eine wichtige Rolle gespielt. Der Auslöser der Februarrevolution war eine Frauendemonstration (am 8. März, dem internationalen Frauentag – der im alten zaristischen Kalender am 23. Februar war) wo zehntausende ArbeiterInnen für „Brot und Frieden“ und den Sturz der Zarenherrschaft marschiert waren. Die Prawda, die Zeitung der Bolschewiki, schrieb dazu: „Der erste Tag der Revolution – das ist der Frauentag, der Tag der ArbeiterInnen-Internationale. Ehre der Frau! Ehre der Internationale! Als erste betraten die Frauen die Straßen Petrograds an ihrem Tage. In Moskau haben die Frauen an diesem Tage vielfach die Haltung des Militärs entschieden: sie gingen in die Kasernen, überredeten die Soldaten, auf die Seite der Revolution zu treten, und die Soldaten folgten ihnen. Ehre der Frau!“ Ihre Tatkraft beim Umbau der Gesellschaft und für ihre eigene Befreiung war nun unverzichtbar.
Es gab einige Frauen an der Spitze von Partei und Staat, doch natürlich waren auch innerhalb der Partei die konservativen Rollenbilder nicht vollständig überwunden. Und es gab lange Debatten über die Stellung der Frauenarbeit in der Partei bzw. die Haltung zur bürgerlichen Frauenbewegung. Diese hatte, auch weil die ArbeiterInnenbewegung die speziellen Problemen und die spezielle Betroffenheit von Frauen nicht immer in ausreichendem Masse aufgegriffen hatte, im 19. Jahrhundert auch unter einem Teil der Arbeiterinnen eine gewisse Attraktivität erreichen können. Teile der ArbeiterInnenbewegung hatten argumentiert, dass sich die Frauenunterdrückung quasi automatisch mit dem Sturz des Kapitalismus erledigen würde. Aus dieser politischen Ecke kam dann auch in den 1960er Jahren die Argumentation, dass die Frauenunterdrückung nur ein „Nebenwiederspruch“ wäre (ein Begriff der fälschlicherweise Marx in die Schuhe geschoben wird) mit dem man sich nicht befassen müsse. Die Bolschewiki im Gegensatz dazu nahmen die Frauenbefreiung als aktuelles und wichtiges Thema war. Prominenteste Vertreterin war Alexandra Kollontai, die 1917 als erste Frau der Welt die Funktion einer Volkskommissarin (quasi Ministerin) inne hatte. MarxistInnen, argumentierte Kollontai, müssen die spezifischen Probleme, mit denen Frauen konfrontiert sind aufgreifen, wenn sie diese für die Ideen des Sozialismus gewinnen und von den falschen Ideen und Konzepten des bürgerlichen Feminismus wegbringen wollen. Feminismus ist ein sehr breiter Begriff, der verschiedenste ideologische Zugänge umfasst. Umgang und Einschätzung von Frauenorganisationen die versuchen, Frauen aufgrund ihres Geschlechtes über Klassenlinien hinweg zu organisieren war und ist eine brennende Frage. Es gab und gibt Themen die alle Frauen, egal aus welcher Klasse sie kommen, betreffen. Früher waren das v.a. der Zugang zu politischen und sonstigen Grundrechten. Auch Fragen von häuslicher Gewalt, Vergewaltigung und sexuelle Übergriffe, Sexismus und Fragen rund um Sexualität und Schwangerschaft betreffen Frauen unabhängig von ihrer Klassenzugehörigkeit und rund um diese Fragen kann es natürlich zur gemeinsamen Mobilisierungen von Frauen unterschiedlicher Klassenzugehörigkeit kommen. Doch die Frage der Ursachen, Antworten und Lösungen sind grundverschieden und beeinflusst von der Klasse aus der sie jeweils kommen. Denn auch wenn Frauen aller Klassen eine genderbedingte Unterdrückung erleben müssen ist doch der Kampf für die Frauenbefreiung eine Klassenfrage – und zwar in dem Sinne, als dass die Frauenunterdrückung mit der Trennung der Gesellschaft in Klassen entstanden ist und sich in den verschiedenen Klassengesellschaften, inklusive dem Kapitalismus, fortgesetzt hat.
Für MarxistInnen war immer klar, dass nur mit der Überwindung der Klassengesellschaft und der Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft die Basis für das Ende der Frauenunterdrückung gelegt werden kann. Sie sahen Frauenfragen daher als zentralen Bestandteil von Programm und Arbeit der ArbeiterInnenbewegung. Die Frage, ob das in eigenen Organisationen bzw. Strukturen, oder im Rahmen der Gesamtpartei stattfinden sollte, wurde immer wieder diskutiert. Die Bolschewiki hatten, eben weil sie die Notwendigkeit erkannt hatten, die spezielle Unterdrückung von Frauen aufzugreifen, verschiedene Initiativen gesetzt. Lenin machte 1920 klar: „Wir brauchen eigene Organe zur Arbeit unter ihnen (den Frauen, Anm.), insbesondere Agitationsmethoden und Organisationsformen.“ So fanden spezielle Konferenzen für Arbeiterinnen (die erste bereits im November 1917), bzw. für Arbeiterinnen und Bäuerinnen (1918) sowie auf internationaler Ebene (1920) statt.
1919 wurde für die politische Arbeit unter Frauen eine eigene Frauenabteilung der Kommunistischen Partei gegründet, die Zhenotdel. Eine ihrer ersten Aufgaben war es, die Frauen gegen zur Verteidigung der Revolution und ihrer Errungenschaften gegen die Angriffe der Reaktion zu mobilisieren. Auf allen Ebenen entstanden „Frauenkommissionen”, um die Frauen in die Partei und den Aufbau der neuen Gesellschaft einzubeziehen. Die Zhenotdel arbeitete an Themen wie Kinderbetreuung, Wohnraum, Gesundheitsversorgung und Prostitution. Sie organisierte Delegiertenkonferenzen der Arbeiterinnen und Bäuerinnen und delegierte Frauen zur Arbeit in Behörden und der Partei. Junge Arbeiterinnen beteiligten sich mit großem Einsatz an der Öffentlichkeitsarbeit unter Frauen auf dem Land und in abgelegenen Gebieten.
Die Zhenotdel veröffentlichte Zeitungen und Magazine, organisierte Diskussionen und Ausstellungen und entwickelte neue Methoden zur Stärkung des Selbstbewusstseins von Frauen, von denen viele nicht lesen konnten. Besonders schwierig war es, Muslima in Zentralasien zu erreichen, wo weibliche Freiwillige manchmal physisch angegriffen oder sogar grausam ermordet wurden. Trotz der extrem gefährlichen Bedingungen gingen sie weiter auf die Frauen in diesen Gebieten zu und führten geheime Treffen durch, etwa in Badehäusern.
Die Revolution entfesselte enorme kreative Potentiale, die sich auf jeden Lebensbereich der Menschen auswirkten, auch auf sexuelle und persönliche Beziehungen. Besonders junge Menschen hinterfragten die bestehenden Formen des Zusammenlebens und experimentierten mit neuen Möglichkeiten, miteinander zu leben und umzugehen.
Obwohl die Führungskräfte der Kommunistischen Partei die besten Absichten hegten, war ihrem Programm für die sozialistische Veränderung und Frauenbefreiung durch die kulturelle und materielle Rückständigkeit Russlands Grenzen gesetzt. Der Weltkrieg, der das Land ruiniert hatte, und ein brutaler Bürgerkrieg, in den die imperialistischen Mächte eingriffen, um den neuen ArbeiterInnenstaat zu zerschlagen, verschlimmerten die Lage.
Die russische Revolutionärin Alexandra Kollontai erkannte, dass die Vergesellschaftung der „Frauenarbeit” in einem unterentwickelten, durch Krieg und Bürgerkrieg verwüsteten Land nicht leicht umsetzbar war. 1919 und 1920 starben allein 7,5 Millionen RussInnen an Hunger und Epidemien. 1920 erreichte die industrielle Produktion in Russland nur 12,9 Prozent des Standes von 1913.
So gab es zwar viele Gemeinschaftsrestaurants in der Hauptstadt, aber ihre Zahl in den anderen Gebieten war sehr unterschiedlich, oft gab es gar keine. Häufig war das Essen so schlecht, dass ArbeiterInnen lieber einen Bogen um die Volksküchen machten und stattdessen zu Hause aßen. Das trug dazu bei, die traditionelle Aufgabenverteilung in der Familie wiederherzustellen.
Es fehlte das Geld, es fehlten die Ressourcen um all die Vorschläge und Pläne auch wirklich umsetzen zu können. Die vorherrschenden materiellen Bedingungen behinderten auch Versuche, die persönlichen Beziehungen zu verändern. 1921 wurden die Neue Ökonomischen Politik (NEP) und mit ihr, zeitlich begrenzt, Marktmechanismen eingeführt, um die Produktion wiederzubeleben. Als Folge davon stieg die Arbeitslosigkeit stark an, besonders viele Frauen verloren ihre Arbeitsplätze. 1923 waren 58 Prozent der Arbeitslosen in Petrograd Frauen. Formal hatten Frauen das Recht, sich scheiden zu lassen, aber in Wirklichkeit hatten die meisten aufgrund Arbeitslosigkeit und Armut keine Wahl. Sie mussten aus wirtschaftlicher Not in unglücklichen Beziehungen bleiben.
Durch ihre Arbeit konnten die Mitglieder der Zhenotdel sehr erfolgreich das Bewusstsein der Frauen verändern. Sie stellten sicher, dass sich die Partei und die Regierung mit ihren Problemen befassten, und ermutigten Frauen, sich an der Verwaltung der Gesellschaft zu beteiligen. Aber die Arbeit der Frauenabteilung wurde behindert – durch den Bürgerkrieg, durch Personalmangel und die Tatsache, dass die Frauen an Erschöpfung durch ihre Aufgaben in der Familie und am Arbeitsplatz litten.
Die Bolschewiki hatten immer argumentiert, dass es unmöglich ist, den Sozialismus in einem Land aufzubauen, insbesondere nicht in einem wirtschaftlich und kulturell so rückständigen wie dem damaligen Russland. Die Revolution musste international ausgeweitet werden, in die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder wie Großbritannien und Deutschland. Alle Reformen, die die ArbeiterInnenregierung einführte, waren daher nicht nur im Interesse der russischen ArbeiterInnen und Bauern, sondern dienten als Beispiele für die ArbeiterInnenklassen in anderen Ländern. Sie sollten sie motivieren, sich für eine revolutionäre Veränderung der Gesellschaft zu organisieren.
In vielen Ländern wurden Arbeiterinnen und Arbeiter von den Ereignissen in Russland inspiriert. In Europa und darüber hinaus brachen revolutionäre Bewegungen aus. Doch gelang es keiner von ihnen, den Kapitalismus zu stürzen. Der Grund dafür lag in den Schwächen der jeweiligen revolutionären Führungen in diesen Ländern. Das Scheitern dieser Revolutionen und die daraus entstehende Isolation Russlands verstärkte die Demoralisierung in der russischen ArbeiterInnenklasse, welche bereits geschwächt war durch Krieg, Hungersnot und lange Arbeitszeiten.
Die wirtschaftliche Rückständigkeit des Landes und die internationale Isolation der Revolution trugen dazu bei, dass die ArbeiterInnendemokratie und viele Errungenschaften der Revolution demontiert werden konnten. Auch die Frage der Frauenbefreiung wurde in den Hintergrund geschoben. Gleichzeitig gelangte eine bürokratische Elite an die Macht, deren Ziel vor allem die Verwaltung der Gesellschaft mit dem Ziel des eigenen Machterhalts war. Während die Planwirtschaft, basierend auf staatlichem Eigentum an den Produktionsmitteln, bestehen blieb, wurde die ArbeiterInnenkontrolle und -verwaltung durch die Räte durch eine bürokratisch-zentralistische Kommandowirtschaft von oben ersetzt. Die Wirtschaft wuchs, jedoch verbunden mit extremen Lasten für das Leben von ArbeiterInnen und Bauern und die Umwelt.
Errungenschaften von Frauen untergraben
Durch die Oktoberrevolution und den Sturz des Kapitalismus war die Grundlage für die Frauenbefreiung gelegt worden, aber reaktionäre Rollenbilder und Verhaltensweisen waren damit nicht automatisch verschwunden. Sie lebten in der Gesellschaft, und auch der kommunistischen Partei, die ja nicht isoliert davon existiert, weiter. Auf diese konservativen und reaktionären Schichten stützen sich Stalin und die soziale Schicht der Bürokratie, die er repräsentierte. Durch die Armut des Landes war der Aufbau von Alternativen zum traditionellen Familiensystem praktisch beschränkt und dies trug auch zum Aufstieg der Bürokratie bei, die repressive und autoritäre traditionelle Familie auch als Stütze der eigenen Herrschaft benützte.
Die Interessen der ArbeiterInnen, darunter auch der Frauen, wurden unter der Leitung Stalins den Interessen der Bürokratie untergeordnet. 1928 erzwang Stalin die Industrialisierung und die Kollektivierung des Landes. Er war getrieben von der Angst, dass die stärker werdenden prokapitalistischen Elemente in der Sowjet-Gesellschaft zur Bedrohung für die Herrschaft der Bürokratie werden könnten. Durch die Industrialisierung und Kollektivierung wurden Millionen von Frauen zur Lohnarbeit gezwungen. Gleichzeitig ließ man öffentliche Einrichtungen wie Kindergärten, Volksküchen und Wäschereien absichtlich verkommen – viel mehr als dies wirtschaftlich notwendig gewesen wäre.
Ziel war nun nicht mehr die Auflösung der traditionellen Familie, sondern deren Förderung. Grund dafür war, dass die Rückkehr der patriarchalen Familie im Interesse der Bürokratie war, die sie als Instrument zur sozialen Kontrolle brauchte. Sie spiegelte die hierarchische Struktur des bürokratischen Staats wider und wurde zu einem Ort, wo besonders junge Menschen diszipliniert werden konnten, damit sie die Macht der bürokratischen Elite nicht in Frage stellten. Daher wurden viele Gesetze zur Stärkung der Familie als ökonomischer und sozialer Einheit erlassen. Weil mehr Arbeitskräfte gebraucht wurden, startete die Regierung Propagandakampagnen über die Freuden der „Mutterschaft” und forderte von den Frauen eine höhere Geburtenrate. In den Schulen wurden Mädchen in besonderen Fächern auf ihre Rolle als Mütter und Hausfrauen vorbereitet. Gerade in Fragen der Sexualität waren die konservativen Vorstellungen noch längst nicht überwunden und wurden vom Stalinismus bewusst wieder genutzt.
In der Abtreibungsfrage zeigt sich der konservative Backlash unter dem Stalinismus deutlich. Schon 1913 hatte Lenin in einem Artikel klargemacht, dass die Partei „für die unbedingte Aufhebung aller Gesetze (sei....), die die Abtreibung oder der Verbreitung medizinischer Werke über empfängnisverhütende Mittel usw. unter Strafe stellen.“ Die Abtreibung war 1920 legalisiert und kostenlos gemacht worden (wenn es auch an der Umsetzung aufgrund von konservativen Ärzten bzw. einem Mangel an medizinischen Ressourcen mangelte). Es wurden einige Schriften zur Empfängnisverhütung veröffentlicht aber Verhütungsmittel waren Mangelware, da es an Technologie und Material fehlte. Es wurde aber auch im Bereich der Empfängnisverhütung geforscht u.a. zu einer Art „Pille“. Doch das änderte sich mit dem Aufstieg des Stalinismus. Viele rechtliche Verbesserungen, die die Revolution den Frauen gebracht hatte, wurden wieder zurückgenommen. Scheidungen wurden erschwert, Abtreibung in den meisten Fällen verboten. Über Parteipublikationen wurde 1927 verbreitete dass „jede Methode der Schwangerschaftsverhütung anormal ist...das Ergebnis sexueller Beziehungen muss die Empfängnis sein.“ In den Jahren 1938/39 wurden 12,7 Prozent aller Todesfälle von Frauen, die in Städten lebten, durch illegale Abtreibungen verursacht.
Wieder mussten Frauen für die sozialen Probleme bezahlen, was sich im Umgang mit der Frage der Prostitution zeigte. Unmittelbar nach der Revolution war der Umgang derart, dass die Bordellbesitzer sowie die Männer, die die Prostituierten kauften, verhaftet wurden, den Prostituierten selbst wurden freiwillige Möglichkeiten zur Ausbildung für verschiedene Berufe gegeben. Die sozialen Probleme in Folge von Bürgerkrieg und Hungersnöten hatten die Prostitution nicht aussterben lassen, sondern sie war ein allgegenwärtiges Problem. Unter dem Stalinismus wurden wieder die Frauen, denen oft keine Alternative als die Prostitution blieb, bestraft.
1930 wurde die Zhenotdel, damals eine Massenorganisation mit über drei Millionen Delegierten, formal aufgelöst, obwohl die ursprünglichen Ziele der Revolution, wie die volle ökonomische, soziale und sexuelle Gleichheit der Geschlechter, noch lange nicht erreicht waren, in manchen Bereichen die Errungenschaften der Revolution für Frauen sogar wieder zurück genommen worden waren. Diese Degeneration der Revolution am Beispiel der Frauenfrage analysiert Trotzki in seinem Buch „Die Verratene Revolution“ 1936 unter dem Titel „Thermidor in der Familie“.
Sozialistische Demokratie
Entgegen der Darstellung der Verteidiger des Kapitalismus ist eine bürokratische Degeneration nicht das unvermeidbare Ergebnis jeder sozialistischen Revolution. Genauso wenig stimmt es, dass die Unterdrückung der Frau ewig existieren wird, selbst im Sozialismus. Der Aufstieg der stalinistischen Bürokratie und die Zerstörung der Errungenschaften der Revolution haben ihre Ursache in den spezifischen Verhältnissen, die damals in Russland und international bestanden.
Eine demokratische ArbeiterInnenregierung in einem wirtschaftlich weiter fortgeschrittenen Land, stünde heute nicht vor denselben ökonomischen und kulturellen Problemen, wie die Bolschewiki nach der Revolution 1917.
Allerdings gilt: Der Sozialismus würde zwar die Grundlagen für die Veränderung der ökonomischen und sozialen Beziehungen schaffen, aber notwendig wäre auch die aktive Teilnahme von Frauen und Männern aus der ArbeiterInnenklasse an der Planung und Lenkung der Gesellschaft, ebenso wie eine Veränderung der Auffassungen und Einstellungen. Hinzu kommt, dass die kapitalistischen Kräfte in den anderen Ländern erneut eine ernste Bedrohung darstellen würden. Deshalb kann Sozialismus nur international durchgesetzt werden und muss auf einer ArbeiterInnendemokratie basieren. Die Sektionen und Gruppen des Komitees für eine ArbeiterInneninternationale, die in rund 40 Ländern auf allen Kontinenten existieren, sind Teil von Bewegungen und Protesten gegen Frauenunterdrückung.
Überall auf der Welt greifen wir das Thema Sexismus auf. Als 2011 nach der Aussage eines Polizisten in Toronto, dass „Frauen vermeiden sollten, sich wie Schlampen anzuziehen, um nicht zum Opfer zu werden“ es weltweit zu Slutwalks kam, waren Mitglieder des CWI dabei. Gegen das Barbie Dreamhouse in Berlin waren u.a. SozialistInnen vom Rosa Reloaded (Blog zu Geschlechterpolitik des CWI-Deutschland) aktiv. Die Kampagne war ein Aufschrei gegen die von Werbe- und Spielzeugindustrie propagierten Rollenklischees und erreichte nicht nur eine enorme Öffentlichkeit, sondern auch, dass das Alb-Traumhaus fünf Wochen früher als geplant schließen musste. Viele v.a. junge Frauen, aber auch Männer, hatten gemeinsam eine kämpferische Kampagne geführt. Der gemeinsame Kampf von Frauen und Männern gegen Sexismus ist nicht selbstverständlich. Weder für die Betroffenen selbst, noch für linke Organisationen. Doch wer Sexismus als Bestandteil der Klassengesellschaft und nicht als biologisch vorherbestimmtes Verhalten begreift versteht auch, dass der Kampf gegen Sexismus letztlich ein gemeinsamer sein muss.
Für uns ist daher immer wichtig, Kampagnen zu „Frauenthemen“ in z.B. die Gewerkschaften hineinzutragen. Anfang der 1990er Jahre gründete die britische Sektion des CWI die Kampagne gegen Häusliche Gewalt (Campaign Against Domestic Violence – CADV). Ein Erfolg von CADV war es auch zu erreichen, dass heute häusliche Gewalt von allen wichtigen Gewerkschaften als zentrales Thema verstanden wird. Der Kampf um die maximal mögliche Einheit der ArbeiterInnenklasse bedeutet nicht, die spezielle Unterdrückung von Frauen unter den Teppich zu kehren, sondern bedeutet, die gesamte ArbeiterInnenbewegung zu überzeugen, das Thema ernsthaft aufzugreifen.
In Irland haben die AktivistInnen der Socialist Party Proteste gegen den von der Studierendenvertretung UCDSU veranstalteten Schönheitswettbewerb (Miss UCD) organisiert. Auch in Indien hatte die New Socialist Alternative 1996 gegen die Miss-World-Wahl Aktionen durchgeführt. In der aktuellen Bewegung gegen Vergewaltigungen in Indien fordern sie u.a. den Aufbau von Verteidigungskomitees unter Beteiligung von Gewerkschaften, Community-Organisationen und anderen fortschrittlichen Organisationen. In Britannien gibt es die Kampagne „Rape is no joke“ gegen die Verharmlosung von sexueller Gewalt in „Witzen“. Doch auch hier ist die Verbindung mit sozialen Themen zentral. Wie auch in Brasilien, wo im Herbst 2013 über zweitausend Frauen an einem Treffen der „Bewegung der Frauen im Kampf“ teilgenommen haben - auch ein Ergebnis der Tatsache, dass die Mehrheit der TeilnehmerInnen bei den Protesten im Sommer 2013 sowie bei den LehrerInnenprotesten Frauen waren.
Im Zuge der Wirtschaftskrise sind Frauen die ersten Opfer der sich verschlechternden sozialen Situation. Direkt durch den Verlust von Jobs und Sozialleistungen. Aber auch indirekt durch den Rückschlag, den es in Bezug auf das Frauenbild gibt. Das vorherrschende Frauenbild ist – frei nach Marx – immer das Frauenbild der herrschenden Klasse. Und in Krisenzeiten braucht sie die Frau weniger als Arbeitskraft im Erwerbsleben und mehr als kostenlose Arbeitskraft in Haushalt und Familie. Dieses Bild erfährt daher auch nicht zufällig eine Renaissance. Und ein Teil davon ist es Frauen „klar zu machen“, dass wir auf dem zugeteilten Platz bleiben sollen. Wenn nötig auch mit Gewalt. Die Normalisierung von Gewalt gegen Frauen in Medien und Kultur folgt also nicht bloß einer Nachfrage auf dem Markt, sondern erfüllt eine aus Sicht der Herrschenden notwendige disziplinierende Aufgabe.
Der Kampf gegen Sexismus muss daher immer auch mit dem Kampf gegen das Gesellschaftssystem verbunden werden, das ein Interesse an der kostenlosen Arbeit von Frauen, ihrer systematischen Unterdrückung und einer Spaltung der ArbeiterInnenklasse hat. Denn - frei nach Malcolm X: Es gibt keinen Kapitalismus ohne Sexismus.
Wien, Februar 2014