Frankreich im Mai ’68: Die Macht lag auf der Straße

Tinette Schnatterer

1968 wurde international zum Symbol für Protestbewegungen. Ob Prag, Mexiko City, Chicago oder Berlin, überall gingen vor allem junge Leute gegen die bestehenden Verhältnisse auf die Straße. Die Besonderheit des Mai ’68 in Paris und in ganz Frankreich liegt darin, dass an seinem Höhepunkt zehn Millionen Beschäftigte im Generalstreik waren und eine sozialistische Veränderung der Gesellschaft in einem führenden kapitalistischen Land zum Greifen nahe war.

Die französischen Herrschenden haben diesen Schock bis heute nicht vergessen. Bevor der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy seine jüngsten Angriffe auf Renten, Arbeitszeit, Gesundheit, Autonomie der Universitäten begann, erklärte er öffentlich: „Ich schlage allen Franzosen vor, wirklich mit dem Geist, den Verhaltensweisen, den Ideen, dem Zynismus des Mai ’68 zu brechen.“ Doch heute, am 40. Jahrestag der Bewegung, sind drei von vier jungen Franzosen der Meinung, dass die Ereignisse im Mai ’68 einen positiven Einfluss auf die französische Gesellschaft hatten.

„Wenn Frankreich sich langweilt“

„Wenn Frankreich sich langweilt“ lautete die Schlagzeile der Zeitung Le Monde am 15. März 1968. Im Vergleich zur Bundesrepublik und anderen Ländern sei es in Frankreich doch sehr ruhig. Keine zwei Monate später rollte eine revolutionäre Welle durch das Land, die den Kapitalismus in Frankreich in Frage stellen sollte.

In den Jahren zuvor war die französische Wirtschaft im Schnitt um sechs Prozent gewachsen und der Lebensstandard der Bevölkerung hatte sich im Vergleich zu 1950 mehr als verdoppelt. Allerdings arbeiteten viele Beschäftigte 45 Stunden die Woche, in den meisten Betrieben gab es keinerlei gewerkschaftliche Rechte. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten Regierung und Unternehmer den Ausbau der Industrie vorangetrieben, um aus Frankreich, das einen sehr großen Agrarsektor hatte und als Bankenland galt, eine international wettbewerbsfähige Wirtschaft zu machen. Die Lage in vielen Großbetrieben war so angespannt, dass in einer ganzen Reihe von Werken bewaffnete Aufseher eingesetzt wurden.

Im Jahr 1968 fiel die Steigerung der Löhne sehr gering aus und bei den Beschäftigten wuchs das Gefühl, dass sie auch ihren Anteil am Wirtschaftswachstum bekommen müssten. Beginnend mit dem dreimonatigen Streik der Bergarbeiter 1963 hatte die Zahl der Streiks bereits in den Jahren zuvor zugenommen.

Dazu kam der autoritäre Regierungsstil Charles de Gaulles, der besonders die jungen Franzosen provozierte. Pressezensur war an der Tagesordnung und es war erst kurze Zeit her, dass der Informationsminister sich die Fernsehnachrichten vor der Ausstrahlung persönlich vorlegen ließ.

Studentenrevolte

Den Beginn machten die Studierenden. Ausgehend von Nanterre erreichte der Protest am 3. Mai Paris. Gründe für die Wut der Studierenden gab es viele: überfüllte Hörsäle an den Universitäten verbunden mit rigiden und spießigen Regeln in den Studentenwohnheimen, in denen Jungs und Mädchen sich nicht besuchen durften. Während es 1960 noch 250.000 Studierende gab, waren es 1968 bereits 500.000. 33 Prozent der Gesellschaft waren unter 20 Jahre alt. Der damalige Bildungsminister Alain Peyrefitte schrieb zwanzig Jahre später: „Die Bewegung wäre früher oder später losgegangen, ein Vorwand genügte.“

Am 3. Mai hatten sich einige hundert Studierende an der Universität Sorbonne versammelt, um gegen Disziplinarmaßnahmen zu protestieren, die Daniel Cohn-Bendit, damaliger Studentenführer in Nanterre, drohten. Der Protest verlagerte sich auf die Straße und bald richtete sich der Widerstand vor allem gegen das brutale Vorgehen der Polizei. Die Spezialpolizei CRS, die 1947/48 gegründet worden war, um einen Bergarbeiterstreik zu zerschlagen, prügelte wahllos auf Studierende und PassantInnen ein. Es kam zu zahlreichen Verletzten. Die Antwort der Studierenden waren Barrikaden, die im Univiertel Quartier Latin errichtet wurden. Die Uni Sorbonne wurde besetzt. Allein am 6. Mai wurden offiziell 481 Verletzte gezählt, davon 279 unter den Studierenden, sowie 81 Verhaftungen.

Obwohl gleichzeitig eine Propagandawelle gegen angebliche gefährliche Unruhestifter begonnen wurde, solidarisierten sich mehr und mehr AnwohnerInnen und Beschäftigte mit den DemonstrantInnen. Die AnwohnerInnen im Quartier Latin spritzten Wasser von den Balkons gegen das Tränengas und reichten Kekse und Getränke. Eine Umfrage vom 8. Mai zeigte, dass 61 Prozent der PariserInnen auf der Seite der Studierenden standen, nur 16 Prozent fanden ihre Forderungen ungerechtfertigt.

Am 10. Mai schlossen sich SchülerInnen den Studierenden an. Viele Beschäftigte, die das Geschehen im Radio verfolgt hatten, waren schockiert über das brutale Vorgehen der Polizeieinheiten. Eine damals als Telefonistin Beschäftigte (Lily) beschrieb das auf der Veranstaltung „Connaître Comprendre Communiquer 13“ in Marseille im Februar diesen Jahres so: „Als die Studentenbewegung anfing, schien sie nichts mit dem zu tun zu haben, was uns beschäftigte, aber wir waren trotzdem sensibilisiert. Und dann, als die Repression anfing, haben wir uns gesagt, es könnten unsere Kinder sein, die verprügelt werden.“

Generalstreik

In Anbetracht dieser Stimmung mussten die Gewerkschaften reagieren und riefen, wenn auch nur halbherzig, für den 13. Mai zum Generalstreik auf. Und am 13. Mai zogen eine Million Menschen durch die Straßen von Paris und riefen „Arbeiter, Studierende – gemeinsam“.

Die 2.000 Kollegen des Flugzeugwerks Sud Aviation in Bouguenais beschlossen am 14. Mai, im Streik zu bleiben, besetzten die Fabrik und wählten ein Streikkomitee. Sie schlossen ihren Chef in seinem Büro ein und spielten ihm nonstop revolutionäre Lieder über Lautsprecher vor. Von Gewerkschaftsseite wurde jedoch für den 15. Mai nur ein Aktionstag mit symbolischen Streiks angesetzt, wie es schon so viele gegeben hatte. Als die Kollegen bei Renault Cléon, in der Nähe von Rouen, jedoch während ihres einstündigen Streiks im Radio von dem Geschehen bei Sud Aviation hörten, begannen 150 junge Arbeiter durch die Werkshallen zu ziehen und Slogans zu rufen. Sie forderten die Direktion zu sprechen, und als diese ablehnte, verbarrikadierten sie die Werkstore. Jetzt musste auch die Gewerkschaft CGT reagieren. Die CGT war 1968 die bedeutendste Gewerkschaft; sie stand unter dem direkten Einfluss der Kommunistischen Partei (KP). Noch am selben Abend befanden sich bereits alle 60.000 Renault-Arbeiter in Frankreich im Streik. Überall wurden Forderungen aufgestellt, wie ein Mindestlohn von 1.000 Francs, gewerkschaftliche Rechte und Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich. Innerhalb von Stunden setzte eine Dynamik ein, die Bewegung fegte wie ein Orkan durch das Land. Am 16. Mai um 17 Uhr befanden sich 300.000 Beschäftigte im Streik, um 22 Uhr waren es bereits doppelt so viele.

„Die Zukunft liegt bei Gott“

Mit jedem Tag wuchs das Bedürfnis nach Diskussionen und Ideen. Neben der Uni Sorbonne war am 15. Mai auch das Pariser Theater Odeon besetzt worden, in dem rund um die Uhr diskutiert wurde. Neben den traditionellen kämpferischen Bereichen schlossen sich auch mehr und mehr andere Beschäftigte dem Streik an. In Cannes wurde das Filmfestival bestreikt und musste unterbrochen werden.

Auf dem Höhepunkt des Streiks beteiligten sich zehn Millionen Beschäftigte. Zunehmend stellte sich die Herausforderung, das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben selber zu organisieren. Wegen dem Streik bei der Banque de France wurde das Geld knapp und auch Boykottmaßnahmen der Unternehmer erschwerten das Leben. Treibstoff wurde absichtlich verknappt, drei von vier Tankstellen hatten keinen Sprit mehr.

Die Herrschenden waren gespalten. Am 16. Mai scheiterte ein Misstrauensvotum gegen de Gaulle im Parlament nur knapp. Auch unter den Konservativen wurden Stimmen laut, de Gaulle solle zurücktreten. Als letzte Rettung schlug der Präsident ein Referendum vor, in dem er weitreichende Reformen in Aussicht stellte und versprach, im Falle einer Niederlage zurückzutreten. Dieses Referendum war aber wegen des Streiks praktisch nicht organisierbar.

Am 25. Mai hatte de Gaulle die Situation gegenüber dem neuen US-Botschafter Sargent Shriver wie folgt zusammengefasst: „Die Zukunft hängt nicht von uns ab, Herr Botschafter, sie liegt bei Gott.“ Der Präsident, der zehn Jahre mit eiserner Hand regiert hatte, floh nach Baden-Baden. Am 28. Mai trat zudem ein Teil der Beschäftigten des Innenministeriums in den Streik, so dass kaum noch eine Kommunikation zwischen den verschiedenen Ressorts der Regierung möglich war. Viele Minister begannen Dokumente zu vernichten.

Doppelherrschaft

Bereits am 16. Mai hatte der Premier Georges Pompidou veranlasst, dass – wenn nötig – Reservisten eingezogen werden sollten. Mit dem Anwachsen der Bewegung wurde allerdings immer deutlicher, dass Armee und Polizei nicht länger gegen die streikenden Arbeiter eingesetzt werden konnten. Ende Mai verkündete die Gendarmerie in Grenoble, dass sie keine Reserven mehr habe, da die Polizisten entweder erschöpft oder nicht zum Einsatz bereit seien. In Tours und Rouen trafen die Demonstrant-Innen auf keine Polizisten mehr.

Der alte Staatsapparat hing in der Luft. Gleichzeitig forderten Streik- und Aktionskomitees auf allen Ebenen de Gaulle und Co. heraus. Eine Doppelherrschaft war entstanden. Auf der einen Seite die alte Ordnung – Kapitalisten, Großbauern, Armee, Polizei und Justiz -, die zwar in die Defensive gedrängt, aber noch nicht gestürzt waren. Auf der anderen Seite der Aufbau von Streik- und Aktionskomitees als Gegenmacht, in embryonaler Form Ansätze alternativer Staatsorgane.

Allerdings kann eine revolutionäre Situation nicht ewig bestehen. Entweder werden innerhalb von Wochen oder wenigen Monaten die Kapitalisten enteignet, die Herrschenden entmachtet und eine Arbeiterdemokratie aufgebaut oder die Konterrevolution kann – mit der Erschöpfung der Revolution – die Oberhand gewinnen.

Aktions- und Streikkomitees

In vielen Autowerken, in Stahlbetrieben oder bei der Bahn übernahmen ArbeiterInnen das Ruder. In einigen Betrieben wurde während der Besetzung unter Kontrolle der Beschäftigten weiter produziert.

Überall schossen Aktions- und Streikkomitees wie Pilze aus dem Boden: in Krankenhäusern taten sich Krankenpfleger, PatientInnen und Ärzte zusammen; an Schulen und Unis wurden Lehrer-, Schüler- und Studierendenkomitees gegründet; auf dem Land entstanden Bauernkomitees. In Nantes und Umgebung regierte sogar ein Arbeiter-, Bauern- und Studentenrat: dieser kontrollierte den Verkehr und organisierte die Versorgung mit Wasser und Strom.

Revolutionen sind objektive Prozesse. Sie resultieren aus den unüberwindbaren und sich zu bestimmten Zeiten bis aufs Äußerste verschärften Klassenwidersprüchen. Um revolutionäre Chancen nicht zu verpassen, bedarf es des „subjektiven Faktors“, einer revolutionär-sozialistischen Partei mit einem konsequenten marxistischen Programm, stark verankert in der Arbeiterklasse.

Im Mai 1968 in Frankreich wäre es nötig gewesen, die Aktions- und Streikkomitees zu koordinieren und zu vernetzen – auf örtlicher, regionaler und nationaler Ebene. Die damalige Doppelmacht hatte mehr von einer doppelten Machtlosigkeit für geraume Zeit. Um das zu überwinden und der herrschenden Klasse und ihrem Staatsapparat die Möglichkeit zu nehmen, ihre Kräfte wieder zu sammeln und zum Gegenschlag ausholen zu können, hätten die Komitees landesweit in einem Delegiertenkongress zusammengeführt werden müssen. Ganz gleich, welchen Namen diese Institution gefunden hätte, wäre es dem Charakter nach ein nationaler Rätekongress gewesen. Dort hätte eine neue Regierung, eine Arbeiterregierung gewählt werden können.

Das hätte dann damit einher gehen müssen, die Betriebe auch formal in Gemeineigentum zu überführen, die Produktion im Interesse der gesamten Gesellschaft umzuorganisieren und eine demokratisch geplante Wirtschaft aufzubauen.

Ein Appell an Polizisten und Soldaten, ebenfalls Komitees zu gründen und die alten Strukturen zu ersetzen, hätte die Gefahr bannen können, dass diese gegen die Streikenden hätten eingesetzt werden können.

Nicht zuletzt hätten die Komitees einen Solidaritätsaufruf an die Beschäftigten international richten müssen, sich dem Kampf anzuschließen. Einzelne Beispiele von internationaler Solidarität gab es während des Generalstreiks bereits; so weigerten sich Drucker in Belgien, die Stimmzettel für de Gaulles Referendum herzustellen.

In Russland war in der Revolution 1917 die alte Herrschaft gestürzt worden. Dort war mit dem Zusammenschluss der Räte (Sowjets) auf nationaler Ebene, der Bildung einer Arbeiterregierung, der Machtübernahme und der Neuorganisation von Wirtschaft und Gesellschaft eine Arbeiterdemokratie geschaffen worden. Russland zeichnete sich dadurch aus, dass mit den Bolschewiki eine revolutionäre Organisation existierte, die in den vorhergehenden Kämpfen bereits Vertrauen erworben hatte und unter Lenin 1917 zielstrebig auf die Machtergreifung durch die Arbeiterklasse und den Aufbau einer neuen Ordnung hinarbeitete. Ausgehend von Lenins Aprilthesen war die Losung „Alle Macht den Sowjets“ eine zentrale Forderung gewesen.

Die KP als Bremse

Leider zeigten die linken Organisationen, die 1968 in Frankreich präsent waren, keinen Weg auf, wie der Kapitalismus hätte gestürzt werden können. Die Kommunistische Partei sabotierte die Bewegung regelrecht. Der Grund für diesen Verrat war die Abhängigkeit der KP von der Sowjetunion. Diese hatte bereits mit der Machtübernahme Stalins jeden demokratischen Charakter verloren und war zu einem bürokratischen Arbeiterstaat verkommen. Die dort herrschende Kaste hatte nicht nur kein Interesse an einer Revolution in Frankreich, sie hatte regelrecht Angst davor. Denn wenn in Frankreich oder einem anderen Land der Kapitalismus gestürzt und an seine Stelle eine demokratische, sozialistische Gesellschaft getreten wäre, dann wäre ihre diktatorische Herrschaft sofort selber bedroht gewesen. Die KP und die von ihr dominierte Gewerkschaft CGT hatten in Frankreich aber noch großen Einfluss unter ArbeiterInnen, nicht zuletzt weil ihre Mitglieder gegen die Faschisten gekämpft hatten und die KP in Worten immer ziemlich radikal aufgetreten war.

Auch die anderen linken Gruppen, die vor allem in der Studentenbewegung eine Rolle spielten, waren nicht in der Lage, einen Weg aufzuzeigen. Daniel Cohn-Bendit, der zum Symbol für den Mai ’68 an den Unis wurde, sagte auf dem Höhepunkt der Bewegung in der Zeitschrift Nouvel Observateur: „Meiner Meinung nach geht es nicht darum, Metaphysik zu betreiben und rauszufinden, wie man die Revolution machen kann. (...) Bestenfalls kann man hoffen, die Regierung zum Sturz zu bringen. Aber man sollte nicht versuchen, die bürgerliche Gesellschaft zu sprengen.“ Diese Gruppen hatten keine Verankerung in der Arbeiterklasse und vertraten häufig die irrige Ansicht, die Intellektuellen, die Studierenden, müssten den ArbeiterInnen den Weg weisen.

In der Tat hatte Frankreich 1968 ein weiteres Mal gezeigt, dass es oft die Jugend ist, die zuerst aktiv wird und so einen Beitrag leisten kann, eine allgemeine Bewegung loszutreten. Aber erst wenn die Arbeiterklasse in den Kampf tritt, kann das System in seinen Grundfesten erschüttert werden. Denn ohne die arbeitende Bevölkerung läuft die Wirtschaft nicht einen einzigen Tag, wie der Mai ’68 in Frankreich sichtbar machte. Die Arbeiterklasse ist die Kraft, die eine neue Gesellschaft aufbauen kann.

Fortsetzung der Streiks

Statt der Machtfrage stellten die Führungen von KP und CGT nur einige Forderungen für höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten und verhandelten mit der Regierung. Die Streikenden wollten sich aber nicht damit abspeisen lassen. Als der CGT-Vorsitzende sich zu Renault-Billancourt aufmachte, um das Ergebnis der Verhandlungen zu verkünden, gab es Sprechchöre für eine „Volksregierung“. Die Bekanntgabe der Verhandlungsergebnisse wurde mit Buhrufen beantwortet.

Die ArbeiterInnen stimmten für eine Fortsetzung des Streiks, wie wenig später auch bei Citroen, Sud Aviation und allen anderen großen Betrieben. Am 27. Mai nahmen über 30.000 an einer gemeinsamen Veranstaltung von Studierenden und Beschäftigten im Stadion Charlety teil. Maurice Labi von der Gewerkschaft CFDT-Textile erntete viel Applaus, als er rief: „Was wir fordern, verhandelt sich nicht, das erkämpft sich.“ Am 29. Mai verschwand de Gaulle dann in den Schwarzwald.

Das Establishment schlägt zurück

Nur Tage später war de Gaulle allerdings wieder zurück in Paris, veranlasste die Auflösung des Parlaments und Neuwahlen. Ein Renault-Arbeiter schilderte Jahre später seine Erfahrungen: „Es war eine Revolution, ja, eine Revolution, und wir dachten, die KP würde sie anführen. Aber sie wollte gar keine Revolution. Als sie nur Neuwahlen forderte, wussten wir nicht, was wir tun sollten, es herrschte große Unsicherheit.“ Viele versuchten noch, sich der Politik der KP-Spitze entgegenzustellen. Aber es ging über ihre Kräfte, mitten im Kampf eine Alternative aufzubauen. Die wochenlange Anspannung erschöpfte viele, die Haltung der KP entmutigte sie.

Während die revolutionäre Bewegung auf der Stelle trat, agierte die Reaktion entschlossen. Panzer formierten sich um Paris. Eine Demonstration reaktionärer Kräfte brachte eine Million auf die Straße. Am 4. Juni stürmte die Polizei das besetzte Flint-Werk, an mehreren Orte kam es zu verzweifelten Kämpfen mit der Polizei. Bei Renault wurde erst am 15. Juni wieder gearbeitet, am 19. Juni befanden sich landesweit immerhin noch 150.000 Beschäftigte im Streik, doch die Bewegung hatte verloren.

Das kurze Zeitfenster, in dem die Macht auf der Straße gelegen hatte, war geschlossen und die alte Elite auf der Rückkehr zur Macht. Die Streikbewegung war zwar nicht gleich zu Ende, aber es wurde deutlich, dass de Gaulle das Zepter wieder in der Hand hielt.

Zuckerbrot und Peitsche

Die Niederlage auf der Straße und in den Betrieben führte zu Enttäuschung und der Niederlage an der Wahlurne. Bei der Wahl am 23. Juni erhielten die Konservativen (UDR) 44 Prozent der Stimmen und 358 von 485 Sitzen. Die „Sozialisten“ (FGDS) verloren 61 und die KP verlor 39 Sitze. Während der Vorbereitung auf die Wahlen hatte die Repression weiter zugenommen. Elf linke Organisationen wurden verboten, die Uni Sorbonne und das Odeon geräumt. Es kam zu drei Toten, darunter ein 17-jähriger Schüler, der auf der Flucht vor der Polizei in die Seine sprang und ertrank.

Trotzdem mussten sich die Herrschenden den Sieg teuer erkaufen. Der Mindestlohn stieg um 35 Prozent, für die Beschäftigten in der Landwirtschaft sogar um 65 Prozent. Durchschnittlich stiegen die Löhne um zehn Prozent. Gewerkschaftliche Vertretungen in den Betrieben mussten zugelassen werden. Eine schrittweise Reduzierung der Arbeitszeit auf die 40-Stunden-Woche wurde vereinbart, eine Verbesserung der Gesundheitsversorgung sowie 50 Prozent Lohnnachzahlung für die Streiktage. In Branchen- und Betriebsverhandlungen wurden oft noch deutlich mehr erreicht.

Das zeigt einmal mehr, dass größere Verbesserungen oft das Nebenprodukt von Revolutionen sind. Die Herrschenden sind dann, kurzfristig, zu weitreichenden Zugeständnissen bereit, wenn sie mit einer revolutionären Bewegung konfrontiert sind.

„Das ist nicht das Ende“

Heute werden in Frankreich viele Errungenschaften, die 1968 erkämpft wurden, wieder angegriffen. Das ist auch der Grund, warum Sarkozy und Co. versuchen, die Bewegung von ’68 zu diskreditieren. Vor allem wird versucht, im geschichtlichen Rückblick die Bewegung auf rein betriebliche Streiks einerseits und Studentenproteste andererseits zu reduzieren. Die Erfahrung, dass Jugendliche und Beschäftigte gemeinsam kämpfen können und dass ein Generalstreik wie damals die Machtfrage stellen kann (diese allerdings nicht beantwortet), soll in Vergessenheit geraten. Dass das Rezept gemeinsamer Kämpfe auch heute noch funktioniert, haben Studierende und Beschäftigte 2006 im erfolgreichen Kampf gegen das Ersteinstellungsgesetz CPE gezeigt.

Damit in Zukunft keine weiteren Chancen verpasst werden, den Kapitalismus zu stürzen, ist eine marxistische Organisation nötig, die im schnellen Rhythmus der Ereignisse in einer revolutionären Situation in der Lage ist, die richtigen Vorschläge zu machen. Wir müssen uns heute daran machen, eine solche aufzubauen.

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