Ein Brief an eine Versammlung von Arbeiterinnen in Moskau

Trotzkis Botschaft an eine Versammlung von Arbeiterinnen in Moskau wurde am 28. November 1923 in der Prawda abgedruckt. Sie wurde ins Englische übersetzt von George Saunders und am 3o. März in der Intercontinental Press veröffentlicht.
Leo Trotzki

Es tut mir außerordentlich Leid, dass eine hartnäckige Erkältung mich daran hindert, an Eurer Versammlung, die die fünfjährige korrekte und intensive Arbeit, der Partei unter den Frauen feiert, teilzunehmen. So sende ich schriftliche Grüße an die Teilnehmerinnen der Veranstaltung - und durch sie - an die Arbeiterinnen und Bauernfrauen, die bereits durch die Parteiarbeit überzeugt wurden, und an die, die es morgen sein werden.

Das Problem der Frauenemanzipation - sowohl materiell als auch geistig - ist eng verbunden mit dem der Umwandlung des Familienlebens. Es ist nötig, die Barrieren der engen und erstickenden Käfige, in denen die bestehende Familienstruktur die Frau gefangenhält und sie so zur Sklavin, oder gar zu einem Lasttier, macht, zu beseitigen. Das kann nur geleistet werden durch die Organisierung gemeinschaftlicher Ernährung und Kindererziehung.

Der Weg dahin ist lang: materielle Mittel sind nötig; ebenso Willensstärke, Wissen und Einsatz.

Es gibt zwei Möglichkeiten zur Umgestaltung des alltäglichen Familienlebens: von oben und von unten. "Von unten", das heißt die Fähigkeiten und Anstrengungen der einzelnen Familien zusammenfassen, indem größere Familien mit gemeinsamen Küchen, Wäschereien etc. gegründet werden. "Von oben" meint die Initiativen des Staates oder der lokalen Sowjets, die darin bestehen, dass ArbeiterInnenwohngemeinschaften, gemeinschaftliche Lokale, Wäschereien, Kindergärten etc. gebaut werden. In einem ArbeiterInnen- und BäuerInnenstaat steht das eine dem anderen nicht entgegen; das eine muss das andere ergänzen. Die Anstrengung des Staates wäre wertlos ohne die eigenständige Mithilfe der ArbeiterInnenfamilien selbst beim Aufbau eines neuen Lebens; aber auch der Einsatz größter Energien einzelner ArbeiterInnenfamilien wäre ohne die Führung und Hilfe der lokalen Sowjets und des Staates ebenso erfolglos. Die Arbeit muss gleichzeitig von oben und unten vorangetrieben werden.

Ein Hindernis bei dieser Aufgabe - und auch bei anderen - ist der Mangel an materiellen Mitteln. Aber das bedeutet nur, dass der Erfolg sich nicht so schnell, wie wir es wünschen, einstellt. Es wäre jedoch absolut unzulässig, würden wir aufgrund der Armut das Problem der neuen Lebensgestaltung beiseite schieben.

Trägheit und blinde Gewohnheit sind leider noch sehr mächtig. Und nirgendwo hat blinde, dumpfe Gewohnheit noch solch starken Einfluss wie in dem düsteren, abgeschlossenen Leben innerhalb der Familie. Und wer hat als erste die Pflicht, gegen die unzivilisierten Familienbräuche zu kämpfen, wenn nicht die Revolutionärin? Damit ist nicht gesagt, dass all die fortschrittlichen Arbeiter der Verantwortung enthoben sind, an der Umgestaltung der wirtschaftlichen Struktur des Familienlebens, vor allem der Ernährung und der Kindererziehung, aktiv mitzuwirken. Aber die, die am energischsten und beharrlichsten für das Neue kämpfen, sind die, die am meisten unter dem Alten leiden. Und unter den bestehenden Familienverhältnissen leidet die Frau und Mutter am meisten.

Darum sollte die proletarische Kommunistin - und, ihr nachfolgend, jede bewusst gewordene Frau - einen Großteil ihrer Kraft und Aufmerksamkeit der Umgestaltung des alltäglichen Lebens widmen. Gerade weil unsere ökonomische und kulturelle Rückständigkeit viele Probleme schafft und wir nur langsam vorwärts gehen können, ist es nötig, dass durch die öffentliche Meinung aller Arbeiterinnen Druck ausgeübt wird, dass alles, was zur Zeit in unseren Kräften steht, auch wirklich getan wird.

Nur so können wir den rückständigsten und unbewusstesten Arbeiterfrauen und auch den Bauernfrauen den Weg zum Sozialismus zeigen.

Ich wünsche Euch Erfolg in Eurer Arbeit.

L. Trotzki

Mit kommunistischen Grüßen