Chinas Massenaufstand – Wohin geht’s?

Die größten Proteste seit der Demokratiebewegung von 1989
Li Yong and Vincent Kolo, chinaworker.info (ISA in China, Hong Kong und Taiwan)

Dieser Artikel erschein zuerst am 30. November 2022 auf der Website der ISA in China, Hong Kong und Taiwan - chinaworker.info

Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts ist die Polizei in chinesischen Städten in Massen unterwegs, um die jüngste Protestwelle auszumerzen. Die Proteste an den Universitäten gehen weiter. Am kommenden Wochenende könnte es zu neuen Straßenprotesten in Städten im ganzen Land kommen. Die Demonstrationen, die in den letzten Tagen über China hinwegfegten, stellen die größte Herausforderung seit dreißig Jahren für die Diktatur der so genannten Kommunistischen Partei (KPCh) und ihren neu gekrönten “Kaiser” Xi Jinping dar.

Nach drei Jahren erstickender und unsagbar brutaler “Zero-Covid”-Kontrollen und Lockdowns sind die Menschen am Ende ihrer Kräfte. Auch wenn “Zero Covid” und der tödliche Brand in Xinjiang am Donnerstag der Auslöser waren, so ist die aktuelle Protestwelle doch viel mehr als eine “Anti-Lockdown”-Bewegung, so wichtig dieses Thema auch ist.

Bei Studierendenprotesten an mehr als 80 Universitäten im ganzen Land wurde “Freiheit oder Tod” gerufen – ein Slogan aus dem Kampf von 1989, was den meisten chinesischen Jugendlichen überhaupt nicht bewusst ist. Die Forderungen nach demokratischen Rechten und einem Ende der Diktatur haben sich mit der Empörung über das wahnwitzige, unwissenschaftliche Beharren der Diktatur auf Ausrottung eines unausrottbaren Virus um jeden Preis verbunden.

In der vergangenen Woche haben die täglichen Covid-Infektionsraten einen Rekordwert von über 40.000 erreicht. Das ist zwar immer noch wenig im Vergleich zu den Zahlen in vielen westlichen Ländern auf dem Höhepunkt der Pandemie, aber die Regierung reagiert mit immer mehr Lockdowns, weil sie sich selbst in die Enge getrieben hat und darauf besteht, dass “Zero Covid” erfolgreich sein wird.

Die Diktatur hat blindlings eine aussichtslose Strategie verfolgt, die durch die persönliche Rolle Xi Jinpings noch verstärkt wurde: Er hat a) “Zero Covid” als Waffe im internen Machtkampf der KPCh eingesetzt, indem er die Regionalregierungen zur “Loyalität” zwang, und b) er hat die Politik dazu genutzt, die Überwachungs- und Kontrollmöglichkeiten der Diktatur massiv auszubauen.

Xi´s “Zero Covid”-Strategie hat das Impfen heruntergespielt und sich stattdessen auf intensive Massentests, die Rückverfolgung von Kontaktpersonen, Quarantäne und brutal durchgesetzte Lockdowns konzentriert. Eine Million Chines*innen – darunter auch die Familie eines der Autoren – befinden sich derzeit in Quarantänezentren (fancang), die allgemein als “schlimmer als Gefängnisse” beschrieben werden. Eine Rekordzahl von fünfzig Städten, in denen etwa ein Viertel der chinesischen Bevölkerung lebt, befindet sich derzeit in irgendeiner Form von Quarantäne, so Nomura, das wöchentlich aktuelle Informationen liefert.

Eine jetzige, grundlegende Änderung, eine Hinwendung zu “Koexistenz mit Covid”, wie sie von den meisten anderen Regierungen praktiziert wird, könnte Chinas unterfinanzierten Gesundheitssektor überfordern und zu Hunderttausenden Todesfällen führen. Eine kürzlich von Bloomberg Intelligence durchgeführte Studie hat gezeigt, dass China nur über vier Intensivbetten pro 100.000 Einwohner verfügt, was weit unter den Raten in den Industrieländern liegt. Eine Kehrtwende wäre auch eine demütigende persönliche Niederlage für Xi Jinping, da die aktuelle Politik als sein politisches Flaggschiff angesehen wird. Daher befindet sich der Diktator in einem “politischen Zugzwang”, wie die Bloomberg-Kolumnistin Clara Ferreira Marques es ausdrückte, in dem jede Option die Situation verschlimmert.

Warnzeichen

Die Anzeichen für eine bevorstehende soziale Explosion waren eindeutig. Der Massenausbruch von Tausenden von Arbeiter*innen der weltgrößten iPhone-Fabrik (Foxconn) in Zhengzhou im Oktober hatte eine enorme Auswirkung auf das Massenbewusstsein, da diese Szenen trotz aller Bemühungen der Zensoren in den sozialen Medien weithin sichtbar waren. Die Stadt Urumqi, in der die jüngste Welle beispielloser Proteste ihren Anfang nahm, ist seit über 100 Tagen abgeriegelt, wobei es – wie bei fast allen Lockdowns – zu Engpässen bei Lebensmitteln und Medikamenten kam.

Die Lockdowns haben zu einer Krise der psychischen Gesundheit von unvorstellbarem Ausmaß geführt. Bereits im Jahr 2020 ergab eine landesweite Umfrage, dass fast 35 Prozent der Befragten unter psychischen Problemen infolge der Pandemie litten. In diesem Jahr hat sich das Gesundheitsministerium geweigert, Selbstmordstatistiken zu veröffentlichen.

Viele der Universitäten, an denen spontane Proteste gegen die Lockdowns und die Regierung ausgebrochen sind, haben mehrere Quarantäne-Wellen erlebt, bei denen die Studierenden wochenlang in ihren Wohnheimen festsaßen und sich darüber beklagten, dass es an allem mangelte, auch an Hygieneartikeln. Als die Fußballweltmeisterschaft in Katar angepfiffen wurde, war die Wirkung in China schockierend. Der Anblick der riesigen Menschenmassen ohne Masken oder sichtbare Covid-Beschränkungen veranlasste einige zu der Frage: “Ist China auf demselben Planeten?”

Ein Genosse in China beschrieb die Situation wie folgt: “Soweit ich es in meinem sozialen Umfeld überblicken kann, stehen fast alle, abgesehen von einigen Bürokrat*innen und jungen Beamt*innen, die sich überhaupt nicht äußern, fest an der Seite der Demonstrierenden – einschließlich der üblichen ‘schweigenden Mehrheit’.”

“Das Bemerkenswerte an diesem Sturm ist, dass die Unzufriedenheit mit dem Xi-Regime in den Vordergrund getreten ist, wobei die Öffentlichkeit ihre Wut nicht mehr nur auf lokale Beamte oder andere Mitglieder des inneren Kreises des Regimes beschränkt, sondern sogar auf Xi selbst.”

Zehn Tote in Urumqi

Am 26. und 27. November entlud sich schließlich der aufgestaute öffentliche Zorn über die “Zero Covid”-Politik, als sich Menschen im ganzen Land versammelten, um die Aufhebung der Blockade zu fordern, und es sogar auf sich nahmen, die Zäune und Testeinrichtungen zu demontieren und zu zerstören, wobei sie Beamt*innen der Pandemieprävention und Polizist*innen angriffen, die ihnen im Weg standen. Bis zum 27. November protestierten Student*innen von mindestens 85 Universitäten im ganzen Land, wobei die Zahl der Teilnehmenden von Dutzenden bis zu Hunderten reichte.

Auslöser des Vorfalls war ein Brand am 24. November in einem Wohnblock in einem uigurischen Viertel von Urumqi, der Hauptstadt der Provinz Xinjiang. Urumqi ist eine Stadt, die zu 80 Prozent von Han-Chines*innen bewohnt wird. Dies ist von großer Bedeutung, wenn man die spontane Einigkeit zwischen Han und Uigur*innen sieht, trotz der jahrelangen bösartigen rassistischen Propaganda der KPCh gegen die Uigur*innen als “Terrorist*innen”.

Das Feuer selbst war nicht groß, aber die Feuerwehr konnte wegen der Absperrungen, die zur Durchsetzung der Quarantäne errichtet wurden, nicht rechtzeitig eintreffen, um das Feuer zu löschen. Es wird vermutet, dass die Opfer nicht fliehen konnten, weil ihre Türen und Fluchtwege verschlossen waren. Videoaufnahmen von Menschen, die schreiend die Öffnung ihrer Türen forderten, wurden im Internet verbreitet, bevor sie von der Zensur gelöscht wurden.

Zehn Menschen, allesamt Uigur*innen, kamen bei dem Brand ums Leben. Einige Online-Berichte deuten jedoch darauf hin, dass die Zahl der Todesopfer höher ist. Später entzogen sich Beamt*innen der KPCh ihrer Verantwortung, indem sie leugneten, dass die Ausgänge blockiert waren, und den Bewohner*innen vorwarfen, die Fluchtwege nicht zu kennen. Dies schürte den Zorn der Öffentlichkeit noch weiter, und in dieser Nacht durchbrach eine große Zahl von Urumqi-Bürger*innen, sowohl Han als auch Uigur*innen, die Pandemie-Sperren und marschierte zu den Büros der Stadtregierung, um zu protestieren.

Die Saat des Aufruhrs ist in die Herzen der Menschen gepflanzt worden, als Ergebnis der immer wiederkehrenden kollateralen Katastrophen mit Todesfolge.

Dazu gehören das Busunglück in der Provinz Guizhou, bei dem 27 Passagier*innen starben, die zwangsweise in ein abgelegenes Quarantänezentrum gebracht wurden, und zahllose Tragödien von Menschen, die starben, weil ihnen ohne negativen PCR-Test die Aufnahme in ein Krankenhaus verweigert wurde.

In den letzten Wochen haben Menschen in Orten wie Zhengzhou und Guangzhou die Pandemieabsperrungen durchbrochen und sich der Polizei entgegengestellt. In Chongqing erregte ein Video junger Menschen, die vor den Polizeikontrollen “Freiheit oder Tod” riefen, Aufmerksamkeit. Die Proteste in Urumqi lösten eine Welle aus, die sich innerhalb von zwei Tagen über das ganze Land ausbreitete und die Wut und Unzufriedenheit ausdrückte, die sich durch die unmenschliche “Zero-Covid-Politik” aufgestaut hat, aber noch tiefer geht. Xi Jinpings rigorose Pandemiepolitik hat auch Millionen von Menschen die Realität einer erdrückenden, brutal repressiven Diktatur vor Augen geführt. Sie hat gezeigt, wie weit das Regime bereit ist, mit Repression und Überwachung zu gehen.

“Nieder mit der Kommunistischen Partei!”

In der Nacht zum 26. November durchbrachen die Menschen in Shanghai die Pandemie-Absperrung und marschierten die nach der Stadt Urumqi benannte Wulumuqi Straße entlang, um den Opfern des Brandes zu gedenken und ihrer Wut Luft zu machen. Tage später entfernte die Polizei alle Straßenschilder für die Wulumuqi Straße als Teil ihrer Maßnahmen, um weitere Proteste zu verhindern. Die Menge in Shanghai skandierte “Nieder mit der Kommunistischen Partei! Stürzt Xi Jinping!” Sie blockierten auch Polizeifahrzeuge und kämpften für die Freilassung von Demonstrant*innen, die von der Polizei festgenommen worden waren. Die Demonstrationen wurden den ganzen Tag und Abend des 27. November fortgesetzt, und die Menschen forderten die Freilassung der verhafteten Demonstrant*innen. Neben Shanghai kam es auch in Beijing, Nanjing, Guangzhou, Chengdu, Wuhan und anderen Städten zu großen Protesten.

Eine Bewegung solchen Ausmaßes hat China seit 1989 nicht erlebt. Die aktuellen Proteste haben dieses Niveau noch nicht erreicht, aber wir werden die Entwicklung schon noch sehen. Die wirtschaftliche und soziale Krise Chinas ist in vielerlei Hinsicht ernster als 1989. Die aktuellen Proteste werden von vielen sozialen Schichten getragen: Wanderarbeiter*innen wie in Zhengzhou und Guangzhou, Student*innen, ethnische Minderheiten wie die Uiguren und viele junge Frauen, die an vorderster Front der Demonstrationen stehen. Das sich entwickelnde politische Bewusstsein hat viele verschiedene Elemente, aber es ist bereits über eine Bewegung gegen die Lockdowns hinausgewachsen, hin zu politischen Forderungen nach Demokratie, gegen Unterdrückung, für ein Ende der Diktatur und für die Absetzung von Xi Jinping.

In Urumqi machte die lokale Regierung nach dem Brand sofort eine Kehrtwende und verkündete, dass sich der Covid-Ausbruch in der Stadt “geklärt” habe und die Kontrollen daher gelockert würden. Doch die Menschen gingen weiter auf die Straße, um zu protestieren. Viele andere Regierungen haben eine ähnliche Haltung eingenommen, indem sie eilig ankündigten, die Abriegelungen aufzuheben und einige kosmetische Änderungen vorzunehmen.

Dies ist die klassische KPCh-Strategie zur Entschärfung von Protesten: Eine Mischung aus anfänglichem “Zuckerbrot”, d.h. Zugeständnissen, und anschließender “Peitsche”, d. h. Repression und Verhaftungen. In den sozialen Medien wurde weithin Skepsis darüber geäußert, dass der Virus wie in Urumqi sofort und auf wundersame Weise verschwunden sei. Die KPCh-Diktatur ist berüchtigt dafür, “falsche” Versprechen und Zugeständnisse zu machen. Sie hat zahllose Umweltproteste abgewiegelt, indem sie ankündigte, die umweltverschmutzenden Industrien zu schließen, nur um sie dann weiterlaufen zu lassen, sobald die unmittelbaren Unruhen entschärft waren. In Wukan, in der Provinz Guangdong, versprachen die KPCh-Behörden begrenzte Kommunalwahlen, um die Proteste gegen Landraub und Korruption zu entschärfen. Die Wahlen wurden gefälscht, und dann begann das harte Durchgreifen, und viele der Protestführer*innen sind jetzt im Gefängnis oder im Exil. “Sie gaben uns einen Scheck über eine Million Dollar”, sagte ein Wukan-Aktivist später, “aber er platzte”.

Bei dieser Protestwelle haben Han-Chines*innen und Uigur*innen Solidarität gezeigt und die Spaltungstaktik der KPCh überwunden. In Urumqi gab es herzerwärmende Szenen, in denen Han-Chinesen von vorbeigehend*innen Uiguren beklatscht und umarmt wurden, als sie auf den Straßen Transparente zum Gedenken an die Opfer des Brandes vom Donnerstag aufhängten. Einige Medienkommentator*innen in China bezeichneten diese Situation als beispiellos seit dem Vorfall vom 5. Juli (tödliche ethnische Unruhen und Pogrome) in Xinjiang im Jahr 2009.

Welche Forderungen?

Auf dem Universitätsgelände schlossen sich zahlreiche Studenten der Solidarität an. An der Tsinghua-Universität in Beijing hielten am 27. November Hunderte von Student*innen aus Protest leere Papierbögen hoch und skandierten “Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit”, “Es lebe das Proletariat”, und sangen außerdem die Internationale.

Im Gegensatz zu früheren Protesten zeigt die aktuelle Welle eine Verlagerung hin zu einer expliziteren Opposition gegen die Diktatur, mit der Verbreitung von sonst seltenen Slogans direkt gegen die KPCh und Xi Jinping. Auch dies ist das erste Mal seit 1989. Der Vorfall auf der Sitong-Brücke im Oktober, als ein einzelner Demonstrant, Peng Lifa, im Zentrum Beijings Transparente mit Slogans gegen die Diktatur aufhängte, hat viele der Forderungen, die heute erhoben werden, eindeutig beeinflusst. Während in den meisten Ländern ein Ein-Personen-Protest keine so große Wirkung hätte, war die Wirkung in China, wo alle unabhängigen Organisationen, Politik verboten sind und es keine demokratische Rechte gibt, elektrisierend.

In unserer Stellungnahme zum Sitong-Brücken-Protest (“New Tank Man protest gets huge response”, chinaworker.info, 17. Oktober) erkannten wir diese Wirkung und lobten viele der Bannerslogans, erklärten aber gleichzeitig, dass dies kein ausreichend vollständiges oder klares Programm für den Aufbau einer Bewegung gegen die KPCh-Herrschaft sei. Einige der Forderungen – die Unterstützung von “Reformen” – verstärken leider die Illusion, dass die Diktatur oder einige ihrer Elitefraktionen reformierbar seien und demokratische Zugeständnisse machen könnte.

Die KPCh hat immer wieder gezeigt, dass das ein Trugschluss ist. Das einstige Versprechen der KPCh, begrenzte demokratische Rechte in Hongkong zuzulassen, wurde zurückgezogen und zerschlagen. Wenn die KPCh eine verstümmelte und begrenzte Form der bürgerlichen “Demokratie” in der relativ separaten Region Hongkong nicht tolerieren kann, so kann sie dies sicherlich auch nicht in China tun.

Marxist*innen und chinaworker.info haben in unseren Artikeln gezeigt, dass kein autokratisches System in der Geschichte jemals aus seiner Existenz heraus “reformiert” worden ist. Massenkämpfe, meist angeführt von einer Streikwelle und entschlossenen Interventionen der Arbeiter*innenbewegung, waren immer die wichtigsten Zutaten für eine erfolgreiche Bewegung, um ein diktatorisches Regime zu besiegen und demokratische Rechte zu erringen. Die Niederlage und anschließende Unterdrückung der Hongkong-Bewegung im Jahr 2019 hat gezeigt, dass bei allen heldenhaften Anstrengungen der Bevölkerung es in einer Diktatur, die von Natur aus die volle Kontrolle behalten muss, keine Möglichkeit für “Reformen” gibt, keine Begegnung auf halbem Weg.

Die massenhafte Wut gegen die ” Zero Covid”-Politik, die mit Xi Jinping persönlich identifiziert wird, hat die Stimmung gegen die Diktatur weiter angeheizt. Der Ausbruch der Proteste ist zweifellos eine Demütigung und ein schwerer Rückschlag für Xi, der gerade seine dritte Amtszeit angetreten hat. Zum Zeitpunkt von Xis Krönung auf dem 20. Parteitag der KPCh sagten wir voraus: “Wie auch immer das Ergebnis ausfällt, es wird die Perspektiven für das KPCh-Regime, das auf den größten aller Stürme zusteuert, nicht grundlegend ändern” (chinaworker.info, Xi Jinping’s 20th Congress caps five years of political disasters, 17. Oktober).

Es gibt viele Ähnlichkeiten zwischen der heutigen Situation in China und dem Aufstand im Iran. In beiden Fällen löste ein brutaler Vorfall eine landesweite Protestbewegung aus, in der politische Forderungen gegen das gesamte Regime in den Vordergrund traten. Beeindruckend war auch die Einigkeit zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen, die instinktiv die bösartige rassistische und nationalistische Propaganda überwunden haben. Auch in Hongkong brach 2019 die Massenbewegung wegen eines neuen Auslieferungsgesetzes aus, doch innerhalb weniger Wochen wurde dieses Thema von einer Welle von Straßenprotesten nach der nächsten überholt, die ihre Forderungen auf demokratische Rechte und die Beendigung der staatlichen Repression konzentrierte.

Lehren von Hongkong

Ein wichtiges Merkmal der heutigen Proteste in China sind die vielen öffentlichen Äußerungen des Bedauerns, dass “wir Hongkong hätten unterstützen sollen”. Dies zeigt, dass das Bewusstsein zu wachsen beginnt. Damit der Kampf in China vorankommt, sind entscheidende Lehren aus den Ursachen der Niederlage der Hongkong-Bewegung zu ziehen. Es mangelte ihr nicht an Teilnehmer*innenzahlen oder Militanz. Aber es fehlte an Massenorganisationen, insbesondere an Arbeiter*innenorganisationen, die den Kampf durch viele unerwartete Wendungen, Angriffe der Regierung und Fehlinformationen hätte aufrechterhalten können. Sie war auf eine einzige Stadt beschränkt und konnte daher nicht darauf hoffen, die KPCh-Diktatur im Alleingang zu besiegen. Die Dominanz der liberalen Ideologie im Hongkonger Kampf, die bankrotte Kompromissstrategie der pan-demokratischen Oppositionsparteien und die noch extremere, nach innen gerichtete Mentalität der Hongkonger Lokalisten wurden zu einem selbstverschuldeten Hindernis.

Eine Anti-Organisations-Philosophie, die sich nur auf Spontaneität und Online-Plattformen stützt, hat den Kampf in Hongkong ebenfalls behindert, denn wenn man einem rücksichtslosen Staat mit riesigen Ressourcen gegenübersteht, braucht man Planung, Strategie, die Entwicklung eines klaren Programms, ein Verständnis für eine alternative Gesellschaft und ein alternatives Regierungssystem. Und das erfordert Organisation: Arbeiter*innen- und Studierendengewerkschaften und Protestkomitees an der Basis. Entscheidend ist das Vorhandensein einer Partei der Arbeiter*innenklasse mit einem klaren Programm für demokratische Rechte und Sozialismus.

Letzteres würde zeigen, dass die KPCh-Diktatur untrennbar mit dem chinesischen Kapitalismus verbunden ist. Sie ist der größte Industrie- und Finanzkonzern der Welt und verfügt über eine eigene Armee und Polizei. Illusionen in die kapitalistische Demokratie, die in der Regel und vielleicht unvermeidlich in einem antiautoritären Kampf aufkommen, muss mit klaren Warnungen begegnet werden – wie wir es während des Kampfes in Hongkong getan haben -, dass der einzige Weg, demokratische Rechte zu erlangen, darin besteht, entschieden mit dem Kapitalismus zu brechen, dem System, auf dem die KPCh-Diktatur ruht.

Xi Jinping ist wie üblich angesichts der tiefen Krise aus der Öffentlichkeit verschwunden, aber wir dürfen die Entschlossenheit und Grausamkeit der kaltblütigen Unterdrückung durch die KPCh nicht unterschätzen. Die KPCh wird die Forderungen der Massen nicht leichtfertig akzeptieren, nicht einmal Teilforderungen nach einer Änderung der Pandemiepolitik, aus Angst, dass dies ihre Moral stärken und eine Kettenreaktion auslösen könnte, die zu weiteren Massenkämpfen führen würde. Noch viel weniger wird die KPCh selbst begrenzten demokratischen Reformen zustimmen, die im Kontext Chinas, seiner schieren Größe und seiner tiefgreifenden sozialen und wirtschaftlichen Probleme die Diktatur sprengen würden.

Die wichtigste soziale Kraft ist in China wie überall die Arbeiter*innenklasse, die bereits ein bedeutender Faktor bei den Protesten ist, aber über keinerlei Organisationen verfügt, nicht einmal über Gewerkschaften, um für ihre Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Die Arbeiter*innenklasse ist, indem sie sich zunächst am Ort der Produktion und dann in der Gesellschaft insgesamt organisiert, die natürliche und in der Tat einzige konsequente Triebkraft einer erfolgreichen Bewegung gegen Unterdrückung, Diktatur und Kapitalismus.

Um sich an die Spitze der gegenwärtigen Protestwelle zu stellen, müssen die Arbeiter*innen den Aufruf zu einer Streikbewegung erheben und auch die Studierenden auffordern, diesem Beispiel zu folgen. Ein Generalstreik wäre die stärkste Waffe gegen die Diktatur von Xi, wenn er mit der Organisierung durch Streikkomitees, neuen unabhängige Gewerkschaften und einer neue Arbeiter*innenpartei des demokratischen Sozialismus verbunden wäre.

Wir fordern:

  • Aktive Solidarität mit der Massenrevolte in China – Aufbau weiterer Proteste.
  • Keine weiteren Lockdowns mehr, Schluss mit dem “Zero Covid”-Irrsinn.
  • Eskalation der Bewegung hin zu Studierenden- und Arbeiter*innenstreiks.
  • Massive Investitionen für den Aufbau und die Ausstattung des Gesundheitssektors, Intensivierung des Impfprogramms und sofortige Aufhebung des Verbots ausländischer mRNA-Impfstoffe.
  • Überführung der Pharmakonzerne und der superprofitablen Covid-Firmen in demokratisches öffentliches Eigentum ohne Entschädigung, Nutzung ihrer Ressourcen im öffentlichen Krankenhaussystem.
  • Nein zu “996” [Arbeitstag von 9 Uhr morgens bis 9 Uhr abends, 6 Tage die Woche]. Junge Menschen und Hochschulabsolvent*innen wollen gute Arbeitsplätze und Gehälter. Erhöhung der Mindestlöhne, Verstaatlichung alle Konzerne, die ihre Mitarbeiter*innen nicht bezahlen.
  • Aufbau eines starken Sozialsystems, anständige Renten, Kranken- und Arbeitslosenversicherung für alle.
  • Unverzügliche und uneingeschränkte demokratische Rechte: Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Abschaffung der Zensur, Versammlungsfreiheit, Streikrecht, Recht auf Organisation.
  • Aufbau unabhängiger und demokratischer Arbeiter*innen- und Studierendengewerkschaften.
  • Bildung von Untergrundkomitees zur Koordinierung, Strategieentwicklung und zum Aufbau des Massenkampfes. Nutzt die sozialen Medien, aber erkennt deren Grenzen –  die Niederlage der rein spontanen Bewegung in Hongkong zeigt, eine echte Organisation ist notwendig.
  • Freilassung der politischen Gefangenen.
  • Abschaffung des Gesetzes über die nationale Sicherheit. Abschaffung der Gefangenenlager. Demokratische Rechte für Hongkong, Tibet und Xinjiang, einschließlich des Rechts auf Selbstbestimmung.
  • Gemeinsamer Kampf der Arbeiter*innenklasse in China, Hongkong, Xinjiang und Taiwan gegen Nationalismus und Kapitalismus.
  • Keine Illusionen in die Selbstreformierung des KPCh-Regimes. Nieder mit Xi Jinping und der Diktatur. Nieder mit der staatlichen Repression. Auflösung der Geheimpolizei.
  • Für eine, in allgemeinen Wahlen gewählte, revolutionäre Volksversammlung mit dem Mandat, eine echte sozialistische Politik einzuführen, um den Reichtum der Milliardäre und roten Kapitalist*innen zu beschlagnahmen.
  • Für den internationalen Sozialismus. Kein Kalter Krieg, sondern Klassenkampf gegen die Kapitalist*innen in Ost und West.

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