Di 12.12.2006
Nachdem der Tod des früheren chilenischen Diktators Augusto Pinchets bekannt wurde, kam es im ganzen Land zu spontanen Jubelfeiern. Laut Spiegel Online vom 11. Dezember sollen in Santiago de Chile über 5.000 Menschen auf die Straße gegangen sein. Auch in einer Reihe weiterer Städte demonstrierten Hunderte. In einigen Arbeiterstadtteilen und Armenvierteln organisierten AnwohnerInnen Freudenfeuer. Auf den Demonstrationen wurden Slogans skandiert, Transparente getragen, Fahnen geschwenkt. Immer wieder erklang der Ruf: „Es ist Karneval! Der General ist tot!“
Als die Menge in Santiago de Chile entschied, zum Präsidentenpalast zu ziehen, trat der Polizeiapparat in Aktion. Wasserwerfer und Tränengas wurden gegen fröhliche DemonstrantInnen eingesetzt.
Unterdessen wurde der Sarg heimlich aus dem Krankenhaus in der Hauptstadt, wo Pinochet im Alter von 91 Jahren verstorben war, abtransportiert. Aus Sorge der staatlichen Behörden um einen Aufruhr bei dem Klinikum wurde der Sarg in einem grauen Lieferwagen fortgeschafft.
Der Schlächter von 1973
Augusto Pinochet hatte am 11. September 1973 gegen den gewählten Präsidenten und Sozialisten Salvador Allende geputscht. Pinochet ließ Soldaten Betriebe stürmen, Panzer auffahren, Tausende verhaften und allein in den ersten Tagen des Militärputsches Hunderte erschießen.
1970 war das Parteienbündnis Unidad Popular von Sozialistischer Partei, Kommunistischer Partei und anderen an die Regierung gekommen. Die Arbeiterbewegung erwartete den Aufbau des Sozialismus in Chile. Ein Großteil der Betriebe wurde verstaatlicht und soziale Reformen durchgeführt. Die arbeitende Bevölkerung ergriff Initiativen, sich in die Diskussions- und Entscheidungsprozesse einzubringen, vielerorts wurden Komitees von unten gebildet. Tragischerweise tastete Allende damals nicht den kapitalistischen Staatsapparat an. Die Massen fürchteten schon vor dem September 1973 einen Schlag des Militärs. Auf einer Großdemo forderten sie, Waffen an die ArbeiterInnen und an die verarmten Bauern zu geben. Allende hatte jedoch die Illusion, eine sozialistische Veränderung Schritt für Schritt über Reformen herbeizuführen – bis der bürgerliche Staat – mit der Unterstützung des US-Imperialismus – zuschlug. Pinochets Putsch war vom CIA maßgeblich mit vorbereitet worden.
Neoliberalismus
Nach der brutalen Machtübernahme Pinochets wurde eine Militärdiktatur errichtet, Tausende verfolgt und umgebracht. Bis 1990 dauerte die Herrschaft Pinochets an. Der Reallohn brach aufgrund der Repressalien und einer Politik neoliberalen Kahlschlags im Schnitt um 25 Prozent ein. Die frühere britische Premierministerin Margaret Thatcher zeigte sich auf die Nachricht des Todes von Pinochet hin „tief betrübt“. Kein Wunder, waren doch Pinochet, Thatcher und Reagan sich einig, dass die kapitalistische Weltwirtschaftskrise Mitte der siebziger Jahre für die Kapitalistenklassen nur zu überwinden ist, wenn Privatisierung, Neoliberalismus und eine entscheidende Schwächung der Arbeiterbewegung erzielt werden. In Großbritannien und in den USA wurden natürlich – anders als unter Pinochet in Chile – keine Diktaturen errichtet. Trotzdem einigte sie das Bestreben, keynesianischen Maßnahmen den Rücken zuzukehren und Schritte zu ergreifen, die heute das Etikett „Neoliberalismus“ erhalten. Übrigens galt der Ökonom Milton Friedman sowohl in Chile, als auch in Großbritannien und in den USA als geistiger Vater dieses Kurses.
Während Friedman, der ebenfalls kürzlich verstarb, in den bürgerlichen Nachrufen überschwenglich geehrt wurde, ist man bei Pinochet natürlich etwas vorsichtiger. In Chile soll er aber als ehemaliger Oberbefehlshaber der Armee trotzdem mit militärischen Ehren beigesetzt werden. In den Kasernen ließ man bereits Halbmast flaggen.
Klassenjustiz
Pinochet starb nicht in einem Gefängnis, sondern in einem Krankenhaus, in dem die besten Ärzte des Landes sich um ihn kümmerten. 16 Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur, zum Zeitpunkt seines Todes, war er noch immer nicht verurteilt und inhaftiert worden. Flugs nach Bekanntwerden seines Todes erklärte das chilenische Berufungsgericht alle Verfahren für eingestellt.
1998 war es Pinochet nach 508 Tagen unter Hausarrest in England unter der Regierung von Tony Blair erlaubt worden, nach Chile zurückzukehren – während Spanien auf den Druck von Hunderttausenden im Land hin seine Auslieferung beantragt hatte, um ihn dort vor Gericht zu bringen.
Neuer Aufschwung der Kämpfe
Während die politische Radikalisierung in weiten Teilen Lateinamerikas voranschritt und wir Zeugen von Massenprotesten waren, schien es in Chile lange ruhig zu bleiben. Der Arbeiterbewegung Chiles war unter der Diktatur von Augusto Pinochet ein schwerer Schlag verpasst worden. Es dauerte bis in dieses Jahrzehnt hinein, dass die Arbeiterklasse sich davon einigermaßen erholte. Ausgerechnet in diesem Jahr, in dem Pinochet - von den Millionen, die in Chile Opfer seiner Herrschaft waren, lang ersehnt - seinen Tod fand, haben die chilenischen ArbeiterInnen und Jugendlichen endlich den Anschluss an die Bewegung auf ihrem Kontinent gefunden. Hunderttausende von SchülerInnen und Studierenden streikten über Wochen und Monate hinweg – und nahmen sich dabei die französischen Proteste in diesem Frühjahr zum Vorbild. Das ging Hand in Hand mit einer Zunahme von Arbeitskämpfen. Die jüngsten Demonstrationen anlässlich des Todes von Pinochet bestätigen erneut den Umschwung in Chile.
Eine neue Generation beginnt heute, den Kampf gegen die Konzernherrchaft aufzunehmen und wird in den nächsten Jahren die sozialistischen Traditionen wiederentdecken. Es gilt, die Lehren aus den Jahren 1970 bis 1973 zu ziehen und sicherzustellen, dass ein zukünftiger Versuch, der unterdrückten Massen Chiles, das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, anders ausgeht als 1973.