Selbstbestimmungsrecht auch für Kosova

Welche Haltung sollten SozialistInnen in der Kosova-Frage einnehmen?
Sascha Stanicic, CWI-Deutschland

Fakten zu Kosova:

Kosova heute: Laut Weltbank leben über 50 Prozent in Armut. 60 Prozent der Erwerbsfähigen sind ohne Arbeit. Derzeit kommt es zu Privatisierungen und Entlassungen im großen Stil. Seit 1999 liegt die alleinige Macht in den Händen der 16.000 Soldaten starken UN-Verwaltung UNMIK.

Etwa 89 Prozent der Bevölkerung von 2,1 Millionen sind AlbanerInnen, circa fünf Prozent SerbInnen, sechs Prozent gehören anderen Minderheiten an.

Da das Territorium auf albanisch Kosova heißt, schreiben wir in der Solidarität (Schwesterzeitung von Vorwärts) auch „Kosova“ – statt der hier von Medien und Politikern zumeist benutzten Bezeichnung „Kosovo“.

Am 17. November fanden im UN-Protektorat Kosova Parlamentswahlen statt. Daran beteiligten sich nur 40 Prozent der Wahlberechtigten. Mit 34 Prozent der abgegebenen Stimmen wurde die Demokratische Partei des Kosova unter dem ehemaligen UCK-Kommandeur Hashim Thaci stärkste Kraft. Sie kündigte eine rasche Unabhängigkeitserklärung an. Das lehnt Serbien ab und besteht darauf, dass Kosova eine Provinz Serbiens bleibt. Diese Haltung vertritt auch Russland im UN-Sicherheitsrat.

Welche Haltung sollten SozialistInnen in der Kosova-Frage einnehmen?

Eigentlich ist es unvorstellbar: Da gibt es mitten in Europa eine Region, in der der Bevölkerung die grundlegendsten demokratischen Rechte verweigert werden, deren übergroße Bevölkerungsmehrheit seit Jahrzehnten Opfer von Fremdherrschaft ist, in der Armut und Arbeitslosigkeit Rekordhöhen erreichen – und der Wunsch der dort lebenden Menschen, selber darüber entscheiden zu können, in welchem Staat sie leben wollen, wird von der Linksfraktion im Bundestag mit dem Vorwurf des „Sezessionismus“ zurückgewiesen. Damit werden nicht nur demokratische Prinzipien missachtet, sondern auch die westliche Dominanz über diese Region, Kosova, akzeptiert.

Kosova ist heute zwar nach internationalem Recht weiterhin eine Provinz des serbischen Staates, in Wirklichkeit jedoch ein imperialistisches Protektorat unter der Verwaltung der UNO, genannt UNMIK. Ein korrupter, aufgeblähter und sich selbst beschäftigender UNMIK-Apparat lastet wie ein Krebsgeschwür auf der kosovarischen Gesellschaft – und sieht seine Hauptaufgabe darin, Privatisierungen, Deregulierungen, den freien Markt durchzusetzen.

90 Prozent der Bevölkerung sind AlbanerInnen. Noch auf der Partisanen-Konferenz von Bujan vom 31. Dezember 1943 und 1. Januar 1944 wurde dem Kosova die Unabhängigkeit versprochen. Davon wollte Tito aber nach Ende des Zweiten Weltkriegs nichts mehr wissen. Der albanischen Bevölkerungsmehrheit wurde das Selbstbestimmungsrecht verweigert und sie wurde diskriminiert – unter Tito, Milosevic und jetzt unter der UNMIK.

Die erste Pflicht für Sozialistinnen und Sozialisten ist es deshalb, diese Unterdrückung und Diskriminierung zu bekämpfen. Die Forderung nach dem Recht auf Selbstbestimmung – und in dem Zusammenhang auch nach Abzug aller ausländischen Truppen – ist dementsprechend vor allem eine Zurückweisung der nationalen Unterdrückung und Entrechtung. Sie ist nicht gleichbedeutend mit der Forderung, dieses Recht auch in Form eines unabhängigen Staates durchzusetzen. Der zerstörerische Nationalismus auf dem Balkan kann aber nur dann überwunden werden, wenn die „starken“ Nationen das Selbstbestimmungsrecht der „schwachen“ Nationen anerkennen, also darauf verzichten, diese weiterhin zu dominieren und dadurch den Weg frei machen, um Vertrauen aufzubauen.

Die Regierung des Kosova (die aufgrund der UNMIK-Verwaltung gar nicht die Rechte einer Regierung hat) hat nun die einseitige Ausrufung der Unabhängigkeit angekündigt. Die westlichen imperialistischen Staaten werden darauf eingehen, weil die Alternative früher oder später ein Volksaufstand gegen die UNMIK wäre. Das Problem hierbei ist nicht der formelle Status der Unabhängigkeit, sondern dass dieser Vorschlag eben nicht zu wirklicher demokratischer und sozialer Selbstbestimmung führen wird. Denn erstens ist davon auszugehen, dass unter der Führung der „Regierung“ genannten albanischen Mafia-Eliten ein Status herauskommt, der der UNO – beziehungsweise der EU – weiterhin Sondervollmachten über das Land gibt, die militärische Präsenz der NATO aufrecht erhält und vor allem die wirtschaftliche Abhängigkeit von multinationalen Konzernen weiter steigert. Deshalb können SozialistInnen natürlich nicht diesen Weg unterstützen, was aber nicht bedeutet, sich gegen eine Unabhängigkeit auszusprechen. Der Weg zur Selbstbestimmung müsste über die Wahl zu einer wirklich demokratischen Verfassungsgebenden Versammlung, in der die ArbeiterInnen, Bauern und Bäuerinnen und die Erwerbslosen des Kosovas ihre VertreterInnen entsenden können, laufen.

Das Problem im Kosova und auf dem Balkan ist nicht die Anzahl der Grenzen, sondern der grenzüberschreitende Kapitalismus, der die Länder nach dem Zusammenbruch Jugoslawiens aussaugt. Der wachsende Nationalismus ist eine direkte Folge davon – die sich zu neuen Kapitalistenklassen entwickelnden nationalen Eliten der ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken, nutzten den Nationalismus, um die Arbeiterklasse zu spalten und um einen möglichst großen Teil des zu verteilenden Kuchens abzubekommen. Solange kapitalistische Ausbeutung und Armut herrschen, werden auch die nationalen Konflikte weiter schwelen und immer wieder explodieren. Deshalb ist die Sorge, dass die Bildung eines unabhängigen Kosova nationale Spannungen in Bosnien, Makedonien und anderen Ländern anheizen könnte, berechtigt. Ebenso wie die Lage der serbischen und anderer Minderheiten im Kosova nicht ignoriert werden darf (und SozialistInnen in einem unabhängigen Kosova für gleiche Rechte und für weitgehende Minderheitenrechte für die Minderheiten eintreten würden).

Dies jedoch ist nur Ausdruck der ungelösten nationalen Frage in diesen Ländern, welche wiederum nicht durch Zwang und Unterdrückung gelöst werden kann, sondern nur durch Gewährung des Selbstbestimmnugsrechts und vor allem wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung. Dazu ist der Kapitalismus nicht in der Lage. Deshalb muss die Frage der nationalen Selbstbestimmung mit der Frage der sozialen Selbstbestimmung, also der Abschaffung des Kapitalismus und Errichtung einer sozialistischen Demokratie verbunden werden. Demokratie, Selbstbestimmung und Sozialismus wären auch die Voraussetzungen für eine Überwindung des Nationalismus und der unsinnigen Grenzen auf dem Balkan und könnten den Weg zu einer freiwilligen Föderation der Balkanländer aufzeigen.

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